Filmpredigt zu „Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger“ mit Johannes 1, 29 von Hans-Joachim Schliep
1,29
Liebe Gemeinde!
Selten hat mich ein Film derart beeindruckt. Mit jedem Sonnenstrahl, Sternenleuchten und Sturmgewitter die Natur in ihr ganzen Schönheit und in ihrem ganzen Schrecken. Aufgang und Untergang. Grausame Vernichtung und unglaubliche Rettung - wie Zorn und Gnade, Verlust und Gewinn, brutale Gewalt und tiefer Frieden ineins. Untröstliche Trauer und unerschütterliches Vertrauen. Inmitten aller Gefahr und erbittertem Konkurrenzkampf ums Leben eine abgrundtiefe Fremdheit und unverbrüchliche Verbundenheit. Ich könnte noch weitere Gegensätze und Widersprüche, Paradoxien und Antinomien nennen, von Kitsch und Kunst sprechen, um diesen Film zu charakterisieren: «Life of Pi» - «Schiffbruch mit Tiger». Als meine Frau von diesem Buch vor einigen Jahren erzählte, habe ich nur ungläubig den Kopf geschüttelt. Dabei will der Kanadier Yann Martel es nach einer wahren Begebenheit geschrieben haben.1
Es ist die Geschichte eines indischen Jungen, der nach einem Pariser Schwimmbad benannt wurde: Piscine Molitor Patel. Um dem Gelächter seiner Mitschüler zu entgehen, nennt er sich Pi: nach dem konstanten Multiplikationsfaktor „Pi“ gleich 3,14159265 für die Kreisberechnung. [Die Mathematiker unter uns mögen überlegen, welchen symbolischen Sinn „Pi“ als unendliche nichtperiodische Dezimalzahl aus der Klasse der irrationalen Zahlen in diesem Zusammenhang hat.] Der Junge Pi ist ebenso intelligent wie tief religiös, er ist Hindu, Christ und Muslim. Sein Vater, für den freilich Religion „Dunkelheit“ ist, betreibt im indischen Pondicherry einen Zoo, will sich aber aus wirtschaftlichen Gründen mit allen Tieren und der ganzen Familie auf dem japanischen Frachter ‚Tsimtsum’ nach Kanada verschiffen. In einem geradezu bösartigen Unwetter über dem pazifischen Marianengraben, der tiefsten Stelle der Erdkruste, versinkt das Schiff mit Menschen und Tieren. Es wird zur Anti-Arche-Noah.
Nur Pi kann sich in einem Rettungsboot über Wasser halten, der Junge und ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne, ein Tiger, der aufgrund eines Schreibfehlers ‚Richard Parker’ genannt wird. Schon bald tötet die Hyäne Zebra und Orang-Utan, aber sie alle frisst, mit Haut und Haaren, ‚Richard Parker’. Nun sind der Tiger und der Junge allein im Boot. Pi kann nur in einem provisorischen Beiboot vor ‚Richard Parkers’ Fressgelüsten überleben. Gleichwohl versteht er es, die Bestie immer wieder in Schach zu halten und das gefährliche Tier mit Fressen zu versorgen. Um nicht selbst gefressen zu werden. Weil Pi als Vegetarier Achtung vor dem Tier und seiner Majestät hat. Weil er, so allein auf dem Meer, nicht vereinsamen möchte. Und weil gerade die Gefährlichkeit des Tigers ihn wach und aufmerksam bleiben lässt in den Gefahren des Meeres, den Stürmen, Blitzen, Riesenwellen. Pi beschützt den Tiger, um sich selbst vor dieser tierischen Naturgewalt zu schützen und sich, soweit es ihm möglich ist, den Naturgewalten überhaupt nicht vollends preiszugeben.
Ist ‚Richard Parker’, trotz seines Menschennamens ein Tigertier, ein Sinnbild für unsere eigenen Ängste? Für die Bestie in uns? Für unsere Furcht gegenüber der Außen- wie der Innenwelt? Lautet die Botschaft des Films: Als Menschen müssen wir lernen, mit unseren tierischen Ursprüngen und Anteilen umzugehen, unsere eigene Gewaltbereitschaft zu bändigen, wenn wir selbst in Frieden leben, überleben wollen?! Durch den Tiger wird Pi’s Überlebenswille geweckt, zugleich seine Menschlichkeit. Was ihn in Gefahr bringt, wird zu seinem Gefährten, seinem letzten und einzigen! Aber die Andersheit zwischen Tier und Mensch bleibt: ‚Richard Parker’ verschwindet ohne Blick zurück auf seinen Partner Pi im Tropenwald, als sie nach 227 Tagen an der Küste von Mexico stranden. Pi trauert um seinen gefährlichen Gefährten, aber er akzeptiert auch diese Ohnmacht - wie das Unbekannte, das kein Mensch erklären, wie das Unverfügbare, das kein Mensch handhaben kann, wie die Macht Gottes, den er mitten in einem tosenden Gewittersturm wie Hiob anschreit und zum Streit herausfordert, ohne diejenige Macht aus der Hand zu geben, die ihm noch zur Verfügung steht. Gegen die Gottesmacht ist die Menschenmacht geringer als gering, aber Pi fühlt sich weder erniedrigt noch klein. Er erschrickt, erschaudert, ist zutiefst erschüttert - und eben darin wachsen in ihm Vertrauen und Hoffnung. Die Welt der Tiere und der Menschen sind verschieden, aber sie bilden doch eine Welt. Zwischen der Welt Gottes, die sich hier - wieder wie bei Hiob - zunächst einmal in Naturgewalten zeigt, und der inneren Welt des Menschen besteht ein tiefer Riss, aber es ist doch eine Welt.
Noch als Pi, der einzige Überlebende, im Krankenhaus liegt, will die Reederei des untergegangenen Schiffes von ihm den Hergang wissen. Die Befrager glauben ihm den ‚Schiffbruch mit Tiger’ nicht. Da erfindet Pi für sie eine andere Geschichte, eine wahrscheinlichere. Zum Schluss fragt Pi seine Befrager: „Welche ist die bessere Geschichte, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?“ Sie antworten: „Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere Geschichte.“ Darauf Pi Patel: „Danke. Und genauso ist es mit Gott.“ (S. 379)
Wie bitte, liebe Gemeinde, genauso soll es mit Gott sein? Diese Antwort des inzwischen erwachsenen Pi verstehe ich nun überhaupt nicht: „Und genauso ist es mit Gott.“ Soll das heißen, die unwahrscheinlichere Geschichte ist die Geschichte mit Gott, ja, die Geschichte Gottes? Es bleibt für mich eine offene Frage, mit der ich jetzt zwei biblische Bezüge herzustellen versuche.
In der Biblischen Lesung haben wir vorhin von Jesu Taufe durch Johannes den Täufer gehört. Ähnlich wie in Matthäus 3 steht es in Markus 1. Dann folgt die bei Markus nur kurze Geschichte von Jesu Versuchung in der Wüste, die eine unscheinbare Notiz enthält: „…und war bei den wilden Tieren…“ (Mk 1,13c). In der Versuchungsgeschichte geht es um die Vorbereitung auf ein schwieriges Leben. Darauf kann sich offenbar vorbereiten nur, wer bei den „wilden Tieren“ war. Das könnte bedeuten: Ohne Gefahr gibt es kein Überleben - wie kein Leben ohne Schmerz auskommt, der, wie schon die alten Griechen sagten, „der bellende Wachhund unserer Gesundheit ist“. Leben wird nur, wer die äußeren Gefahren kennt, die innere Bestie erkennt und die Macht anerkennt, die unabhängig sowohl von unserer Macht als auch von unserer Ohnmacht wirkt und waltet, und sie zugleich anzunehmen als Voraussetzung und Bedingung des Lebens.
In Widerstand und Ergebung erfährt Pi mit und unter allem Unbekannten, Unbestimmbaren, Unwahrscheinlichen, Unbezwingbaren ein Anderes, ein Gegenüber, das ihn als Person berührt, das er deshalb anspricht mit dem Namen ‚Gott’. ‚Gott’ ist ja kein Begriff, sondern der Name für alles, was uns umgreift, auf das wir schlechthin angewiesen sind und worauf wir uns verlassen können. Als Personen, die wir sind, erfahren wir es personal, verdichtet in einem Namen, in dem alle Namen ihren Grund haben. Dann muss das Weltgeschehen, so wenig es uns im Einzelnen stimmig erscheint, keineswegs im Ganzen sinnlos sein. Gerade dadurch wachsen in Pi Dankbarkeit, Demut und Vertrauen: ein Vertrauen, das im Dennoch des Glaubens geboren wird. Von ‚Gott’ wird ja nicht gesprochen, um Recht zu haben oder im Namen des Höchsten das letzte Wort, sondern um des eigenen Personseins eingedenk zu werden, ohne es einerseits größer, andererseits kleiner zu machen als es ist - und den Grund wie die Grenzen der eigenen Macht in einer Wirklichkeit begründet zu wissen, auf die niemand seine Hand legen kann als der, den wir ‚Gott’ nennen.
Ist auch das, liebe Gemeinde, ein unwahrscheinliche und dennoch unsere Geschichte? Einen Hinweis erhoffe ich mir von dem Predigttext, der für den heutigen 1. Sonntag nach Epiphanias vorgesehen ist. Statt wie die anderen Evangelisten unmittelbar von der Taufe Jesu durch den Täufer Johannes zu erzählen, lässt der Evangelist Johannes in Johannes 1, Vers 29, den Täufer im Blick auf Jesus ein Zeugnis abgeben: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh 1,29) Den religionsgeschichtlichen Hintergrund dieses Bildes einmal beiseite lassend, stelle ich jetzt nur fest: Hier werden Mensch und Tier zusammengesehen. Im Bild vom Lamm verbinden sich gleichsam «Natur und Gnade». Hier konkretisiert sich, womit das Johannes-Evangelium beginnt: „Im Anfang war das Wort, und…Gott war das Wort…und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns…“ (aus Joh 1,1+14).
Das „Wort“, das ist der Logos: das, was die Welt im Innersten zusammenhält, die Wirk- und Werdekraft, der Grundsinn von Welt und Leben, zugleich ihre Vernunft - es gibt dafür im Deutschen keine angemessene Übersetzung. Dieser Logos, dieses „Wort“ bleibt kein flüchtiger Geist, es wird festes Fleisch, es wird Mensch - damit hochgefährdet. Dieses Menschsein, wahrnehmbar im Menschsein Jesu, lässt der Evangelist den Täufer nun sogar versinnbildlichen im Tier, im „Lamm“. Das „Lamm“ ist freilich weder ein wilder, hungriger Tiger noch ein Wappentier wie das erhabene Pferd und der fliegende Adler. Umso besser mag es geeignet sein, um den Riss in Welt und Leben zu versinnbildlichen: als Opfertier, als Lebewesen, das diesen Riss an sich selbst erfährt, die Gefahr, die Gewalt - als Stellvertreter, damit anderes Leben verschont bleibt. So symbolisiert es den Riss und die Rettung. Dazu muss ich noch hinzufügen: Die „Sünde“ - das ist dieser Riss durch Welt und Leben, denn „Sünde“ kommt von Sund: Trennung.
Doch warum muss es ausgerechnet das „Lamm“ sein, warum kann es nicht Tiger oder Löwe, Pferd, Adler sein? Weil im Blick auf Jesus, das Kind in der Krippe und dem Mann am Kreuz, der als dieses „Lamm“ erkannt wird, ganz und gar die Perspektive der Opfer, der Verletzbaren und Verwundbaren, der Gefährdeten und Gepeinigten eingenommen wird. Wird das Wort Fleisch, wird Gott Mensch, dreht sich die Blickrichtung um: weg von dem Riss durch Welt und Leben als etwas eher Abstraktes hin zu dem, der mit diesem Riss umgehen muss. Mit anderen Worten: Weg von der „Sünde“ zum Sünder - wie Jesus später in Johannes 8 nicht die Taten der Ehebrecherin anklagend hervorhebt, sondern die Person dieser Frau in den Mittelpunkt stellt und schützt. So präzisiert in dem heutigen Predigttext der Täufer Johannes sein Zeugnis ganz auf die Person Jesu hin, wenn er davon spricht, nach ihm käme ein Mann, auf dem der Geist Gottes liege und der statt mit Wasser mit dem Heiligen Geist taufe.
Er habe Jesus nicht gekannt, lässt der Evangelist den Täufer sagen und ihn doch Jesus öffentlich bekennen als „Gottes Sohn“, also als Menschen Gottes für uns, der für unser Menschsein vor Gott eintritt. Jesus nicht kennen und doch bekennen? Ich deute das so: All unser Kennen und Wissen lebt von Voraussetzungen, die vor uns da, in die wir hineingestellt sind, aus denen heraus wir etwas erkennen, von Möglichkeiten, die unser Wirken ermöglichen. Als Pi Patel den ‚Schiffbruch mit Tiger’ erlebte und durchstand, hat etwas anderes als er selbst, etwas Fremdes, ja Gefährliches, in ihm die notwendigen Kräfte hervorgebracht: seine Wachsamkeit, seine Tatkraft und in, mit und unter alledem sein Vertrauen, es werde gut ausgehen, auch wenn es noch schlecht um ihn steht. Eine unwahrscheinliche Geschichte, die unsere Geschichte werden will!
Das Evangelium geht über sie noch hinaus. Dass nämlich das „Lamm…der Welt Sünde trägt“, stiftet ein bleibendes Gedächtnis den Opfern. Auch sie gehören ins Ganze von Welt und Leben, auch sie gehören zu ‚Gott’. Das soll eine rettende Erinnerung sein für die, an die sich sonst niemand erinnern will. Uns allen soll es verwehren, jemanden zum Opfer zu machen. Wir können den Riss, der durch Welt und Leben geht, nicht schließen, aber wir können daran arbeiten, dass er nicht tiefer wird. Es gilt, sich inmitten von Gefährdungen nicht aufzugeben, zugleich die Illusion aufzugeben, das Gefährdende und Befremdliche ganz beseitigen zu können. Mag es in dieser Welt auch keine endgültige Rettung geben, bleiben wir doch aufgefordert, uns an ihr zu orientieren und darin Zuversicht wachsen zu lassen. Zuversicht ist mehr als mit einem guten Ausgang zu rechnen. Zuversicht heißt vor allem, sich unabhängig von einem wie auch immer gearteten Ausgang eine Sicht über das Sichtbare hinaus schenken zu lassen und sich darin aufgehoben zu wissen. Wie Jesus bei den „wilden Tieren“ und als „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“, das also ganz eintritt für alles Lebendige.
Ein Letztes noch, liebe Gemeinde. Eine Predigt ist immer ein Wagnis. Und obwohl ich mir alles genau aufgeschrieben habe, was ich heute sagen wollte, bin ich unsicher, ob ich so Unterschiedliches wie den Film und das Bibelwort in eine sinnvolle Beziehung haben bringen können. Aber beide, der ‚Schiffbruch mit Tiger’ und das Wort vom Gotteslamm, haben mich so fasziniert, das ich es versuchen musste. Vielleicht habe Sie ein ganz andere, überzeugendere Deutung. Auf jeden Fall empfehle ich Ihnen, sich den Film anzusehen.
Amen.
Anmerkung:
1. Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger. Roman, FischerTB, Frankfurt/M. 2013, 17. Aufl., dt. Erstausgabe 2003, kanadische Originalausgabe 2001 („Life of PI“: Alfred Knopf-Verlag); 2012 als Film unter Regie von Ang Lee gedreht.
2. Ist der Schiffsname „Tsimtsum“ eine Anspielung auf die „Zimzum“-Lehre?
3. Lässt sich der Name „Piscine“ auf Taufe beziehen?
Selten hat mich ein Film derart beeindruckt. Mit jedem Sonnenstrahl, Sternenleuchten und Sturmgewitter die Natur in ihr ganzen Schönheit und in ihrem ganzen Schrecken. Aufgang und Untergang. Grausame Vernichtung und unglaubliche Rettung - wie Zorn und Gnade, Verlust und Gewinn, brutale Gewalt und tiefer Frieden ineins. Untröstliche Trauer und unerschütterliches Vertrauen. Inmitten aller Gefahr und erbittertem Konkurrenzkampf ums Leben eine abgrundtiefe Fremdheit und unverbrüchliche Verbundenheit. Ich könnte noch weitere Gegensätze und Widersprüche, Paradoxien und Antinomien nennen, von Kitsch und Kunst sprechen, um diesen Film zu charakterisieren: «Life of Pi» - «Schiffbruch mit Tiger». Als meine Frau von diesem Buch vor einigen Jahren erzählte, habe ich nur ungläubig den Kopf geschüttelt. Dabei will der Kanadier Yann Martel es nach einer wahren Begebenheit geschrieben haben.1
Es ist die Geschichte eines indischen Jungen, der nach einem Pariser Schwimmbad benannt wurde: Piscine Molitor Patel. Um dem Gelächter seiner Mitschüler zu entgehen, nennt er sich Pi: nach dem konstanten Multiplikationsfaktor „Pi“ gleich 3,14159265 für die Kreisberechnung. [Die Mathematiker unter uns mögen überlegen, welchen symbolischen Sinn „Pi“ als unendliche nichtperiodische Dezimalzahl aus der Klasse der irrationalen Zahlen in diesem Zusammenhang hat.] Der Junge Pi ist ebenso intelligent wie tief religiös, er ist Hindu, Christ und Muslim. Sein Vater, für den freilich Religion „Dunkelheit“ ist, betreibt im indischen Pondicherry einen Zoo, will sich aber aus wirtschaftlichen Gründen mit allen Tieren und der ganzen Familie auf dem japanischen Frachter ‚Tsimtsum’ nach Kanada verschiffen. In einem geradezu bösartigen Unwetter über dem pazifischen Marianengraben, der tiefsten Stelle der Erdkruste, versinkt das Schiff mit Menschen und Tieren. Es wird zur Anti-Arche-Noah.
Nur Pi kann sich in einem Rettungsboot über Wasser halten, der Junge und ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne, ein Tiger, der aufgrund eines Schreibfehlers ‚Richard Parker’ genannt wird. Schon bald tötet die Hyäne Zebra und Orang-Utan, aber sie alle frisst, mit Haut und Haaren, ‚Richard Parker’. Nun sind der Tiger und der Junge allein im Boot. Pi kann nur in einem provisorischen Beiboot vor ‚Richard Parkers’ Fressgelüsten überleben. Gleichwohl versteht er es, die Bestie immer wieder in Schach zu halten und das gefährliche Tier mit Fressen zu versorgen. Um nicht selbst gefressen zu werden. Weil Pi als Vegetarier Achtung vor dem Tier und seiner Majestät hat. Weil er, so allein auf dem Meer, nicht vereinsamen möchte. Und weil gerade die Gefährlichkeit des Tigers ihn wach und aufmerksam bleiben lässt in den Gefahren des Meeres, den Stürmen, Blitzen, Riesenwellen. Pi beschützt den Tiger, um sich selbst vor dieser tierischen Naturgewalt zu schützen und sich, soweit es ihm möglich ist, den Naturgewalten überhaupt nicht vollends preiszugeben.
Ist ‚Richard Parker’, trotz seines Menschennamens ein Tigertier, ein Sinnbild für unsere eigenen Ängste? Für die Bestie in uns? Für unsere Furcht gegenüber der Außen- wie der Innenwelt? Lautet die Botschaft des Films: Als Menschen müssen wir lernen, mit unseren tierischen Ursprüngen und Anteilen umzugehen, unsere eigene Gewaltbereitschaft zu bändigen, wenn wir selbst in Frieden leben, überleben wollen?! Durch den Tiger wird Pi’s Überlebenswille geweckt, zugleich seine Menschlichkeit. Was ihn in Gefahr bringt, wird zu seinem Gefährten, seinem letzten und einzigen! Aber die Andersheit zwischen Tier und Mensch bleibt: ‚Richard Parker’ verschwindet ohne Blick zurück auf seinen Partner Pi im Tropenwald, als sie nach 227 Tagen an der Küste von Mexico stranden. Pi trauert um seinen gefährlichen Gefährten, aber er akzeptiert auch diese Ohnmacht - wie das Unbekannte, das kein Mensch erklären, wie das Unverfügbare, das kein Mensch handhaben kann, wie die Macht Gottes, den er mitten in einem tosenden Gewittersturm wie Hiob anschreit und zum Streit herausfordert, ohne diejenige Macht aus der Hand zu geben, die ihm noch zur Verfügung steht. Gegen die Gottesmacht ist die Menschenmacht geringer als gering, aber Pi fühlt sich weder erniedrigt noch klein. Er erschrickt, erschaudert, ist zutiefst erschüttert - und eben darin wachsen in ihm Vertrauen und Hoffnung. Die Welt der Tiere und der Menschen sind verschieden, aber sie bilden doch eine Welt. Zwischen der Welt Gottes, die sich hier - wieder wie bei Hiob - zunächst einmal in Naturgewalten zeigt, und der inneren Welt des Menschen besteht ein tiefer Riss, aber es ist doch eine Welt.
Noch als Pi, der einzige Überlebende, im Krankenhaus liegt, will die Reederei des untergegangenen Schiffes von ihm den Hergang wissen. Die Befrager glauben ihm den ‚Schiffbruch mit Tiger’ nicht. Da erfindet Pi für sie eine andere Geschichte, eine wahrscheinlichere. Zum Schluss fragt Pi seine Befrager: „Welche ist die bessere Geschichte, die mit den Tieren oder die ohne Tiere?“ Sie antworten: „Die Geschichte mit den Tieren ist die bessere Geschichte.“ Darauf Pi Patel: „Danke. Und genauso ist es mit Gott.“ (S. 379)
Wie bitte, liebe Gemeinde, genauso soll es mit Gott sein? Diese Antwort des inzwischen erwachsenen Pi verstehe ich nun überhaupt nicht: „Und genauso ist es mit Gott.“ Soll das heißen, die unwahrscheinlichere Geschichte ist die Geschichte mit Gott, ja, die Geschichte Gottes? Es bleibt für mich eine offene Frage, mit der ich jetzt zwei biblische Bezüge herzustellen versuche.
In der Biblischen Lesung haben wir vorhin von Jesu Taufe durch Johannes den Täufer gehört. Ähnlich wie in Matthäus 3 steht es in Markus 1. Dann folgt die bei Markus nur kurze Geschichte von Jesu Versuchung in der Wüste, die eine unscheinbare Notiz enthält: „…und war bei den wilden Tieren…“ (Mk 1,13c). In der Versuchungsgeschichte geht es um die Vorbereitung auf ein schwieriges Leben. Darauf kann sich offenbar vorbereiten nur, wer bei den „wilden Tieren“ war. Das könnte bedeuten: Ohne Gefahr gibt es kein Überleben - wie kein Leben ohne Schmerz auskommt, der, wie schon die alten Griechen sagten, „der bellende Wachhund unserer Gesundheit ist“. Leben wird nur, wer die äußeren Gefahren kennt, die innere Bestie erkennt und die Macht anerkennt, die unabhängig sowohl von unserer Macht als auch von unserer Ohnmacht wirkt und waltet, und sie zugleich anzunehmen als Voraussetzung und Bedingung des Lebens.
In Widerstand und Ergebung erfährt Pi mit und unter allem Unbekannten, Unbestimmbaren, Unwahrscheinlichen, Unbezwingbaren ein Anderes, ein Gegenüber, das ihn als Person berührt, das er deshalb anspricht mit dem Namen ‚Gott’. ‚Gott’ ist ja kein Begriff, sondern der Name für alles, was uns umgreift, auf das wir schlechthin angewiesen sind und worauf wir uns verlassen können. Als Personen, die wir sind, erfahren wir es personal, verdichtet in einem Namen, in dem alle Namen ihren Grund haben. Dann muss das Weltgeschehen, so wenig es uns im Einzelnen stimmig erscheint, keineswegs im Ganzen sinnlos sein. Gerade dadurch wachsen in Pi Dankbarkeit, Demut und Vertrauen: ein Vertrauen, das im Dennoch des Glaubens geboren wird. Von ‚Gott’ wird ja nicht gesprochen, um Recht zu haben oder im Namen des Höchsten das letzte Wort, sondern um des eigenen Personseins eingedenk zu werden, ohne es einerseits größer, andererseits kleiner zu machen als es ist - und den Grund wie die Grenzen der eigenen Macht in einer Wirklichkeit begründet zu wissen, auf die niemand seine Hand legen kann als der, den wir ‚Gott’ nennen.
Ist auch das, liebe Gemeinde, ein unwahrscheinliche und dennoch unsere Geschichte? Einen Hinweis erhoffe ich mir von dem Predigttext, der für den heutigen 1. Sonntag nach Epiphanias vorgesehen ist. Statt wie die anderen Evangelisten unmittelbar von der Taufe Jesu durch den Täufer Johannes zu erzählen, lässt der Evangelist Johannes in Johannes 1, Vers 29, den Täufer im Blick auf Jesus ein Zeugnis abgeben: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh 1,29) Den religionsgeschichtlichen Hintergrund dieses Bildes einmal beiseite lassend, stelle ich jetzt nur fest: Hier werden Mensch und Tier zusammengesehen. Im Bild vom Lamm verbinden sich gleichsam «Natur und Gnade». Hier konkretisiert sich, womit das Johannes-Evangelium beginnt: „Im Anfang war das Wort, und…Gott war das Wort…und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns…“ (aus Joh 1,1+14).
Das „Wort“, das ist der Logos: das, was die Welt im Innersten zusammenhält, die Wirk- und Werdekraft, der Grundsinn von Welt und Leben, zugleich ihre Vernunft - es gibt dafür im Deutschen keine angemessene Übersetzung. Dieser Logos, dieses „Wort“ bleibt kein flüchtiger Geist, es wird festes Fleisch, es wird Mensch - damit hochgefährdet. Dieses Menschsein, wahrnehmbar im Menschsein Jesu, lässt der Evangelist den Täufer nun sogar versinnbildlichen im Tier, im „Lamm“. Das „Lamm“ ist freilich weder ein wilder, hungriger Tiger noch ein Wappentier wie das erhabene Pferd und der fliegende Adler. Umso besser mag es geeignet sein, um den Riss in Welt und Leben zu versinnbildlichen: als Opfertier, als Lebewesen, das diesen Riss an sich selbst erfährt, die Gefahr, die Gewalt - als Stellvertreter, damit anderes Leben verschont bleibt. So symbolisiert es den Riss und die Rettung. Dazu muss ich noch hinzufügen: Die „Sünde“ - das ist dieser Riss durch Welt und Leben, denn „Sünde“ kommt von Sund: Trennung.
Doch warum muss es ausgerechnet das „Lamm“ sein, warum kann es nicht Tiger oder Löwe, Pferd, Adler sein? Weil im Blick auf Jesus, das Kind in der Krippe und dem Mann am Kreuz, der als dieses „Lamm“ erkannt wird, ganz und gar die Perspektive der Opfer, der Verletzbaren und Verwundbaren, der Gefährdeten und Gepeinigten eingenommen wird. Wird das Wort Fleisch, wird Gott Mensch, dreht sich die Blickrichtung um: weg von dem Riss durch Welt und Leben als etwas eher Abstraktes hin zu dem, der mit diesem Riss umgehen muss. Mit anderen Worten: Weg von der „Sünde“ zum Sünder - wie Jesus später in Johannes 8 nicht die Taten der Ehebrecherin anklagend hervorhebt, sondern die Person dieser Frau in den Mittelpunkt stellt und schützt. So präzisiert in dem heutigen Predigttext der Täufer Johannes sein Zeugnis ganz auf die Person Jesu hin, wenn er davon spricht, nach ihm käme ein Mann, auf dem der Geist Gottes liege und der statt mit Wasser mit dem Heiligen Geist taufe.
Er habe Jesus nicht gekannt, lässt der Evangelist den Täufer sagen und ihn doch Jesus öffentlich bekennen als „Gottes Sohn“, also als Menschen Gottes für uns, der für unser Menschsein vor Gott eintritt. Jesus nicht kennen und doch bekennen? Ich deute das so: All unser Kennen und Wissen lebt von Voraussetzungen, die vor uns da, in die wir hineingestellt sind, aus denen heraus wir etwas erkennen, von Möglichkeiten, die unser Wirken ermöglichen. Als Pi Patel den ‚Schiffbruch mit Tiger’ erlebte und durchstand, hat etwas anderes als er selbst, etwas Fremdes, ja Gefährliches, in ihm die notwendigen Kräfte hervorgebracht: seine Wachsamkeit, seine Tatkraft und in, mit und unter alledem sein Vertrauen, es werde gut ausgehen, auch wenn es noch schlecht um ihn steht. Eine unwahrscheinliche Geschichte, die unsere Geschichte werden will!
Das Evangelium geht über sie noch hinaus. Dass nämlich das „Lamm…der Welt Sünde trägt“, stiftet ein bleibendes Gedächtnis den Opfern. Auch sie gehören ins Ganze von Welt und Leben, auch sie gehören zu ‚Gott’. Das soll eine rettende Erinnerung sein für die, an die sich sonst niemand erinnern will. Uns allen soll es verwehren, jemanden zum Opfer zu machen. Wir können den Riss, der durch Welt und Leben geht, nicht schließen, aber wir können daran arbeiten, dass er nicht tiefer wird. Es gilt, sich inmitten von Gefährdungen nicht aufzugeben, zugleich die Illusion aufzugeben, das Gefährdende und Befremdliche ganz beseitigen zu können. Mag es in dieser Welt auch keine endgültige Rettung geben, bleiben wir doch aufgefordert, uns an ihr zu orientieren und darin Zuversicht wachsen zu lassen. Zuversicht ist mehr als mit einem guten Ausgang zu rechnen. Zuversicht heißt vor allem, sich unabhängig von einem wie auch immer gearteten Ausgang eine Sicht über das Sichtbare hinaus schenken zu lassen und sich darin aufgehoben zu wissen. Wie Jesus bei den „wilden Tieren“ und als „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“, das also ganz eintritt für alles Lebendige.
Ein Letztes noch, liebe Gemeinde. Eine Predigt ist immer ein Wagnis. Und obwohl ich mir alles genau aufgeschrieben habe, was ich heute sagen wollte, bin ich unsicher, ob ich so Unterschiedliches wie den Film und das Bibelwort in eine sinnvolle Beziehung haben bringen können. Aber beide, der ‚Schiffbruch mit Tiger’ und das Wort vom Gotteslamm, haben mich so fasziniert, das ich es versuchen musste. Vielleicht habe Sie ein ganz andere, überzeugendere Deutung. Auf jeden Fall empfehle ich Ihnen, sich den Film anzusehen.
Amen.
Anmerkung:
1. Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger. Roman, FischerTB, Frankfurt/M. 2013, 17. Aufl., dt. Erstausgabe 2003, kanadische Originalausgabe 2001 („Life of PI“: Alfred Knopf-Verlag); 2012 als Film unter Regie von Ang Lee gedreht.
2. Ist der Schiffsname „Tsimtsum“ eine Anspielung auf die „Zimzum“-Lehre?
3. Lässt sich der Name „Piscine“ auf Taufe beziehen?
Perikope