Beim Abendbrot sind die beiden Jungs noch ganz aufgedreht: „Am coolsten fand ich auf der Kirmes das Kettenkarussell! Als ob man fliegen würde!“ „Nee, am allercoolsten war der Irrgarten mit den Spiegeln, wo Mama voll gegen die Scheibe gelaufen ist – Bäm!“ Die Jungs lachen. Auch Eva muss grinsen: „Ist ja gut, Jungs. Nun beruhigt Euch mal und esst endlich.“
Die Küche ist klein, aber gemütlich. So klein, wie sie eben in einer 65-Quadratmeter-Wohnung mit dreieinhalb Zimmern ist. Adam und sie müssen beide arbeiten gehen, damit sie sich die Wohnung leisten und den Jungs ein bisschen was bieten können. Aber spätestens wenn die beiden aus der Grundschule rauskommen, wird wohl jeder von ihnen ein eigenes Zimmer brauchen.
„Abel, nun hör auf, mit den Gurken zu spielen und iss was!“ sagt Adam. „Ich mag nicht. Ich habe Bauchweh.“ „Na, das ist ja kein Wunder bei dem allen, was Ihr auf der Kirmes verdrückt habt. Und dann musste es ja noch unbedingt dieser rote Paradiesapfel sein. Ich weiß gar nicht, was man an diesem roten, klebrigen Zeug finden kann.“ „Ach, Adam, sei nicht so streng.“, sagt Eva. „Ich mache dem Jungen gleich noch eine Wärmflasche. Und nun ab, ihr beiden, Zähneputzen.“
Zehn Minuten später liegen die Jungs zähnegeputzt und in ihren Schlafanzügen im Stockbett, Kain oben, Abel unten. „Und was für eine Gute-Nacht-Geschichte möchtet Ihr heute hören?“ fragt Adam. „Jenny!“ ruft Kain von oben. „Genau!“, ruft Abel, „Jenny, der Hund! Jenny! Jenny! Jenny!“ „Ist ja gut…“, sagt Adam. „Ich weiß gar nicht, was ihr an der Geschichte findet. Aber nun gut. Dann lese ich sie eben…“
Es war einmal ein Hund namens Jenny. Jenny hatte alles. Sie schlief auf einem runden Kissen im oberen und auf einem eckigen Kissen im unteren Stockwerk. Sie hatte einen eigenen Kamm, eine Bürste, zwei verschiedene Pillenfläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein Thermometer und einen roten Pullover für kalte Tage. Sie hatte zwei Fenster zum Hinausschauen, zwei Futterschälchen und ein Herrchen, das sie liebte. Doch eines Nachts, um Mitternacht, packte Jenny alles, was sie hatte in eine große schwarze Tasche mit goldener Schnalle. „Wohin willst Du?“ fragte die Topfblume. „Du hast hier doch alles!“ „Es muss im Leben mehr als alles geben!“, sagte Jenny, nahm ihre Tasche und verließ ihr sicheres Zuhause.
Adam und Eva, das Paradies und der Apfel, die Schlange und der Sündenfall. Jahrhundertelang waren die Stichworte der Geschichte klar und eindeutig. Ach ja, und Verführung, darum ging es doch: Die Schlange verführte Eva, Eva verführte Adam und beide aßen den verbotenen Apfel und wurden als Strafe aus dem Paradies geworfen. Mit dem verbotenen Paradiesapfel war die Sünde in der Welt und wurde als sogenannte Erbsünde von Generation zu Generation weitergegeben. Und so lehrten es auch die Theologen von Generation zu Generation, von Augustin bis Luther und von Luther bis ins 20. Jahrhundert. Man kann die Geschichte aber auch ganz anders lesen. Von Sünde ist da gar keine Rede. Man kann die Geschichte mit den Worten von Jenny hören: „Es muss im Leben mehr als alles geben.“
Adam und Eva hatten alles, was sie brauchten. Alles. Genug zu essen, tolles Klima, nette Tiere als Gesellschaft, kurzum: das Paradies. Und doch spürten sie: Es muss im Leben mehr als alles geben. Und dann steht da dieser Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Bislang müssen Adam und Eva nicht entscheiden, was gut und böse ist. Denn alles ist schon von Gott entschieden. Es ist gut, im Paradies zu leben, und es ist böse, von dem einen Baum da zu essen. Eva und die Schlange diskutieren. Und dann trifft Eva zum ersten Mal eine eigene Entscheidung über Gut und Böse. Sie entschließt sich und sagt: „Ja, es ist gut, jetzt von diesem Baum zu essen.“ Und auch Adam trifft eine Entscheidung: Ja, es ist gut, von den Früchten dieses Baumes zu essen. Nur ein Apfel und sie sind selbständig. Nur ein Apfel und sie sind erwachsen. Und sie stehen auf einmal vor der Tür.
Die Tür zum Paradies ist zu. Es gibt kein Zurück mehr. Die perfekte und behütete Welt bleibt verschlossen. Aber wenn Adam und Eva sich umdrehen, dann sehen sie eine neue Welt: Willkommen in der Freiheit! Na gut, die neue Welt ist wahrlich kein Paradies mehr. So eine dreieinhalb-Zimmer-Wohnung will halt bezahlt werden. Der Acker muss erst bearbeitet werden, bevor er Frucht trägt, aber dafür kann ich mich entscheiden, was ich säen und dann ernten will. Das Paradies ist verloren, aber dafür hat der Mensch den freien Willen gewonnen. Und so gehört es zum Menschsein immer wieder dazu, sich ein Urteil über Gut und Böse zu bilden und Entscheidungen zu treffen: Esse ich den Apfel oder lieber eine Tüte Chips?
Ja, bei mir hat die Frucht der Verführung keine Apfelform, sondern die Form einer Tüte Paprikachips. Und am Anfang der Woche habe ich mir eine Abschiedstüte gegönnt. Denn seit Mittwoch ist Fastenzeit, sieben Wochen lang bis Ostern. Und viele Menschen mit mir verzichten in dieser Zeit auf Lieb- und Teuer-gewordenes. Warum nicht mal ohne Wein oder ohne Fernseher leben? Oder vielleicht sogar ohne Chips? Sieben Wochen sind wir unterwegs und wir haben die Freiheit „Nein“ zu sagen. Nein zu den Versuchungen, die uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen sind. Nein zu dem Schlaraffenland und dem Schokoladenparadies an der Supermarktkasse. Wir haben die Freiheit selber zu entscheiden, was gut und was schlecht für uns ist.
Und was am Chipsregal gilt, das gilt auch in der Wahlkabine. Wir haben das große Glück und die große Freiheit, in einer Demokratie zu leben. Eine Freiheit, die in anderen Ländern, wie aktuell in der Türkei, immer weiter zurückgedrängt wird. Und zur Freiheit gehört die Verantwortung. Freiheit und Verantwortung sind Geschwister. Sich aus allem rauszuhalten, gilt nicht. Die Freiheit eines Christenmenschen drängt dazu, Entscheidungen über Richtig und Falsch, Gut und Böse zu fällen. Und das fängt oft in der Wahlkabine an. Ich gebe zu: Manchmal ist es schon entmutigend, was man in den Nachrichten sieht: Immer mehr Länder in Europa und in der ganzen Welt, in denen die rechtsnationalen Kräfte an Einfluss gewinnen. Menschen, die ihr eigenes Land abschotten und sich daraus ein eigenes Paradies bauen wollen. „America first.“ Menschen, die meinen, die Welt mit 140 Zeichen bei Twitter erfassen zu können. Als ob es so einfach wäre!
Manchmal möchte ich an die Paradiestür klopfen: „Gott, ich glaube, wir Menschen schaffen es doch nicht. Schau dir deine Welt doch an. Schau doch nur in diese ewigen Kriegsgebiete. Wir brauchen dich. Mach doch bitte die Tür wieder auf. Wenn du auf uns aufpasst, wenn du wieder alles in die Hand nimmst, dann geben wir vielleicht, ganz vielleicht auch unseren freien Willen wieder auf. Hallo?“
„Hallo?“, flüstert es durch die Tür zurück. „Ach, ihr Menschen. Warum wollt ihr denn zurück? Ihr habt die Freiheit. Und ihr habt die Verantwortung. Also macht was daraus! Auch wenn die Tür zu bleibt, ihr bleibt doch meine Kinder. Habe ich mich nicht selbst noch mit Nadel und Faden hingesetzt und für Adam und Eva Kleidung genäht? Ich bin doch für euch da, komme was kommt.“
Es war einmal ein Hund namens Jenny, der hatte sein sicheres Zuhause verlassen. Es muss im Leben mehr als alles geben. Und alles hatte Jenny schon in ihrer schwarzen Tasche: Ein rundes und ein eckiges Kissen, einen Kamm und eine Bürste, zwei verschiedene Pillenfläschchen, Augentropfen, Ohrentropfen, ein Thermometer, einen roten Pulli für kalte Tage sowie zwei Futterschälchen. Unterwegs sammelt sie aber etwas ganz Neues: Erfahrungen. Und dazu gehört auch, dass eines Tages, alles kaputt geht. Die Kissen sind zerfetzt, der Pullover aufgeribbelt. Das Thermometer, die Fläschchen und Schälchen kaputt, die Tropfen ausgelaufen. Jenny hat nichts mehr, außer Erfahrungen.
„Das ist aber traurig“, sagt Abel. „Aber am Ende gibt es doch ein Happy-End, Blödmann!“, ruft Kain von oben. „Ja, das weiß ich ja. Trotzdem ist die Stelle traurig. Papa, muss ich auch solche Erfahrungen machen wie Jenny?“ Adam schweigt. „Ja, mein Schatz“, antwortet Eva, die auf einmal in der Kinderzimmertür steht. „Und Du machst sie doch jetzt schon: Das Bauchweh und die Teddywärmflasche werden Dir hoffentlich eine Erfahrung sein, dass Du beim nächsten roten Paradiesapfel lieber noch einmal nachdenkst.“ „Ja“, sagt jetzt auch Adam. „Erfahrungen gehören zum Leben dazu. Die guten wie die bösen. Aber Ihr werdet an ihnen wachsen und groß werden. Aber nun müsst Ihr wirklich schlafen. Beten wir noch?“ „Na klar“, ruft Abel. „Wir können doch Gott nicht einfach vergessen. Er vergisst uns ja auch nicht.“
Amen.
Zum Gottesdienst
Erster Lesung: Gen 3 (in Auswahl)
Evangelium: Mt 4,1-11
Liedvorschläge: „Die Wüste vor Augen“ (freiTöne 58), „Ein feste Burg ist unser Gott“ (EG 362, Wochenlied), „Gott gab uns Atem“ (EG 432), „Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst“ (Baltruweit, u.a. EG Nds-Bremen 595)
Verweis
Die Geschichte von Jenny entstammt dem Buch „Higgelti Piggelti Pop! oder Es muss im Leben mehr als alles geben“ von Maurice Sendak (1928-2012) aus dem Jahr 1967, auf Deutsch erschienen bei Diogenes, Zürich 1969 (2009).