Flaschenpost aus Lummerland - Predigt zu 2. Petrus 1, 16-21 von Bernd Giehl
Als Lesungstext würde ich Matthäus 17,1-9 wählen. So wird die Predigt auch für ungeübte Hörerinnen und Hörer wesentlich verständlicher
Vermutlich haben Ihre Kinder früher auch gefragt, wenn sie ins Bett gehen mussten: „Papa, Mama, erzählst du uns noch eine Geschichte? Dann lagen sie in ihren Bettchen und hörten zu, wenn man eine erfundene Geschichte erzählte oder ein Märchen vorlas. Man musste aufpassen, dass man sich nicht versprach, denn dann korrigierten einen die Kinder. „Das tapfere Schneiderlein hat sieben auf einen Streich erledigt. Nicht sechs, Papa.“
Kinder lieben Geschichten. Sie zittern mit Hänsel und Gretel, wenn die zum Haus der Hexe kommen. Selbst wenn sie in ihrem Leben noch nie eine Hexe gesehen haben. Sie erzählen vom Krokodil, das unter dem Bett gelegen oder vom Drachen, der übers Haus geflogen ist als hätten sie es selbst gesehen.
Kinder liebe n Geschichten. Erwachsene auch. Auch wenn es womöglich keine Märchen mehr sind. Aufgeklärte Leser wissen, dass gute Geschichten unser eigenes Leben in irgendeiner Weise berühren. Auch in den literarischen Erzählungen geht es um das Leben und wie es uns mitspielt.
Wenn ich das alles so bedenke, frage ich mich, an welcher Stelle uns der heutige Predigttext anrührt. Und ob er es überhaupt tut, weil er eher einem glattgeschliffenen Marmorberg gleicht, der steil aus dem Meer der Märchen und Mythen herausragt und jedenfalls nicht „Lummerland“ gleicht, wo Lukas, der Lokomotivführer mit Emma herumdampft und manchmal auch Jim Knopf, seinen kleinen Adoptivsohn auf seiner Emma mitnimmt, weil der so inständig gebettelt hat.
Ja, gewiss doch. Das war schon ein harter Schnitt. Sicher hätte ich ihn vermeiden können. Ich hätte nur gleich beim Anfang des Textes einsetzen müssen. „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.“ (2. Petrus 1,16) Keine Märchen und ausgeklügelten Geschichten; nichts als die reine Wahrheit. Mögen die Anderen euch Moritaten von Göttern aus Holz und Stein erzählen; wir halten uns an die Wahrheit! Von den Dichtern und Märchenerzählern hält Petrus, anders als sein Herr und Meister offensichtlich nicht viel. Eigenartig, aber Schüler entwickeln sich oft eigenständig. Erst einmal bleiben keine Fragen offen.
Aber beim intensiveren Nachdenken kommen sie dann umso mehr. Das beginnt gleich beim ersten Wort des Textes: „denn“. Es muss irgendwo anschließen, sonst bleibt es unverständlich. Der Verfasser, der behauptet, er sei Petrus, der berühmte Jünger Jesu, schreibt sein Testament. Bald wird er von Gott von der Erde abberufen und damit nicht mehr für seine Gemeinden tätig sein können. Deshalb schärft er ihnen noch einmal ein, was er sicher schon tausendfach gesagt hat: Jesus Christus, der Sohn Gottes ist vom Himmel gekommen um die Menschen zu erlösen. Bei seiner Verklärung auf dem Berg haben „wir“, genau wie Jesus selbst, selbst die Stimme gehört, die sagte: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (V17).
Wir sind jetzt näher herangesegelt. Aber noch hat der Felsen keine Risse oder Spalten, in die wir unsere Haken einschlagen könnten. Im Gegenteil: Schön, aber kalt strahlt er in der Sonne. Einer, der dabei war, als Jesus seine Herrlichkeit offenbarte. Der Glanz des Sohnes Gottes fällt auf ihn. Sein Heiligenschein ist so strahlend, dass wir sein Licht kaum ertragen. Ob wir einen so mächtigen Herrn befragen dürfen? Oder wollen wir es bei dem belassen, was er uns erzählt hat? Sie mögen das anders sehen, aber für mich waren es nur die tausendfach wiederholten dogmatischen Sätze. Glatt, nicht zu interpretieren. Im Grunde unverdaulich.
Ich frage mich, ob man ihnen beikommen kann.
Habe ich Ihr Einverständnis? Ach was, Sie sind neugierig? Darauf wäre ich nun wirklich nicht gekommen. Also gut. Versuchen wir’s. „Sind Sie wirklich der, für den Sie sich ausgeben?“ frage ich den, der sie schreibt und uns heute vorlegt, als wären wir seine Gemeinde. „Der Gefährte Jesu, der Freund, der ihn verleugnete?“ Natürlich bekomme ich keine Antwort. Hätte mich auch gewundert. Die Forschung hält die Verfasserangabe nicht für authentisch, sondern siedelt die Entstehungszeit des Briefes um 110 nach Christus an. Zu der Zeit dürfte der echte Petrus aber längst im Himmel gewesen sein. An wen der nun namenlose Briefautor schreibt, geht aus dem Inhalt nicht hervor, wohl aber, dass der Verfasser Judenchrist ist, das Matthäusevangelium kennt und sein Schreiben an verfolgte Gemeinden richtet. Die will er trösten, aufrichten und beim Glauben halten. Da die, an die er seine Worte richtet, ihn nicht kennen, ist sein Name auch kein Problem. Außerdem sagt er ja selbst, dass er bald sterben werde. Der Brief kann also schon viele Jahre unterwegs gewesen sein, ehe er seine Leser erreicht. Insofern gleicht er eher einem Roman oder einer Flaschenpost, die jemand ins Meer geworfen hat und die erst nach langer Zeit in einem anderen Land angespült wird.
Das Bild gefällt mir. Aus dem glatten Felsen ist eine Flaschenpost geworden. Wir können sie öffnen und lesen. Vielleicht ist sie ja für uns bestimmt. Allerdings war sie lang unterwegs. Bei dem Material auf das sie geschrieben ist, handelt es sich wohl eher um Pergament als um Papier. Andernfalls hätte sich die Botschaft wohl nicht so lang gehalten.
Aber jetzt müssen wir endlich zu seiner Botschaft zurückkehren. „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.“ Ganz so kann es nicht stimmen; jedenfalls nicht, wenn der Autor nicht „Petrus“ heißt, sondern ein paar Jahrzehnte später geboren wurde. Dann nämlich kann er den irdischen Jesus nicht persönlich gekannt haben, sondern er hat durch andere Christen, seine Eltern zum Beispiel von Jesus Christus gehört und durch sie zum Glauben am den Gekreuzigten und Auferstandenen gefunden.
Ist das ein Problem? Oberflächlich gesehen ja. Jedenfalls wenn der Verfasser sich als jemand ausgibt, der er nicht ist und dessen Autorität er deshalb nicht hat. Dann kann er auch nicht behaupten, er sei auf dem Berg dabei gewesen, als Jesus und die Jünger die Stimme aus den Wolken hörten, die Jesus „den lieben Sohn“ nannte, auf den die Menschen hören sollten.
Aber immerhin: Er kennt die Geschichte von dem Jesus, der mit drei seiner Jünger auf einen namenlosen Berg stieg und dort erlebte, dass aus ihm, dem armen Wanderprediger, der wenig mehr besaß, als das Gewand, das er trug, der Sohn Gottes wurde, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Sie ist wahr, behauptet er, weil ich sie persönlich bezeugen kann. Und weil ich sie selbst erlebt habe, habe ich auch die Autorität, die mir als Petrus zukommt.
Gewiss, der Name, den er sich gibt, ist eine Anmaßung. Aber stimmt der Inhalt dessen, was er sagt, deshalb nicht? Vielleicht ist es ihm ja nicht nur erzählt worden, sondern er hat es „erlebt“. Eigentlich wollte ich „tatsächlich erlebt“ sagen, aber dann habe ich das „tatsächlich“ gestrichen. Denn das, was ich mit „erlebt“ meine, lässt sich nicht beweisen. Ich selbst habe vor Jahren in einer kleinen Kirche im Darmstädter Raum einmal etwas ganz Ähnliches erfahren. Ein Kollege leitete eine Meditation über den „Schatz in den irdenen Gefäßen“ an. Ich hatte die Augen geschlossen und plötzlich driftete ich weg. Es war der Satz aus 2. Korinther 4,9, der mich auf die Reise schickte: „Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorbrechen, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben.“ Im nächsten Augenblick sah ich das Licht und ich wusste: In ihm war Gott. Wieder einen Augenblick später umgab mich völlige Dunkelheit und ich wusste: In ihr war auch Gott. Aber selbst diese zeitliche Unterscheidung ist falsch: es gab sie nicht. Ich sah beides und beides gleichzeitig: Licht und Finsternis, und in beiden war Gott. Aber das Erstaunlichste war: Auch ich war in beidem; Licht und Finsternis umschlossen mich. Plötzlich hatte ich keine Angst mehr vor der Finsternis; wenn sie ein Teil Gottes war, brauchte auch ich sie nicht zu fürchten. Ich wollte in diesen Bildern bleiben; wenn es ginge für die nächstem dreißig Jahre meines Lebens, wenn ich denn so alt würde, aber natürlich musste ich den Raum wieder verlassen. Die Meditation war vorbei. Ich saß wieder auf dem Hocker im Vorraum der Kirche und mich umgaben Menschen, die Tee und Kaffee tranken.
Hinterher schloss sich ein Gespräch über das an, was die Teilnehmer in der Meditation erlebt hatten, und was ich hörte, war völlig banal. Am liebsten wäre ich gegangen. Ich selbst konnte nichts beitragen; das Erlebnis war zu mächtig. Ich konnte nicht darüber reden.
Womöglich gibt einem ein solches Erlebnis eine vorher nicht gekannte Autorität. Aber falls Sie jetzt meinen, ich hätte das erzählt, um Propst oder Bischof zu werden, irren Sie sich. Ich will nichts mehr werden. Ich suche auch keine Anerkennung. Das, was ich vor fast drei Jahren erlebt habe, hat sich nicht wiederholt und beweisen kann ich es auch nicht. Ich habe es erzählt, weil es mich dem Text auf die Spur gebracht hat. Weil ich mit dieser Erfahrung im Rücken den Marmorberg besteigen konnte.
Also noch einmal. Hören wir noch einmal hinein: „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.“ (2. Petrus 1,16)
Nehmen wir einmal an, dass „Petrus“ nicht den Königsplural benutzt und sich als von Gottes Gnaden eingesetzt sieht, dann kann ich das auch so unterschreiben. Auch ich habe seine Herrlichkeit gesehen. Und auch ich glaube daran, dass das, was ich gehört habe, nicht nur erfundene Geschichten gewesen sind. Obwohl ich ja nichts gegen erfundene Geschichten habe. Nicht, wenn sie mein Leben deuten. Nicht, wenn sie mir Hoffnung geben, dass ich mein Leben und das, was mir widerfährt, bewältigen kann.
Vielleicht bin ich in diesem Augenblick ja auserwählt gewesen. Aber ein Petrus ist aus mir nicht geworden. Jedenfalls kein „Fels“. Vorher und auch hinterher habe ich viele Stunden des Zweifels erlebt. Die Erfahrung von damals hat mich nicht stärker, nicht „gläubiger“ gemacht. Es gibt immer noch Stunden des Leids, in denen ich tief hinabsteigen muss. Ich weiß nicht, ob der Verfasser des Ersten Petrusbriefs und ich uns ähnlich sind. Im Unterschied zu mir scheint er die Anfechtung nicht zu kennen. Aber kann das sein? Würde er sich dann „Petrus“ nennen? Sicher kommt er wie ein Fels daher. Aber eben dieser Petrus hat Jesus in seiner schwersten Stunde verleugnet. Und hinterher bitterlich geweint.
Einem Menschen, der eine solche Erfahrung gemacht und sie schließlich überwunden hat, kann man vertrauen. Selbst wenn er sich nur so nennt.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein normaler Sonntag. Ein paar Konfirmanden. Vielleicht sogar Leute, die selten kom-men. Ob ich die wohl erreiche? Dann sind die Treuen da, wegen denen der Gottesdienst nicht ausfällt. Ich hoffe, dass ich sie nicht vergraule.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Bild des Marmorbergs. Dieser Text ist so dogmatisch; das hat mich gereizt
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Was mich weiter begleitet wird das mystische Erlebnis sein, von dem ich erzählt ha-be
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Coach und ich waren selten einer Meinung, auch wenn er sehr zugewandt war. Ich habe den Abschnitt über die Geschichten für Erwachsene gekürzt. Aus Steigeisen Ha-ken gemacht und die Schriftlesung eingeführt. Die Überschriften über einzelne Ab-schnitte wollte ich nicht übernehmen.