Gut dastehen, wenn es auf's Ende zuläuft - Predigt zu 2Petr 3,(3-7)8-13 von Markus Kreis

Gut dastehen, wenn es auf's Ende zuläuft - Predigt zu 2Petr 3,(3-7)8-13 von Markus Kreis
3,(3-7)8-13

Ihr sollt vor allem wissen, dass in den letzten Tagen Spötter kommen werden, die ihren Spott treiben, ihren eigenen Begierden nachgehen und sagen: Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist. Denn sie wollen nichts davon wissen, dass der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte durch Gottes Wort; dadurch wurde damals die Welt in der Sintflut vernichtet. So werden auch jetzt Himmel und Erde durch dasselbe Wort aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen. Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden nicht mehr zu finden sein. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und ihm entgegeneilt, wenn die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen. Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt. (2Petr 3,3-13)

Richtmüller geriet das Glucksen etwas zu laut, lauter als er wollte, für seinen Geschmack jedenfalls. Gut dastehen, wenn es auf´s Ende zuläuft. Dass sich so ein Bibeltext äußerte! In seiner Jugend war er Pfadfinder gewesen. Christlicher Pfadfinder, bei einer der Volkskirchen, dann auch Gruppenleiter und später in der Leitung seines Stammes. Inzwischen war er Gatte, Vater und Hausmann geworden. Seine Frau arbeitete in einem großen IT-Betrieb. Für die ganze Technik dort firmierte ein Mann als Chef. Sie war Chefin für den Sozialkram, der mit einer neuen Technik so aufläuft, egal, ob das bei den Kunden der Fall war oder bei den Leuten des eigenen Betriebs. Eine Aufgabe, die in ihrer Arbeitswelt schön eingebunden und verpackt war mit Vokabeln aus der modernen Betriebswirtschaft.
Wenn sie zu Tisch waren und speisten, klagte seine Liebste immer wieder mal. Wie schwer doch die Menschen mit dem Wandel der Technik Schritt hielten! Bei den Kunden wäre das ja zu erwarten, damit verdiente die Firma ihr Geld. Aber bei den eigenen Kollegen? Es war ein Teil der Leistung ihrer Firma, und damit ihrer Person, und an der war sie zu messen: Die Kollegen jenes Betriebs, die von ihrer Firma betreut wurden, die passten sich mehrheitlich und mehr oder weniger freiwillig den neuen Aufgaben an. Klar, am Anfang kam es zu Widerstand, Dienst nach Vorschrift, Berufen auf alte Anweisung oder Verordnung. Oder das Trotzen geriet sogar weniger passiv und gestaltete sich aktiver. Gottseidank war es bisher nie zu Gewalt gekommen. Irgendwann schließlich sahen viele betreute Kollegen ein, dass die Umstellung notwendig war. Gaben lieb gewordene Gewohnheit auf, bildeten sich weiter. Übten sich in ihre neuen Aufgaben ein. Und nach einigem Ruckeln und Zuckeln lief der betreute Laden dann doch wieder wie neu und etwas besser.
Was seine Frau etwas sprachlos machte, war die Tatsache, dass es mit ihren eigenen Leuten wenig anders lief. Obwohl viele jüngere und sehr junge dabei waren. Frisch von der Uni, vertraut mit der neuesten Technik. Und dank Netz gewandt im neuen sozialen Gewusstwie. Die müssten es doch besser wissen! Die müssten doch mindestens ahnen, was auf sie zukommt! Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Wenn sie sich so attackiert fühlte, verzichtete Richtmüller darauf, diesen Spruch rauszuhauen. Tat er es aus Liebe? Oder fürchtete er nur, es mit gleicher Münze heimgezahlt zu bekommen, wenn die Elchkritik einmal von ihm ausging?
Eingefrorn, hieß das im BWL-Deutsch seiner Frau. Wenn nichts mehr geht, jedweder Spielraum überall verloren ist. Hoppla, Richtmüller kratzte sich Haar und Haupt, und es purzelte fremdsprachlich aus ihm heraus: Rien ne va plus, freezing, Verstockung. Ein Wort aus der Bibel dafür. Sehr aus der Mode gekommen. Doch eigentlich eine gute Sache. Mir stockt das Blut! Gut, wenn ich eine offene Wunde habe. Gut auch, wenn ich mich beim Horrorfilm gepflegt erschrecke. Mindestens genauso gut: ein Becher süße Sahne, verquirlt mit zwei Eigelb. Bäh, wenn deren Mischung geronnen war. Himmlisch, wenn sie auf dem Lothringer Speckkuchen verschmolzen und Karotten, Erbsen samt weißem Fleischflaum umschloss. Richtmüller krochen Duft und Geschmack aus dem Ofen seiner Mutter ins Bewusstsein. Verstockung - als Ereignis gut und schlecht zugleich. Die müssten es doch besser wissen! Die müssten doch mindestens ahnen, was auf sie zukommt! Richtmüller war leicht verblüfft. Was kann an Ignoranz denn gut sein? Die Doppelmacht der Verstockung ließ ihn sprachlos zurück. Und als wäre Schweigen hoch ansteckend, dickte auch der Fluss seines Denkens ein.                       

Kehrtum! Irgendwie muss es so in Richtmüller geheißen haben. Denn im Denkstau fragte er sich nun: Waren die Empfänger des Petrusbriefs verstockt gewesen? Er griff zu den Blättern, die auf seinem Hochpult lagen, nahm sich den Text vor, rückte seine Brille zurecht und las ihn sehr, sehr aufmerksam. Ein Wort wie Verstockung oder etwas Ähnliches fehlte dort. Auffällig war, dass das Überraschtwerden so eine große Rolle spielte. Als müsste der Absender den künftigen christlichen Lesern erst klar machen: Es kann sich sehr wohl eine Änderung aus dem Nichts ereignen! Leider sogar eine mit bösem Erwachen. So wie wenn einer nach dem Aufstehen merkt, dass über Nacht in sein Haus eingebrochen wurde. Als Ursachen einer solchen Krise nennt der Text außer einem Dieb auch eine Sintflut und einen Feuersturm. Musste man das so drastisch schildern, wenn jemand darum Bescheid wusste? Richtmüller schüttelte unmerklich leicht den Kopf. 
Warum unterließ es der Autor, das Wort Verstockung zu nennen und zu nutzen? Wollte er es als ein böses Wort vermeiden, um seine Leser für sein Anliegen zu gewinnen? Als verstockt betitelt worden zu sein, das käme leicht als Anklage rüber, das könnte einen Empfänger leicht aggressiv machen, gegen einen aufbringen. So etwas kannte er aus den Erzählungen seiner Liebsten von der Arbeit. Und von ihr selbst, wenn sie miteinander stritten! Im Nachklang entschlüpfte Richtmüller, dass er das auch von sich selber kannte. Sehr merkwürdig, das alles. War es förderlich, so bei jemandem zu agieren, der für Krisen gewappnet ist? Schwierig, schwierig.

Na ja, wie dem auch sei! Richtmüller interessierte sich jetzt mehr für Prozess und Ergebnis der Änderung. Für das Gute, das Krise und Wandel mit sich bringen sollten. Zerschmelzen ergab sich als Stichwort aus dem Text. Eisgenuss kam ihm in den Sinn. Aus der Chemie Erzeugen und Verwenden von Amalgam. Richtmüller stoppte. Etwas widerstand ihm tief in sich drin. Als ob das alles zu viel des Guten wäre. Vielleicht auch, weil er spürte, welche Idee in ihm da heranwuchs. Die Arme auf das Pult gestützt, verlagerte er seinen Körper von einem Fuß auf den anderen. Standbein, Spielbein, links oder rechts. Der Text aus dem Petrusbrief erwähnte auch die Sintflut als Krise und Weltende. Und die in der Arche haben die Flutkrise überlebt. Vielleicht ist an deren Ergehen dabei zu erkennen, was an Gutem in einer Krise und einem Ende steckt.
Für Noah war damals ja alles klar gewesen. Kein Wunder, schließlich stand er im direkten Kontakt und Gespräch mit Gott. Richtmüller fragte sich: Aber was ging in den Köpfen seiner Familie vor? Die entbehrten den direkten Draht. Die waren Noah also auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mussten ihm vertrauen. Mussten an das Bauprojekt Arche für die Sintflut glauben, ob sie wollten oder nicht. Denn vom Aufkommen tödlicher Wassermassen war ihr Leben unter Sonne und Hitze meilenweit entfernt. Vielleicht hatten sie gedacht, dass der Alte jetzt total durchgedreht war.
Und erst in der mit Pech rundum wasserdicht verfugten Arche! Was denkt einer, der da nun hockt im Dunkel und Gestank eines U-Boots ohne Schaurohr und Schnorchel? Muss ja so sein, sonst funktionierte das Ding schlecht angesichts des Wassertodes. Wenn die Wellen derart über einen reinbrechen sollten, dass man nicht mehr wüsste, wo oben und unten ist. Diese Technik und ihr Einsatz, eine wahre Blackbox. Jedes Lebewesen da drin eigentlich nur eine Katze Schrödingers.

Richtmüller war in seine Phantasie versunken und reiste auf deren Welle. Also, die hockten da im Dunkel, lassen wir mal den eigenen Mist und den der Tiere außen vor, die starrten da vor sich hin und harrten des Wassers und der Dinge, die da kommen sollten. Ging es denen dabei wie Nina Ruge? Alles im Lot auf´m Boot, alles in Butter auf´m Kutter! Tanz mit den Insassen, Polonäse von steuerbord nach backbord? Oder geht denen durch Kopf und Magen, auf was sie sich da eingelassen haben? Vielleicht geht ja draußen was ganz anderes vor sich? Die Flut fällt vielleicht aus. Haha, Quatsch gedacht, ausgelacht, Weltende adieu! Oder es kommt stattdessen Hitze, die alles verbrennt. Dann würden wir hier drin doch als erste dran glauben! Und die wenigen, die überleben, das wären dann die Leute von draußen. Andererseits, wenn ich als Insasse hier jetzt anfinge durchzudrehen, dann bräche vielleicht Panik aus. Und das mit all dem Raubgetier hier drin. Dann ginge alles Leben im Schiff erst recht den Bach runter. Wenn dann doch tatsächlich eine Flut käme, dann wäre alles vergeblich gewesen! Ok, ok, ruhig Blut. Alles würde kommen wie zuvor gesagt. Aber was, wenn wir einige Tiere essen müssten, um die Flut zu überleben? Und überhaupt, nach der Flut, wie ginge es da weiter? Alles schmierig, klebrig, feucht, alles voller Moder und Leichen. Pflanzen, Tiere, Menschen. Hielte ich das aus? Würden wir von hier drin das neue Draußen aushalten? Mir wäre übel, schon ganz ohne Wellengang. Lange bevor das Schiff für seine Reise durch das Wasser ablegte. Ja, ich lebte, und nein, denn ich lebte wie lebendig begraben in einem wasserdichten Sarg. Das machte man doch nur mit, so was hielte man doch nur aus, ohne durchzudrehen, wenn tief in einem drin ab und an etwas erklang, das einen beruhigte, Mut und Zuversicht zusprach so wie eine schöne Melodie es vermochte: Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt (V. 13).

Verstockung, die außer Starr- und Widersinn ebenso Hoffnung gebiert: auf Entgegenkommen und einen guten Ausgang. Zergehen, das ein Dahin- und Verschmelzen wird. Verzweiflung und Zweifel vernichtet, altes Wollen und Besserwissen verstorben, dafür Wissen und Sehnen wie neu. Unglaublich! Aber wahr. Zumindest möglich. Laut der Bibel jedenfalls.

Ob das seine Frau glauben würde? Richtmüller wusste es kaum zu sagen. Als Chefin angesichts ihrer agil trägen Kollegen? Wahrscheinlich würde sie entgegnen: Ja, ja. Der gute Wille. Der möchte wohl gekommen sein. Aber ob der auch trüge? Was wäre mit dem los, wenn´s ans Arbeiten ginge und damit Probleme auftauchten? Wenn Widerstand die Zuversicht schmälerte, so verdünnte, dass diese Aussicht zu und verbaut wäre und dann wie im Nebel ohne Sicht gefahren würde? Dann würde man doch das sinkende Schiff verlassen. Stilles Quittieren hieße das heute, Auswandern ins Innere hat es früher geheißen. Nun ja, Richtmüller ahnte die Einwände seiner Frau. Er selbst war in einer anderen Lage als sie. Sie war es, die letztlich ihrem Chef zu begründen hatte, warum sie dieses getan und jenes gelassen hatte.
Wie dem auch war, er mutmaßte, dass dem Erzähler von Noahs Geschichte solche Einwände bekannt gewesen waren. Und dass der sich zu helfen wusste, indem er allerlei Hindernis und Widerspiel an- und aufführte. Wenn auch nur, um zu zeigen, dass Rettung und Erlösung das alles dann doch überwinden. Noah und seine Leute glaubten in allem Hin und Her dem, was Gott zu ihnen durchtönen ließ: dass das Leben, das Gute, die Oberhand bekäme. Die Menschen gerettet, obwohl sie sich und einander wie lebende Leichen erschauten. Entkommen dem Holzsarg, der sie mit Pech umfasst und festgenagelt hatte. Auf Erden war alles vertilgt, was tötete oder sterblich war. Der Rabe, der vom Ausflug zurückkehrte statt fort zu bleiben. Der steht zum einen für Widerspiel und Verzögern. Der blieb eines Tages dann einfach doch aus. Hatte wohl inmitten all des Todes einen trockenes Fleckchen Erde gefunden. Hielt dort seinen ganz eigenen Hof am Friedensplatz mit Leichenschmaus, der alte Aasfresser. Die Wasser gewichen, so dass dank Gott an einem Fleck neues Leben mitten aus dem Tod entstand. Die Taube wiederum, das alte Neustarttier, steht hier gegen ihren Ruf für Verzögern und Hindernis. Das zeigte sich mit ihrem Mehrmalsflug, nachdem die Flut längst abgeebbt war. Die neue Unschuld brauchte zum Überleben erst noch ein bisschen das schreckliche U-Boot aus altem, krummem Holz. Nach ein paar Flügen und Ausflüchten fand und kam sie endlich auf einen grünen Zweig, und schließlich allein mit sich selbst und der Welt zurecht und blieb aus. Endlich, neues Leben begann überall zu keimen, zu wachsen, zu gedeihen und sich bunt zu färben. Die Menschen standen gut da, als es aufs Ende zulief. Gott steht dafür ein mit seinem Wort. Unglaublich. Richtmüller nahm die Brille ab, hob die Fäuste vor sein Gesicht und rieb sich links und rechts mit den Zeigefingern ausgiebig die Augen. Er schaute zum Fenster hinaus. Draußen im Spätherbst hatte das Dämmern begonnen. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an OStR Markus Kreis

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist nur für das Internet geschrieben. Bestimmte Menschen hatte ich wie fast immer keine vor Augen. Meine IT und ET Azubis dürften bei mir als Berufsschullehrer zwangsläufig mitschwingen. Ohren versuchte ich zu haben für die stumme Stimme, die einem guten Menschen in mir entsprechen mag, und die zu erhören mir leider immer wieder sehr schwer fällt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die im Text des Petrusbriefs erwähnten Endzeitdramen/-szenen und ihre Einschreibung in gegenwärtige Wirklichkeit.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dank des Frageadverbs „wie“ ist mir das im Bibeltext explizit fehlende, aber implizit sehr wahrscheinlich vorauszusetzende Verstockungspotential der angesprochenen Empfänger/Leser überhaupt erst aufgefallen.

Perikope
26.11.2023
3,(3-7)8-13

Flaschenpost aus Lummerland - Predigt zu 2. Petrus 1, 16-21 von Bernd Giehl

Flaschenpost aus Lummerland - Predigt zu 2. Petrus 1, 16-21 von Bernd Giehl
1, 16-21

Als Lesungstext würde ich Matthäus 17,1-9 wählen. So wird die Predigt auch für ungeübte Hörerinnen und Hörer wesentlich verständlicher

Vermutlich haben Ihre Kinder früher auch gefragt, wenn sie ins Bett gehen mussten: „Papa, Mama, erzählst du uns noch eine Geschichte? Dann lagen sie in ihren Bettchen und hörten zu, wenn man eine erfundene Geschichte erzählte oder ein Märchen vorlas. Man musste aufpassen, dass man sich nicht versprach, denn dann korrigierten einen die Kinder. „Das tapfere Schneiderlein hat sieben auf einen Streich erledigt. Nicht sechs, Papa.“

Kinder lieben Geschichten. Sie zittern mit Hänsel und Gretel, wenn die zum Haus der Hexe kommen. Selbst wenn sie in ihrem Leben noch nie eine Hexe gesehen haben. Sie erzählen vom Krokodil, das unter dem Bett gelegen oder vom Drachen, der übers Haus geflogen ist als hätten sie es selbst gesehen.

Kinder liebe n Geschichten. Erwachsene auch.  Auch wenn es womöglich keine Märchen mehr sind. Aufgeklärte Leser wissen, dass gute Geschichten unser eigenes Leben in irgendeiner Weise berühren. Auch in den literarischen Erzählungen geht es um das Leben und wie es uns mitspielt.

Wenn ich das alles so bedenke, frage ich mich, an welcher Stelle uns der heutige Predigttext anrührt. Und ob er es überhaupt tut, weil er eher einem glattgeschliffenen Marmorberg gleicht, der steil aus dem Meer der Märchen und Mythen herausragt und jedenfalls nicht „Lummerland“ gleicht, wo Lukas, der Lokomotivführer mit Emma herumdampft und manchmal auch Jim Knopf, seinen kleinen Adoptivsohn auf seiner Emma mitnimmt, weil der so inständig gebettelt hat.

Ja, gewiss doch. Das war schon ein harter Schnitt. Sicher hätte ich ihn vermeiden können. Ich hätte nur gleich beim Anfang des Textes einsetzen müssen. „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.“ (2. Petrus 1,16) Keine Märchen und ausgeklügelten Geschichten; nichts als die reine Wahrheit. Mögen die Anderen euch Moritaten von Göttern aus Holz und Stein erzählen; wir halten uns an die Wahrheit! Von den Dichtern und Märchenerzählern hält Petrus, anders als sein Herr und Meister offensichtlich nicht viel. Eigenartig, aber Schüler  entwickeln sich oft eigenständig.  Erst einmal bleiben keine Fragen offen.

Aber beim intensiveren Nachdenken kommen sie dann umso mehr. Das beginnt gleich beim ersten Wort des Textes: „denn“. Es muss irgendwo anschließen, sonst bleibt es unverständlich. Der Verfasser, der behauptet, er sei Petrus, der berühmte Jünger Jesu, schreibt sein Testament. Bald wird er von Gott von der Erde abberufen und damit nicht mehr für seine Gemeinden tätig sein können. Deshalb schärft er ihnen noch einmal ein, was er sicher schon tausendfach gesagt hat: Jesus Christus, der Sohn Gottes ist vom Himmel gekommen um die Menschen zu erlösen. Bei seiner Verklärung auf dem Berg haben „wir“, genau wie Jesus selbst, selbst die Stimme gehört, die sagte: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (V17).

Wir sind jetzt näher herangesegelt. Aber noch hat der Felsen keine Risse oder Spalten, in die wir unsere Haken einschlagen könnten. Im Gegenteil: Schön, aber kalt strahlt er in der Sonne. Einer, der dabei war, als Jesus seine Herrlichkeit offenbarte. Der Glanz des Sohnes Gottes fällt auf ihn. Sein Heiligenschein ist so strahlend, dass wir sein Licht kaum ertragen. Ob wir einen so mächtigen Herrn befragen dürfen? Oder wollen wir es bei dem belassen, was er uns erzählt hat? Sie mögen das anders sehen, aber für mich waren es nur die tausendfach wiederholten dogmatischen Sätze. Glatt, nicht zu interpretieren. Im Grunde unverdaulich.

Ich frage mich, ob man ihnen beikommen kann.

Habe ich Ihr Einverständnis? Ach was, Sie sind neugierig? Darauf wäre ich nun wirklich nicht gekommen. Also gut. Versuchen wir’s. „Sind Sie wirklich der, für den Sie sich ausgeben?“ frage ich den, der sie schreibt und uns heute vorlegt, als wären wir seine Gemeinde. „Der Gefährte Jesu, der Freund, der ihn verleugnete?“ Natürlich bekomme ich keine Antwort. Hätte mich auch gewundert. Die Forschung hält die Verfasserangabe nicht für authentisch, sondern siedelt die Entstehungszeit des Briefes um 110 nach Christus an. Zu der Zeit dürfte der echte Petrus aber längst im Himmel gewesen sein. An wen der nun namenlose Briefautor schreibt, geht aus dem Inhalt nicht hervor, wohl aber, dass der Verfasser Judenchrist ist, das Matthäusevangelium kennt und sein Schreiben an verfolgte Gemeinden richtet. Die will er trösten, aufrichten und beim Glauben halten. Da die, an die er seine Worte richtet,  ihn nicht kennen, ist sein Name auch kein Problem. Außerdem sagt er ja selbst, dass er bald sterben werde. Der Brief kann also schon viele Jahre unterwegs gewesen sein, ehe er seine Leser erreicht. Insofern gleicht er eher einem Roman oder einer Flaschenpost, die jemand ins Meer geworfen hat und die erst nach langer Zeit in einem anderen Land angespült wird.

   Das Bild gefällt mir. Aus dem glatten Felsen ist eine Flaschenpost geworden. Wir können sie öffnen und lesen. Vielleicht ist sie ja für uns bestimmt. Allerdings war sie lang unterwegs. Bei dem Material auf das sie geschrieben ist, handelt es sich wohl eher um Pergament als um Papier. Andernfalls hätte sich die Botschaft wohl nicht so lang gehalten.

Aber jetzt müssen wir endlich zu seiner Botschaft zurückkehren. „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.“ Ganz so kann es nicht stimmen; jedenfalls nicht, wenn der Autor nicht „Petrus“ heißt, sondern ein paar Jahrzehnte später geboren wurde. Dann nämlich kann er den irdischen Jesus nicht persönlich gekannt haben, sondern er hat durch andere Christen, seine Eltern zum Beispiel von Jesus Christus gehört und durch sie zum Glauben am den Gekreuzigten und Auferstandenen gefunden.  

Ist das ein Problem? Oberflächlich gesehen ja. Jedenfalls wenn der Verfasser sich als jemand ausgibt, der er nicht ist und dessen Autorität er deshalb nicht hat. Dann kann er auch nicht behaupten, er sei auf dem Berg dabei gewesen, als Jesus und die Jünger die Stimme aus den Wolken hörten, die Jesus „den lieben Sohn“ nannte, auf den die Menschen hören sollten.

   Aber immerhin: Er kennt die Geschichte von dem Jesus, der mit drei seiner Jünger auf einen namenlosen Berg stieg und dort erlebte, dass aus ihm, dem armen Wanderprediger, der wenig mehr besaß, als das Gewand, das er trug, der Sohn Gottes wurde, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist. Sie ist wahr, behauptet er, weil ich sie persönlich bezeugen kann. Und weil ich sie selbst erlebt habe, habe ich auch die Autorität, die mir als Petrus zukommt.

Gewiss, der Name, den er sich gibt, ist eine Anmaßung. Aber stimmt der Inhalt dessen, was er sagt, deshalb nicht? Vielleicht ist es ihm ja nicht nur erzählt worden, sondern er hat es „erlebt“. Eigentlich wollte ich „tatsächlich erlebt“  sagen, aber dann habe ich das „tatsächlich“ gestrichen. Denn das, was ich mit „erlebt“ meine, lässt sich nicht beweisen. Ich selbst habe vor Jahren in einer kleinen Kirche im Darmstädter Raum einmal etwas ganz Ähnliches erfahren. Ein Kollege leitete eine Meditation über den „Schatz in den irdenen Gefäßen“ an. Ich hatte die Augen geschlossen und plötzlich driftete ich weg. Es war der Satz aus 2. Korinther 4,9, der mich auf die Reise schickte: „Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorbrechen, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben.“ Im nächsten Augenblick sah ich das Licht und ich wusste: In ihm war Gott. Wieder einen Augenblick später umgab mich völlige Dunkelheit und ich wusste: In ihr war auch Gott. Aber selbst diese zeitliche Unterscheidung ist falsch: es gab sie nicht. Ich sah beides und beides gleichzeitig: Licht und Finsternis, und in beiden war Gott. Aber das Erstaunlichste war: Auch ich war in beidem; Licht und Finsternis umschlossen mich. Plötzlich hatte ich  keine Angst mehr vor der Finsternis; wenn sie ein Teil Gottes war, brauchte auch ich sie nicht zu fürchten. Ich wollte in diesen Bildern bleiben; wenn es ginge für die nächstem dreißig Jahre meines Lebens, wenn ich denn so alt würde, aber natürlich musste ich den Raum wieder verlassen. Die Meditation war vorbei. Ich saß wieder auf dem Hocker im Vorraum der Kirche und mich umgaben Menschen, die Tee und Kaffee tranken.

Hinterher schloss sich ein Gespräch über das an, was die Teilnehmer in der Meditation erlebt hatten, und was ich hörte, war völlig banal. Am liebsten wäre ich gegangen. Ich selbst konnte nichts beitragen; das Erlebnis war zu mächtig. Ich konnte nicht darüber reden.

Womöglich gibt einem ein solches Erlebnis eine vorher nicht gekannte Autorität. Aber falls Sie jetzt meinen, ich hätte das erzählt, um Propst oder Bischof zu werden, irren Sie sich. Ich will nichts mehr werden. Ich suche auch keine Anerkennung. Das, was ich vor fast drei Jahren erlebt habe, hat sich nicht wiederholt und beweisen kann ich es auch nicht. Ich habe es erzählt, weil es mich dem Text auf die Spur gebracht hat. Weil ich mit dieser Erfahrung im Rücken den Marmorberg besteigen konnte.  

Also noch einmal. Hören wir noch einmal hinein:  „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen.“ (2. Petrus 1,16)

Nehmen wir einmal an, dass „Petrus“ nicht den Königsplural benutzt und sich als von Gottes Gnaden eingesetzt sieht, dann kann ich das auch so unterschreiben. Auch ich habe seine Herrlichkeit gesehen. Und auch ich glaube daran, dass das, was ich gehört habe, nicht nur erfundene Geschichten gewesen sind. Obwohl ich ja nichts gegen erfundene Geschichten habe. Nicht, wenn sie mein Leben deuten. Nicht, wenn sie mir Hoffnung geben, dass ich mein Leben und das, was mir widerfährt, bewältigen kann.

Vielleicht bin ich in diesem Augenblick ja auserwählt gewesen. Aber ein Petrus ist aus mir nicht geworden. Jedenfalls kein „Fels“. Vorher und auch hinterher habe ich viele Stunden des Zweifels erlebt. Die Erfahrung von damals hat mich nicht stärker, nicht „gläubiger“ gemacht. Es gibt immer noch Stunden des Leids, in denen ich tief hinabsteigen muss. Ich weiß nicht, ob der Verfasser des Ersten Petrusbriefs und ich uns ähnlich sind. Im Unterschied zu mir scheint er die Anfechtung nicht zu kennen. Aber kann das sein? Würde er sich dann „Petrus“ nennen? Sicher kommt er wie ein Fels daher. Aber eben dieser Petrus hat Jesus in seiner schwersten Stunde verleugnet. Und hinterher bitterlich geweint.

Einem Menschen, der eine solche Erfahrung gemacht und sie schließlich überwunden hat, kann man vertrauen. Selbst wenn er sich nur so nennt.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer i.R. Bernd Giehl

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein normaler Sonntag. Ein paar Konfirmanden. Vielleicht sogar Leute, die selten kom-men. Ob ich die  wohl erreiche? Dann sind die Treuen da, wegen denen der Gottesdienst nicht ausfällt. Ich hoffe, dass ich sie nicht vergraule.   

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Bild des Marmorbergs. Dieser Text ist so dogmatisch; das hat mich gereizt

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Was mich weiter begleitet wird das mystische Erlebnis sein, von dem ich erzählt ha-be

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Coach und ich waren selten einer Meinung, auch wenn er sehr zugewandt war.  Ich habe den Abschnitt über die Geschichten für Erwachsene gekürzt. Aus Steigeisen Ha-ken gemacht und die Schriftlesung eingeführt. Die Überschriften über einzelne Ab-schnitte wollte ich nicht übernehmen.

 

Perikope
31.01.2021
1, 16-21

Warten ist nichts für Feiglinge - Predigt zu 2.Petrus 3,13 von Thomas Volk

Warten ist nichts für Feiglinge - Predigt zu 2.Petrus 3,13 von Thomas Volk
3,13

Warten ist nichts für Feiglinge

Liebe Gemeinde!
„Es wäre schön, wenn man jetzt an einen Gott glauben könnte.“
Vom kürzlich verstorbenen Schauspieler Joachim Fuchsberger stammt dieser Satz. Der Hintergrund: Sein Sohn ist kurz zuvor verstorben. Und er hätte sich gewünscht, an einen Gott glauben zu können, um den Verlust besser zu verkraften. „Es wäre schön, wenn man jetzt an einen Gott glauben könnte. Aber ich kann es nicht.“

Manche von uns haben in diesem zu Ende gehenden Kirchenjahr ebenfalls so oder so ähnlich gesprochen. „Es wäre schön, wenn man jetzt an einen Gott glauben könnte.“
Es wäre schön, wenn man jetzt so viel Trost spüren würde, dass man mutig nach vorne schauen kann.
Es wäre schön, wenn man dahinkäme, dass alle Erinnerungen nicht mehr nur wehtun, sondern sich in dankbare Lebensbeschreibungen verwandeln würden.
Und es wäre schön, wenn man wissen könnte, was man für sich selbst noch erwarten darf? Vor allem dann, wenn man spürt, wie der eigene Aktionsradius immer kleiner oder die eigene Lebenskraft immer weniger wird.

Manche von uns sind erst vor kurzem, andere bereits vor einigen Monaten an einem offenen Grab gestanden und haben sich gefragt, wie es jetzt ohne diesen einen Menschen, der so fest zum eigenen Leben dazugehört hat, weitergehen soll?
Wie kann man jetzt alleine in der leeren Wohnung über die Runden kommen?
Und wie all die einsamen Stunden aushalten?
Wie wird einem innerlich wieder warm?

Andere von uns haben erlebt, dass in diesem zu Ende gehenden Kirchenjahr etwas grundlegend anders gekommen ist, das man mit dem eigenen Glauben einfach nicht  oder nur schwer in Verbindung bringen kann:
Was habe ich gehofft, dass ich diese Stelle bekomme. Aber jetzt muss ich wohl wegziehen, um meinen Beruf weiter ausüben zu können.
Was habe ich mir gewünscht, dass meine Liebe erwidert wird. Und nun stehe ich wieder alleine da.
Und was habe ich gebetet, dass die Diagnose gut ausfallen möge. Mit diesem Ergebnis muss ich erst mal klarkommen.

Der heutige Ewigkeitssonntag möchte alle - egal wie nahe sie sich bei Gott glauben oder wie weit weg von ihm - aufklären, was man von ihm erwarten darf. Dieser letzte Sonntag im Kirchenjahr will uns gewiss machen: Alle schweren Gedanken, die manche von uns fest im Griff haben, sind nicht das Letzte. Es gibt eine Zukunft. Nicht nur für die, die von uns gegangen sind, sondern auch für uns. Und nicht erst irgendwann einmal später, sondern bereits jetzt in diesem Leben.
Es ist Gottes großer Wunsch, dass wir an ihn glauben können als eine große Kraft, die uns hält, gerade dann, wenn wir meinen hinzufallen. Und es ist sein ausgemachter Wille, dass wir Menschen „Zukunft und Hoffnung“ vor uns haben (vgl. Jeremia 29,11), vor allem in den Zeiten, in denen uns etwas so geschüttelt hat und wir meinen, unser Leben hätte keinerlei Lebensqualität mehr.

Der 2. Petrusbrief spricht an einer Stelle von dieser Zukunft so: „Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (2.Petrus 3,13).
Zugegeben. Diese Worte klingen recht nüchtern. An anderen Stellen der Bibel werden dieser neue Himmel und diese neue Erde mit großartigen Bildern beschrieben, die man weiter ausmalen und sich darin richtig geborgen fühlen kann. Im Buch der Offenbarung ist zum Beispiel davon die Rede, dass alles Dunkle und Rätselhafte in hellem Licht aufgelöst sein wird. Die Menschen werden nicht mehr klagen. Kein Leid wird sie mehr treffen. Der Tod wird nicht mehr sein, weil Gott selbst bei ihnen wohnen wird (Offenbarung 21).
Der Briefschreiber des 2. Petrusbriefes dagegen spricht nur vom Warten. Wir warten. Auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde. So hat es Christus verheißen.
Und natürlich wäre es schön, wenn wir diesen neuen Himmel und diese neue Erde auch wirklich erleben könnten. Nicht erst später einmal, sondern schon hier und jetzt. In unserem mühevollen Leben.
Wenn zum Beispiel endlich einmal die trüben Gedanken verschwinden könnten.
Wenn die große innere Leere abnehmen würde.
Und wenn wir endlich ein Licht ganz hinten am Tunnel sehen, dass langsam immer größer und heller wird.

Aber noch sind dieser neue Himmel und diese neue Erde für viele weit entfernt. Und es scheint, dass das Abschiednehmen der ständige Begleiter ist. Von lieben Menschen. Aber auch von manchen Lebenswegen, die man aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gehen. Oder von manchen Zielen, die man einfach nicht mehr verwirklichen kann.
Joachim Fuchsberger ist es ebenso ergangen. Er hatte übrigens die 80 überschritten, als sein Sohn auf tragische Weise ums Leben kam und er musste bitter eingestehen, „dass zum Alter der Verlust gehört“. „Ob es der Verlust von Menschen ist, die einem lieb geworden sind, oder ob es der Verlust von persönlichen Fähigkeiten ist. Das gehört alles zusammen.“ So hat er in einem Interview einmal dargelegt.

Und wenn wir immer wieder feststellen müssen, dass nichts für die Ewigkeit ist, dann wäre es doch zumindest schön, wenn wir alles, was uns zu schaffen macht, einfach abschütteln könnten wie den Staub von unserer Kleidung. Wie beruhigend wäre es, wenn wir einfach sagen könnten: Schluss mit den trüben Gedanken! Und vorbei mit der Zeit, die ich mir nicht ausgesucht habe.
Aber es geht nicht so schnell. Leider. Es dauert noch. Wie lange, kann niemand sagen. Jede und jeder muss die ganz eigenen Warteschleifen drehen, bis Neuland in Sicht ist.
Joachim Fuchsberger hat übrigens ein Buch mit dem Titel „Altwerden ist nichts für Feiglinge“ geschrieben. Darin beschreibt er ausführlich über die Herausforderungen des Alters, wie es sich anfühlt, wenn die Lebensmöglichkeiten immer weniger werden und wie feige es ist, wenn man meint, dem Alter und seinen Beeinträchtigungen einfach ausweichen zu können.
Kurz nachdem er das Buch fertig geschrieben hat, ist der tragische Unfall seines einzigen Sohnes passiert. Der Buchtitel hat damit noch eine ganz neue Dimension bekommen. Denn mit einem so großen Verlust zurechtzukommen oder sich auseinanderzusetzen, ist wirklich nichts für Personen, die meinen, man könne alle Trauer einfach wegsperren oder alle dunklen Gedanken mal eben locker wegklicken.
Und das sehnliche Warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde ist nichts für solche, die meinen, dass über Nacht die dunklen Wolken sich einfach auflösen werden und schon am nächsten Morgen die eigene Welt in einem völlig neuen Licht erstrahlt.

Vielleicht deshalb diese nüchterne, aber doch klare Ansage: „Wir warten aber.“
Für mich klingen diese Worte mehr als Durchhalteparolen. Sie klingen richtig widerspenstig. Ich lese aus diesem Vers auch heraus:
Ich möchte nicht, dass alles beim Alten bleibt. Ich will mich nicht damit abfinden, dass ich nur noch zurückblicke, mein Leid und alle Einsamkeit beklage.
Ich will nicht nur gebannt auf mein eigenes Ende starren. Ich möchte wieder gerne leben, gerne ich selbst sein, auch wenn das, was gewesen ist, nicht mehr wieder kommt.
Ich möchte morgens gerne aufstehen können. Ich möchte einen Tag erleben, an dem ich das Leben feiern kann. Und ich will es noch einmal erleben, wie alle Farben wieder zurückkommen, wenn auch in anderer und neuer Zusammensetzung.
Und vielleicht wünscht sich auch jemand das: ich will wieder spüren und fühlen, wie schön es ist, im siebten Himmel zu sein.
Wie auch immer: Ich möchte wieder dahin kommen, dass der Himmel für mich offen ist, dass ich Gott fest an meiner Seite weiß und seine Kräfte in meinen spüre.

Der 2. Petrusbrief versichert uns: Alles Warten auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde sind mehr als ein trotziges Hoffen und Harren. Denn für den Schreiber des 2. Petrusbriefes gibt es jemanden, der sich dafür verbürgt, dass alles Warten nicht umsonst sein wird. Es ist Christus.
Mit der Art und Weise, wie sich Jesus damals auf andere Menschen eingelassen hat, wie er ihnen nahegekommen ist, wie er sich mit ihnen an einen Tisch gesetzt, ihnen zugehört, sie wieder auf die Beine gestellt oder sie aus ihrem Kreisen um sich selbst herausgeholt hat, haben sie gespürt: Da ist jemand, der mich versteht. Da ist mir jemand nahe. Es ist als ob sich der Himmel für mich öffnet und ich die Erde mit neuen Augen sehen kann.
Heute blitzt für mich etwas von diesem offenen Himmel und dieser neuen Erde überall da auf, wo Menschen durch ihren Glauben Mut bekommen, neue Wege zu gehen.
Wo man nach einem Gottesdienst gestärkt in die neue Woche gehen kann.
Wo man sich aussprechen darf. Wo jemand einem zuhört und man dadurch selbst Klarheit bekommt, wie es im eigenen Leben weitergeht.
Wo jemand aus seiner Einsamkeit herausgeholt wird.
Und überall dort, wo sich jemand keine großen Illusionen mehr über seine Zukunft macht, aber jeden Tag dennoch neu aufsteht und sich den Tag einteilt.

Es wäre schön, wenn man diesen neuen Himmel und diese neue Erde hier und jetzt erleben könnte. Und wer meint, dass er viel zu weit von diesem neuen Himmel und dieser neue Erde entfernt ist, dem sei gesagt, dass Gott uns immer viel näher ist als wir meinen.
Und es gibt noch etwas, das neben allem Warten einhergeht. Damit schließt übrigens der 2.Petrusbrief. Es gibt auch ein Wachsen „in der Gnade und Erkenntnis“ Jesu Christi (vgl. 2.Petrus 3,18). Es hilft uns, mit dieser neuen Welt im Hier und Jetzt immer wieder zu rechnen und sie zu erfahren.
Und der Trost Gottes, der weiter blickt und tiefer schaut als alles menschliche Sehen, gebe uns die Geborgenheit, die wir gerade brauchen. Amen.


Die Zitate von Joachim Fuchsberger stammen aus dem Süddeutsche Zeit Magazin 4/2011, S.1.12-21.
 

Perikope
23.11.2014
3,13

Vom Trost des Wartens - Predigt über 2. Petrus 3,13 von Angelika Volkmann

Vom Trost des Wartens - Predigt über 2. Petrus 3,13 von Angelika Volkmann
3,13

Vom Trost des Wartens

Liebe Gemeinde!

Wie kann man weiterleben, wenn alles ganz anders gekommen ist? Wie kann man zurechtkommen, wenn da nichts mehr ist wie zuvor, wenn das ganze Leben wie zerstört scheint? Wie kann man weiterleben angesichts schmerzlicher, endgültiger Abschiede, angesichts der Wirklichkeit des Todes, der das Leben verschlingt, der Blicke und Berührungen, Gespräche und Erlebnisse einfach verschlingt?
Der Tod ist unerbittlich. Nicht rückgängig zu machen. Nicht zu begreifen.  Von einer Sekunde auf die andere ist alles anders. Es ist, als ob man sich im freien Fall befindet. Der geliebte Mensch ist nicht mehr da! Schmerz zerreißt  die Seele. Im nächsten Moment empfindet man fast Gleichgültigkeit.

Für viele von uns war das so im vergangenen Jahr. Die Erfahrung zu machen, dem Tod zu begegnen, ganz nah. Zu erleben, dass die Erde über dem Grab geschlossen wird und die Endgültigkeit des Abschieds besiegelt. Für immer.

War’s das jetzt? Oder kommt da noch etwas?
Oder müssen wir uns schlicht abfinden mit der bitteren Realität?
“Da wird nichts mehr kommen“, sagen die einen und üben sich darin, die Endlichkeit zu akzeptieren.
“Wo ist nun dein Gott?“ sagen die Spötter damals (Psalm 42,11) und heute zu dem, der auch in solchen Situationen noch glaubt.
“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“  (Psalm 22) fragt der angefochtene Glaube, der zu zerbrechen droht, der aufbegehrt gegen das zugemutete Leid und der dennoch sagt: „Mein Gott, mein Gott.“

Ist es möglich, in Zeiten großen Leidens an der Hoffnung festzuhalten, dass es Trost gibt, großen Tost, der auch den Schmerz in der eigenen Seele heilt?
Werden wir eines Tages wieder fröhlich sein?
Dürfen wir festhalten an der Hoffnung, dass da doch noch etwas kommt, dass uns eine Zukunft jenseits des Todes erwartet?

Das Wort, das uns für den heutigen Tag gegeben ist, steht im 2. Petrusbrief  3,13

„Wir aber warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.“

Nüchtern und sachlich klingen diese Worte. An anderen Stellen der Bibel werden dieser neue Himmel und diese neue Erde mit großartigen Bildern ausgemalt. Im Buch der Offenbarung ist davon Rede, dass alles Dunkle und Rätselhafte in hellem Licht aufgelöst sein wird. Die Menschen werden nicht mehr klagen müssen, kein Leid wird sie mehr treffen. Der Tod wird nicht mehr sein, weil Gott selbst bei ihnen wohnen und alle Tränen abwischen wird (Offenbarung 21).

Der Briefschreiber des 2. Petrusbriefes dagegen betont das Warten. Wir müssen auf einen neuen Himmel und auf eine neue Erde warten.

Wir müssen noch warten, dass die schweren Gedanken verschwinden, dass die große Last auf unseren Schultern kleiner wird.
Wir müssen noch warten, dass die große Leere abnimmt, und dass sich neue Gedanken wieder entfalten können.
Wir müssen noch warten, bis wir bei dem Gedanken an das, was wir verloren haben, nicht gleich wieder in Traurigkeit versinken.

Wir haben noch keinen neuen Himmel und noch keine neue Erde. Wir leben in unseren alten Verhältnissen, zu denen das Abschiednehmen dazugehört. Wir müssen bitter feststellen, dass nichts für die Ewigkeit ist. Und die Momente, in denen wir glücklich und unbeschwert leben dürfen, sind viel zu kurz.

Auch damals, zur Zeit des Petrusbriefes, haben die Menschen sehnsüchtig gewartet. Sie rechneten zu ihren Lebzeiten damit, den wiederkommenden Christus zu sehen, der den neuen Himmel und die neue Erde mit sich bringt – und sie waren beunruhigt, als doch einige schon gestorben sind, und Christus noch nicht erschienen war. Auch unter ihnen gab es Spötter, die sagten. „Da kommt nichts mehr“. Auch unter ihnen gab es den angefochtenen Glauben, der sich bang fragte: „Wo ist nun mein Gott? Hat er mich verlassen?“

Und? Hat der Briefschreiber irgendeinen Trost für uns?

Ja, er hat. Es ist ganz seltsam.
Er hat einen völlig anderen Blick auf das Warten.
Liebe Gemeinde, er sagt: Gerade im Warten liegt der Trost.
Denn wir haben noch etwas zu erwarten.
Im Warten liegt Kraft.
Im Warten zeigt sich Protest.
Im Warten ist Hoffnung.
Das sehnsüchtige, beharrliche, betende Warten kennt den Zweifel und hält fest an der Hoffnung, allem Augenschein zum Trotz, allem Spott zum Trotz.
Das Warten widerspricht: „Ich finde mich damit nicht ab!“
„Ich weigere mich, die Endgültigkeit des Leides anzuerkennen!“
„Ich gebe dem Leid nicht so viel Macht.“
Der Briefschreiber ermutigt zum Warten. Nicht nur, weil er darin einen Ausdruck von Glaubensstärke sieht. Sondern weil es einen Bürgen dafür gibt, dass der Tod nicht das Ende ist: Jesus Christus.
Er hat das finstere Tal des Todes durchschritten und Gott hat ihn zu neuem Leben gerufen. Unser Warten wird nicht umsonst sein!

Liebe Gemeinde, das behauptet der Briefschreiber nicht einfach nur. Vielmehr erzählt er  - im 1.Kapitel - von einer ganz persönlichen spirituellen Erfahrung, einem Erlebnis, das er gemeinsam mit anderen hatte:

Wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen! Den Auferstandenen im Himmel! Umgeben von Glanz, Licht, Pracht – da war vollkommener Friede, unvergängliche Freude.  Dazu die Stimme Gottes in vollem Klang: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. (Kapitel 1,16-18)
Für einen Moment konnte er den neuen Himmel und die neue Erde sehen.

Deswegen kann er gut trösten: „Wenn ihr dunkle und schwere Zeiten erlebt, so wisst: das Licht scheint am dunklen Ort, bis der Tag anbricht! Bis der Morgenstern aufgehe in euren Herzen“ (Kapitel 1,19). Im Herzen, das noch so untröstlich ist.

Ja, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir mit unseren fünf Sinnen nicht wahrnehmen, und die dennoch da sind. Manchmal sind wir im Umfeld eines Todes auch empfänglicher für die Wirklichkeit Gottes, die uns doch schon immer unsichtbar umgibt.
Manchmal können wir Gottes Wirklichkeit spüren, wenn wir mit anderen beten, wenn wir Gottesdienst feiern, Lieder hören und singen. Manchmal erleben wir die Wirklichkeit Gottes, wenn wir meditieren.

Gottes Wirklichkeit. Der Ort, wo Friede ist. Wo keine Frage offen bleibt. Wo Gerechtigkeit wohnt. Wo Wunden heilen, Erlittenes ausgeglichen und Schuld vergeben wird. Wo Liebe uns umhüllt. Wo wir gesehen werden.
Die Herrlichkeit Gottes. Der neue Himmel und die neue Erde, die der wiederkommende Christus mit sich bringt, und die wir manchmal jetzt schon spüren.

Manche werden bitter und sagen im Angesicht des Todes  „Das  war’s!“
Der wartende Glaube widerspricht: „Das war’s noch lange nicht!“
Das Tor ist offen.
Das Land ist hell und weit.
Gottes unsichtbare Welt hat kein Ende.
Auf seine kommende Welt hoffen wir.
Ihr Kraftfeld erleben wir bereits jetzt.
Ihr Glanz strahlt aus auf unsere Gegenwart, entfaltet sich in uns.

Unsere Lieben, die uns durch das Tor des Todes vorausgegangen sind, dürfen wir jetzt schon dort wissen, an dem Ort, wo dieser Glanz vollkommen ist. Gott wird sein Werk vollenden, das er begonnen hat, mit seiner Schöpfung, mit jedem einzelnen Menschen.

Durch unseren Glauben bleiben wir mit ihnen verbunden. Wir sind wie sie in der Liebe Gottes, „vorweggenommen in ein Haus aus Licht“ (Marie-Luise Kaschnitz, Auferstehung). Im Glauben an die Auferstehung kann die Liebe hin und her fließen zwischen uns und denen, die uns durch das Tor des Todes vorausgegangen sind. Auch Heilung von Beziehungen und Versöhnung ist möglich, und kostbarer Trost.

Ja, wir warten auf den neuen Himmel und auf die neue Erde.
Denn wir sehen jetzt schon ihren Glanz, immer wieder.
Unser Warten wird nicht vergeblich sein.  
Amen.

Perikope
23.11.2014
3,13

Nach dem Ende - Predigt über 2. Petrus 3,3-13 von Klaus Pantle

Nach dem Ende - Predigt über 2. Petrus 3,3-13 von Klaus Pantle
3,3-13

Nach dem Ende

"Ihr sollt vor allem wissen, dass in den letzten Tagen Spötter kommen werden, die ihren Spott treiben, ihren eigenen Begierden nachgehen und sagen: Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist. Denn sie wollen nichts davon wissen, dass der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde, die aus Wasser und durch Wasser Bestand hatte durch Gottes Wort; dennoch wurde damals die Welt dadurch in der Sintflut vernichtet. So werden auch der Himmel, der jetzt ist, und die Erde durch dasselbe Wort aufgespart für das Feuer, bewahrt für den Tag des Gerichts und der Verdammnis der gottlosen Menschen.

Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden.

Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt."

1.      Das Ende

Jeder, der im vergangenen Kirchenjahr einen nahen Menschen durch den Tod verloren hat, kennt sie, die „Spötter“. Das sind die, die einem nach der Beerdigung sagen: „Kopf hoch! Das Leben geht weiter.“ Meist ist das gut gemeint, und die Spötter würden sich selbst nie als solche bezeichnen. Was sie nicht begreifen oder begreifen wollen ist: Das Leben geht gerade nicht weiter. Jeder Tod eines vertrauten Menschen gleicht einem Weltuntergang. Unter jedem Grabstein, den wir setzen, liegt ein Kosmos begraben, und dieser Kosmos ist ein für alle Mal untergegangen. Es ist nicht nur der Verstorbene in seiner einzigartigen Individualität, der endgültig dahin ist. Und es ist nicht nur seine Welt, die untergegangen ist. Mit sich hat er auch unsere Welt, so wie sie war, mit ins Grab genommen. Unsere alte, miteinander geteilte Welt ist nicht mehr. Nichts ist mehr wie es war.

Weltuntergänge gibt es nicht nur am Ende aller Zeiten. Es gibt sie jetzt, hier, mitten unter uns. Wir erfahren sie, werden in sie hineingezogen und mit in den Abgrund gerissen. Die Spötter, die uns sagen: „Das Leben geht weiter“, mögen mit ihrer Rede unbewusst ihr Unbehagen zum Ausdruck bringen, sich der radikalen Weltuntergangserfahrung derjenigen, die einen nahen Menschen verloren haben, zu stellen. Auch kann die Angst mitspielen, sich auf den Trauernden und seine Gefühle einzulassen und dabei mit in die Tiefe gezogen zu werden. Dazu kommt, dass man bei jedem Tod eines vertrauten Menschen brutal mit seiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird und nicht jeder möchte sich dem aussetzen.

Allerdings gibt es nicht nur individuelle sondern auch kollektive Weltuntergangserfahrungen.  Weltuntergänge können hereinplatzen mitten in unsere scheinbar sichere Gegenwart. Feuer und Wasser können ganze Welten unwiederbringlich zerstören. Vor genau einem Jahr erfasste der Taifun Haiyan die philippinischen Visayas-Inseln und tötete mindestens 6166 Menschen, während 28.626 verletzt und 1785 als vermisst gemeldet wurden. 3,9 Millionen verloren ihre Wohnung. Vom „apokalyptischen Super-Taifun“ war in der Presse die Rede, vom „Monstersturm“, vom „Ende der Welt“. Die Welt der dortigen Menschen ist tatsächlich untergegangen. Nichts ist mehr wie es war. Die meisten Überlebenden hausen noch immer in Evakuierungszentren und Notunterkünften. Und nichts wird mehr, wie es war.

Das Leben geht nicht einfach weiter, wenn die individuelle oder kollektive Welt untergegangen ist. Aber das heißt nicht, dass es kein Leben nach solchen Weltuntergängen gäbe. Nur was dem Ende folgt, ist unwissbar und unsagbar.

2.      Nach dem Ende

Die Menschen, die den Taifun Haiyan überlebt haben, vor allem diejenigen, die Angehörige verloren haben, könnten niemals vollständig erklären, was sie wirklich erlebt haben. Wenn sie danach gefragt werden, schweigen viele nur oder blicken ausdruckslos vor sich hin. Was viele aber klar sagen, ist, dass es ein „Danach“ geben soll, ein neues Leben, wie unsicher es auch immer sein mag. Dass es eine Zeit und eine Welt geben soll, in der man „danach“ leben kann.

Wer einen nahen Menschen verloren hat, kennt die Phasen, in denen die Sehnsucht, dem Verstorbenen in den Tod zu folgen und dort wieder mit ihm vereint zu sein, stark ist. Man durchlebt Zeiten, in denen man sich wie gelähmt fühlt und meint, keine Kraft mehr zu haben, um alleine weiter zu leben. In anderen Phasen vermag sich der Lebenswillen wieder in der Vordergrund zu schieben und auch der Blick nach vorne, aber es kann über lange Zeiten ein Schwanken bleiben zwischen Todessehnsucht und Lebenstrieb. „Das Leben will sich erhalten, aber es will auch untergehen...“ (Gottfried Benn). Und das nicht einmal unbedingt jetzt und dann, sondern gelegentlich gleichzeitig, ineinander und durcheinander, im Wirrwarr der Gefühle und Empfindungen während ein und desselben Augenblicks.

Es gibt ein Leben nach der Apokalypse, auch wenn die Menschen, die den Taifun Haiyan überlebt haben, nicht wissen, ob und wann sie ein nächster trifft. Und es gibt ein Leben nach dem Tod eines vertrauten Menschen, auch wenn ich weiß, dass weitere Menschen aus meinem Lebensumfeld sterben werden und auch mich der Tod eines Tages treffen und auch mein irdisches Leben vergehen wird. Aber bis dahin gibt es die Zeit, die bleibt. Um diese Zeit, die bleibt, geht es dem Verfasser des 2. Petrusbriefes. Niemand weiß zu sagen, wie lange sie dauert. Alle Spekulationen darüber sind müßig. Alleine der Herr, so sagt er, ist Herr über die Zeiten und Herr über alle Welten und damit auch über ihr und unser Ende. Und der Herr ist „geduldig“. Wir können die Kalender beiseite legen.

„Wo war Gott, als mein Partner/meine Partnerin, meine Mutter/mein Vater, mein Freund/meine Freundin starb?“ Das Verlassenheitsgefühl dabei kann grenzenlos sein. „Wo war Gott, als Haiyan kam?“ Viele Gläubige haben diese Frage auf den Visayas-Inseln so gestellt. „Wenn kein Gott da ist, wer ist dann da?“ Die Gemeinden versammelten sich bald wieder in ihren kalten, dachlosen Kapellen, warteten in der Dunkelheit mit flackernden Kerzen oder Taschenlampen, oft auch im Regen. Daniel Franklin Pilario, ein Theologie-Professor, der dort einem Gemeindepfarrer nach der Katastrophe über die darauf fodenden Weihnachtstage aushalf, erzählt: „Man konnte noch ihre Ängste und ihr Leiden in ihren trauervollen Blicken spüren. Aber sie gingen nicht weg. Sie fuhren fort mit ihren Gebeten und Liedern. Der Gott der Solidarität mit ihnen war nahe, und ganz besonders im Augenblick des Schmerzes und Verlusts. Liebe und Solidarität ... erinnern nicht nur an das Gelungene, sondern auch an das Zerstörte, nicht nur an das Verwirklichte, sondern auch das Verlorene.“ Liebe und Solidarität wenden sich so gegen die Sieghaftigkeit des Gewordenen und Gegenwärtigen.

Es gibt eine Zeit, die bleibt. Der Herr hat „Geduld“. Er ist nicht nur da, sondern öffnet auch neue Zeiten und Räume. Man kann darin sein Schicksal noch mitbestimmen. Die Zeit, die bleibt, kann heilsam und gefährlich zugleich sein. Es geht darum, die in ihr geschenkten Möglichkeiten wahrzunehmen und sie nach Vermögen zu nutzen.

3.      Das Wagnis des Glaubens

Wir haben mehrere Leben. Wir leben in mehreren Welten. Und wenn eine Welt untergeht, kann auch eine neue aufgehen. Im realen Leben geschieht das nicht wie in den mythischen apokalyptischen Vorstellungen nacheinander sondern gleichzeitig ineinander und durcheinander. Der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes sagte einmal: „Sie müssen schon entschuldigen, aber in einer Welt kann ich nicht leben.“ Das müssen wir Gott sei Dank auch nicht! Wir leben schon jetzt in mehreren Welten. Und einen „neuen Himmel“ und eine „neue Erde“ können wir immer erhoffen und erwarten. Das Harte an den Untergangserfahrungen bleibt, die Wunde der Erfahrung des Todes mag vernarben. Ein Schmerz bleibt immer zurück. Wenn es gut geht, tut er mit der Zeit nicht mehr so weh und blockiert das Neue nicht, sondern lässt es zu, lässt Gegenerfahrungen in Gegenwelten zu, die lösen und erlösen. In der Zeit, die bleibt, können wir leben im Glauben zwischen Erfahrungen von Glück und Spuren des neuen Himmels und der neuen Erde. Wir können leben mit den Wunden unserer durchlebten Katastrophenerfahrungen wie auch mit immer wieder neuen Katastrophendrohungen.

Wir Menschen, zumal wir Glaubenden, können Kräfte erfahren und entwickeln, die überraschend sind. Die zerbrechliche, aber trotzige Hoffnung zeigte sich auf den Philippinen in der Kraft, in der Welt danach weiterzuleben, und das mit erstaunlicher Kreativität und Humor. „Ein Brett an einem Baum vor den Überresten einer kleinen Hütte kündigt den Hilfsmannschaften an: ‚Wir brauchen Haus und Grund, einen Wagen, einen Swimmingpool!’“ Humor kann Zeichen sein für äußersten Überlebenswillen, ebenso wie Phantasie. Ein bisschen Sperrholz und ein Metallring, aus dem Schutt gezogen, ergaben einen behelfsmäßigen Basketballplatz, damit die Kinder wieder spielen konnten. Ein alter Kühlschrank ersetzte ein verlorenes Boot, um wieder fischen gehen zu können. Ein Friseur in einem kleinen Ort begann wieder mit dem Haareschneiden in seinem Laden ohne Dach. Er sagte, auch wenn es noch keine Häuser gäbe und nur spärlich Nahrungsmittel einträfen, sollten die Leute doch wenigstens gut und gepflegt aussehen. Eine Gruppe von Müttern begann, gemeinsam kommunale Anlagen zu bepflanzen. Als nach ein paar Wochen die Pflanzen zu spießen begannen, dienten sie als Fanal der Hoffnung, das alle sehen konnten.

Gemeinsam gelingt das leichter als alleine. Auch bei uns leben Trauernde in der Zeit, die bleibt, von der Hilfe und Solidarität anderer Menschen, von ihrer Nähe dann, wenn sie diese Nähe brauchen und zulassen können.

Der Verfasser des 2. Petrusbriefes reißt in seiner Vision die innerweltliche Perspektive auf. Für ihn ist die innerweltliche Heils- und Unheilsgeschichte gerahmt und aufgesprengt durch Vorstellungen vom totalen Ende und der totalen Verwandlung der Welt. Dabei wird das Neue nicht ausgemalt. Nur eines ist für ihn gesetzt für die neue Welt: Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist das Identitätsmerkmal der neuen Welt dann und soll es auch sein in den neuen Welten jetzt und hier in der Zeit, die bleibt. Das gilt es festzuhalten: Kriege, Finanzkatastrophen und Weltarmut, die ganze Gesellschaften in den Abgrund reißen, sind keine Tsunamis, denen man hilflos ausliefert ist. Sie sind menschengemacht. Von Menschen verursachte Weltuntergänge fallen unter das göttliche Gericht und sollen in der Zeit, die bleibt, zumindest so gut es geht verhindert werden.

Vielleicht kann uns durch alles und durch alle Zeiten und Räume und darüber hinaus ein letzter Trost tragen. In der Zeit, die uns bleibt, können wir lieben und scheitern, kämpfen und unterliegen, weil wir darin Gott ähnlich werden. Geborgenheit und Ungesichertheit der menschlichen Existenz müssen wir aushalten. Aushalten können wir das im Blick auf unseren Herrn Jesus Christus.  Denn Jesus ist für Glaubende der Mensch, der „in den Untergang hineingegangen und durch ihn hindurchgegangen ist. In der Menschwerdung, im Weg zum Kreuz und in Höllen- und Himmelfahrt hat Jesus Christus nach dem Glauben der Christen alle Stadien durchschritten die Menschen überhaupt bevorstehen können. Leben ‚in Christo’ heißt, in diese Erfahrungen und Erwartungen mit hineingerissen und dabei nicht allein zu sein“ (Gerhard Marcel Martin). Darauf können wir vertrauen.

Literatur:

Daniel Franklin Pilario, Nach dem Ende. (Post-)Apokalyptische Reflexionen vom „Ground Zero“, in: Die Wiederkehr des apokalyptischen Bewusstseins, Concilium, 50./2014.3, S. 325.326.

Gerhard Marcel Martin, Weltuntergang. Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart 1984, S. 140

Perikope
23.11.2014
3,3-13

Predigt zu 2. Petrus 3,(3-7),8-13 von Frank Zeeb

Predigt zu 2. Petrus 3,(3-7),8-13 von Frank Zeeb
3,3-13

Liebe Gemeinde,

„Ich krieg die Krise“. Diese typische Redewendung der Jugendsprache ist längst in den ganz alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen. Wie oft erleben wir das: eine Situation nicht richtig in den Griff zu bekommen, etwas zu erleben, was man nicht verstehen und verarbeiten kann, irgendwie in eine Lage geraten zu sein, auf die man nicht vorbereitet ist, in der man nicht weiß, wie man reagieren soll. Eine Lage, die Angst macht, weil man nicht absehen kann, wie es ausgeht. Da sagt man oft: „Ich krieg die Krise“.

Ich möchte im ersten Schritt fragen, was eine solche Krise im Alltagsleben sein kann. Wenn zum Beispiel eine Beziehung in die Krise kommt, dann ist irgend etwas vorgefallen, das diese Beziehung gefährdet. Kann sein, dass die Beiden wieder zueinander finden, aber wenn er oder sie von „Krise“ spricht, dann steht wohl zu fürchten, dass das nicht leicht sein wird. Und selbst, wenn die Krise überwunden werden kann, dann ist damit noch nicht gesagt, dass es wieder so ist wie vorher. Womöglich bleiben Narben zurück, die nie mehr weggehen. Und trotzdem: Es kann auch vorkommen, dass beide Partner aus dieser Krise gestärkt hervorgehen, und so die Krise letztlich etwas positives bewirkt. Durch die Krise haben die Zwei ihr gemeinsames Leben neu geordnet, und es ist ihnen lebenswerter geworden als zuvor. Da ist die Sprache der Psychologie übrigens etwas genauer als unsere Umgangssprache. Für sie ist „Krise“ jede Situation, die bisheriges in Frage stellt und Weichen für die Zukunft stellt. Jede Krise trägt damit auch die Angst in sich. Es ist einfach so, dass uns Menschen vor Weichenstellungen oftmals ein ungutes Gefühl beschleicht. Wir können ja nicht in die Zukunft sehen, und deshalb sind wir verunsichert und ängstlich. Weil wir nicht wissen, welche Folgen die Krise für unser persönliches Leben haben wird.

Ganz offensichtlich ist das bei Trauernden, die einen lieben Mitmenschen verloren haben. Das ist im wahrsten Sinn des Wortes eine Krise, für den, der zurückbleibt. Vertrautes ist abgebrochen, für immer verloren. Das fängt bei ganz alltäglichen Lebensabläufen an. Viele Ehepaare haben ja gewisse Rituale zum Tagesablauf und der hinterbliebene Partner muss sich nun neue Rituale suchen. Da ist der Schmerz, kein Gegenüber mehr zu haben. Dazu kommt die Frage, wie kann ich weiterleben, wenn mein lieber Mann, meine liebe Frau nicht mehr da ist? Kann ich überhaupt weiterleben? Was soll werden?

Der Schmerz und die Angst, wenn ein lieber Mensch gestorben ist, kommt aus der Erfahrung, Vertrautes verloren zu haben. Der Tod wirft Fragen auf, Fragen, die ganz tief gehen und jetzt laut werden: Was wird aus mir, was wartet auf mich, was wartet auf die Verstorbenen, was wartet auf die Welt. Typische Fragen für Krisensituationen – angesichts eines Todesfall rücken sie ganz nah, aber es sind Fragen nicht nur für Hinterbliebene, sondern für alle Menschen.

Mir scheint, dass die Frage nach dem Weltende in den letzten Jahren immer häufiger geworden ist. Vielleicht trügt mein persönlicher Eindruck. Aber für mich ist das Weltende lange Jahre ziemlich weit weg gewesen. Nicht dass es mich nicht interessiert hätte. Aber andere Dinge waren mir näher. Freilich, vor ungefähr 30 Jahren, da war die Frage nach dem Weltende hochaktuell. Es war damals eine weltpolitische Frage, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Was wird geschehen, wenn tatsächlich die Russen ihre Atombomben auf uns werfen? Oder wenn die Amerikaner den Präventivschlag führen? Gibt es dann noch eine Welt? Und wenn ja, ist diese Welt dann noch lebenswert? Das waren Fragen, die mich und viele Menschen aus meiner Altersgruppe damals sehr stark beschäftigt haben. Danach ist es stiller geworden um das Ende aller Dinge, vielleicht auch weil die politische Situation anders war und sich die Freude über den Mauerfall und die neue Freiheit für die Menschen in den vormals sozialistischen Ländern mehr auf das Diesseits richtete. Aber in den letzten Jahren, vielleicht seit den Terroranschlägen von New York, da war das mögliche Ende der Welt plötzlich wieder da, es war eine drohende Gefahr, mit der man sich beschäftigte und beschäftigen musste. Die Weltuntergangsstimmung hängt auch an den Prognosen zur Klimaentwicklung, vielleicht gepaart mit der Unsicherheit der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine gewisse Krisenstimmung scheint unsere Gesellschaft, ja die ganze Welt zu lähmen und bei all den Nachrichten aus dem Nahen Osten ist das ja nur zu verständlich. Leider gibt es in der Politik, aber auch in der Gesellschaft, durchaus gefährliche Rattenfänger, Weltanschauung, Sekten und Ideologien, die von der Krise profitieren. Sie versuchen, die menschliche Angst auszunutzen und dem Menschen seine angeborene Freiheit zu rauben. Davor kann ich hier nur warnen. Seid allezeit nüchtern und wachsam.

Aber was haben wir Christen dem entgegenzusetzen? Gerade heute am Ewigkeitssonntag stehen uns die Fragen ja besonders deutlich vor Augen. Wir fragen uns: Was wird aus unseren Lieben, nun, da sie sich nicht mehr da sind. Was wird aus mir selbst, wie wird es der ganzen Welt ergehen. Der christliche Glaube gibt darauf Antworten: Wir glauben an ein ewiges Leben, an eine Wirklichkeit in Gottes ewigem Reich, daran, dass ein neuer Himmel kommt, eine Zeit ohne Leid, Krieg, Krankheit, Schmerz und Tod.

Nun kann es natürlich sein, dass es einem Christenmenschen so ergeht, wie es dem Verfasser des Petrusbriefes gegangen sein muss. Er vertraut fest auf die Zusage Gottes, dass es ein ewiges Himmelreich geben wird. Und für uns Christen ist dieses Reich ja daran gebunden, dass Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Damit hat etwas ganz neues angefangen. Seit Christi Tod und Auferstehung gibt es Hoffnung auf eine freudevolle, endzeitliche Zukunft. Wir Christen warten darauf, dass unser Herr wiederkommt, und dann wird alles in seiner ganzen Fülle war, was jetzt nur bruchstückhaft aufscheint, und worauf wir hoffen. Dem Verfasser des Petrusbriefes sind nun andere Menschen entgegen getreten, die ihn in seinem Glauben und seiner Hoffnung verunsichert haben. Die sogenannten „Spötter“. Dabei muss es sich um Christen gehandelt haben, die sich in der Welt eingerichtet haben, für die das Warten auf die Rückkehr des Herrn nicht mehr viel mehr war als ein Lippenbekenntnis. Sie lebten nach dem Motto, lasst uns das Leben genießen, wir wissen ja nicht, ob der Herr heute oder morgen oder überhaupt noch kommt. Eine solche Geisteshaltung, im Brustton der Überzeugung vorgetragen, kann verunsichern. Die Spötter – und es gab solche Denkhaltungen nicht nur damals, sie sind auch heute gar nicht selten – die hatten ein Argument, das schwer zu widerlegen war. Dieses Argument lautete ganz einfach: „Wo bleibt er denn, euer Herr. Jetzt ist er schon so lange nicht gekommen! Schöne Versprechungen sind das! Wahrscheinlich hat er sich nicht bloß verspätet, sondern er kommt überhaupt nicht mehr, und dann ist eure Hoffnung auf seine Verheißung wertlos“. Diese Denkweise hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren, im Gegenteil. Die christliche Kirche wartet nun schon seit zweitausend Jahren, und wo bleibt er denn jetzt?

Der Verfasser des Petrusbriefes findet eine ganz überraschende Antwort. Er sagt, es geht gar nicht darum, die Zeit zu wissen. Gott hat ohnedies ganz andere Maßstäbe. Für ihn sind tausend Jahre wie ein Tag, und auch das ist nicht als Zeitangabe gemeint. Bei Gott gibt es keine Zeiträume, die sich mit Uhren und Kalendern messen lässt, sondern für Gott zählt die Zeit nach ihren Inhalten. Und deshalb kommt der Auferstandene noch nicht. Seit dem ersten Osterfest ist eine neue Zeit in der Welt, nämlich die Zeit, in der die Menschen nach dem Willen Jesu leben und an ihn glauben sollen. Er möchte sozusagen nicht einen Stichtag setzen, und dann einen Strich ziehen, wer vor dem Stichtag geglaubt hat, der kommt in den Himmel, und wer nicht, der halt hat Pech gehabt. Der Verfasser versteht das Ausbleiben der Endzeit also nicht als eine Verzögerung oder gar als Vertröstung, sondern eher als eine Chance.. Gott möchte uns die Gelegenheit geben, so in der Welt zu leben, dass unser Leben Sinn hat. Wir leben also gleichsam zwischen Zeiten. Zum einen blicken wir zurück in die Zeit vor der Auferstehung. In dieser Zeit gab es noch keinen christlichen Glauben und damit konnte ja auch niemand an Christus glauben. Und wir blicken nach vorn, auf das was uns durch die Botschaft von der Auferstehung und dem ewigen Leben verheißen. Zwischen diesen beiden Polen müssen wir uns nun einrichten. Wir sollen also so in der Welt leben, als ob der Herr morgen oder womöglich sogar heute kommt, aber eben auch so, als ob es noch sehr lange dauern könnte. Unser Leben soll davon bestimmt sein, dass die Ewigkeit kommt.

Der Petrusbrief tut das mit einem Bild, das uns heute eher abstößt. Er spricht von einem Gericht, das wie ein großer Weltbrand ist, und dem niemand entfliehen kann. Dieses Bild mutet uns eher mittelalterlich an, es macht Angst. Ich würde es eher so ausdrücken: Das Wissen darum, dass die Welt und ihre Abläufe nicht ewig Bestand haben, eröffnet ungeahnte Chancen. Wir können uns frei machen in unserem Denken von der Anpassung an die sogenannten Sachzwänge. Sachzwänge sind ja meistens Dinge, die von Menschen gemacht sind, damit alles so bleibt, wie es ist. Es wäre eine sehr lohnende Aufgabe, die derzeitige Debatte um den demographischen Wandel und die Zukunft des Sozialstaates einmal auf diesen Gesichtspunkt hin durchzusehen. Christen, die um die Vergänglichkeit des Himmels und der Erde wissen, könnten ja auch fragen: Wie könnte denn ein Sozialsystem aussehen, das darum weiß, dass einmal — Zitat aus dem Predigttext! — ein neuer Himmel und eine neue Erde nach Gottes Verheißung kommen, in denen Gerechtigkeit wohnt? Aus diesem Gedanken lassen sich vielleicht Ideen entwickeln, wie Gottes Gerechtigkeit und seine Liebe zu den Menschen auch jenseits von Verteilungskämpfen spürbar wird.

Was wird, so war die Ausgangsfrage, aus mir, aus den Verstorbenen, aus der Welt. Wenn ich ehrlich bin: Beantwortet habe ich sie nicht. Das kann ich nicht, und niemand kann es. Ich kann nur auf die Verheißung Gottes verweisen. Ihr braucht keine Angst vor der Zukunft zu haben. Jesus kommt wieder, und die neue Welt wird lebenswert sein. Es wird zu Weichenstellungen und Entscheidungen kommen, aber die Richtschnur ist Gottes unbedingter Heilswillen und seine grenzenlosen Liebe. Ich habe zum Beginn gesagt, jede Krise schafft Unsicherheit, weil wir Angst haben vor dem, was die Zukunft bringen mag. Aber die Krise bietet auch Chancen. Und das, was Gott zusagt, das ist eine positive Zukunft, für uns, für die Verstorbenen und für die Welt. In diesem Sinne kann ich nur sagen: Ich krieg die Krise, ja bitte, ja Herr Jesus, komme bald. Amen.

Perikope
23.11.2014
3,3-13

Predigt zu 2. Petrus 1, 16-21 von Karsten Matthis

Predigt zu 2. Petrus 1, 16-21 von Karsten Matthis
1,16-21

Liebe Gemeinde,

der US-amerikanische Arzt und ehemals führende Alternsforscher, Robert Neil Butler, gab vor gut vier Jahrzehnten einen nachhaltigen Impuls mit seiner Idee einer Lebensrückschau (life review). Nicht nur seine zahlreichen Patienten, sondern sowohl amerikanische Ärzte als auch Psychologen nahmen diesen Impuls weltweit auf.

Unter life review versteht Butler, die eigene Biographie in einen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang zu setzen. Die Erfahrungen mit Butlers Methode zeigen: Das positive Verarbeiten der eigenen Lebensgeschichte schlägt Brücken eines heilsamen Erinnerns und versöhnt Menschen mit sich selbst. Es ging Butler um keine Lebensbeichte, sondern um eine heilsame Rückerinnerung.

Butlers Impulse fanden in Deutschland auch in der Erwachsenenbildung in der Arbeit mit älteren Menschen Eingang. Sogenannte Biographie-Werkstätten sind  an bundesdeutschen Akademien und Heimvolkshochschulen populär und erfreuen sich bereits seit Jahren einem regen Zuspruch.

Unter Anleitung von Pädagogen und Psychologen erhalten Menschen eine Inspiration, wie sie ihre Lebensgeschichte aufschreiben können. Vielfach werden die Biographiearbeiten mit  Schreibwerkstätten verknüpft, die historische Ereignisse aus eigenem Erleben in Beziehung setzen.

So wird in einer Biographiearbeit an den Mauerfall am 09. November 1989 erinnert: Durch eine ungeschickte Erklärung des SED-Parteifunktionärs, Günter Schabowski, im Rahmen einer Pressekonferenz wurde die Mauer über Nacht durchlässig. Wenige Monate später brach sie ganz in sich zusammen.

Liebe Gemeinde, wo haben Sie den 09. November 1989 verfolgt? Wo haben Sie gelebt und gearbeitet?

Schnell stellen sich persönliche Erinnerungen ein. Im November 1989 hatte ich die ersten Monate in meinem Berufsleben bei Bonn hinter mich gebracht, wohnte zur Untermiete und sah mit meiner damaligen Vermieterin die Fernsehbilder jubelnder Menschen, die von Ost- nach West Berlin strömten und ihr Glück kaum fassen konnten, dass sie wie durch ein Wunder die Grenzen zwischen den beiden Deutschlands so leicht passierten. Schon in den Abendstunden dieses 09. Novembers zeichnete sich ab, dass die Grenzen zwischen Ost und West künftig nicht mehr unüberwindbar waren, sondern zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört. Der Tag des Mauerfalls sollte viele Biographien in Ost und West wenden und neue Perspektiven eröffnen.

Liebe Gemeinde, solche Erinnerungen aufzuarbeiten, ist  wie  nachträgliches Tagebuch schreiben. Jene Biographie-Werkstätten regen an, erlebte Geschichte aus individueller Sicht niederzuschreiben und mit persönlichem Erleben zu verknüpfen.

Nicht jede und nicht jeder ist so begabt, alles Erlebte so flüssig und schriftstellerisch gekonnt niederzuschreiben. Dies will trainiert und eingeübt sein. Letztendlich kommt es darauf gar nicht an, vielmehr geht es darum, sich an Erlebtes zu erinnern und Ereignisse aus der Vergangenheit wieder zurück zu holen. Persönliche Erlebnisse zu verarbeiten, indem Brüche und Scheitern, aber auch Erfolge und Glücksmomente in einen rechten Einklang gesetzt werden.

Haben Sie, liebe Gemeinde, selbst einmal Tagebuch geführt oder führen Sie regelmäßig ein Erlebnisbuch?

Alle diese persönliche Aufzeichnungen haben eins gemeinsam: Sie sind grundehrlich. In ihnen stehen nur ungeschminkte Wahrheiten über Freude und Leid, über Hoffnungen und Enttäuschungen, über Dunkles und Helles in unseren Leben. In Tagebüchern oder in den beschriebenen Biographie-Werkstätten finden sich, um mit dem uns unbekannten Autor des 2. Petrusbriefes zu sprechen, keine „ausgeklügelten Fabeln“, eben keine kunstvollen Geschichten in denen Tiere wie Menschen handeln und moralische Belehrungen erteilen. In den Zeugnissen früher Christen finden sich wenig Spott über die Mächtigen der Zeit oder Klage über den maroden Zustand der Gesellschaft, sondern vielmehr die ersten Glaubenserfahrungen der Gemeinden wurden niedergeschrieben. Da findet sich Zuversicht auf die Auferstehung wie auch Trauer über die sich verzögernde Wiederkehr  des Herrn.

Das Neue Testament präsentiert keine ausgedachten Fabeln und Anekdoten,   sondern die Schriften enthüllen statt zu verhüllen. Die Geheimnisse Gottes werden Stück für Stück entschlüsselt. Warum der Sohn Gottes auf die Welt als kleines, hilfloses Kind kam und sich auf die Menschen einließ, wird den Hörern und Lesern offenbart.

Gott schreibt die Biographie seines Sohnes: Er bekennt sich zu Jesus von Nazareth als seinem lieben Sohn. Dies erfährt die Christenheit bei Taufe Jesu und auf dem Berg der Verklärung.

Der unbekannte Autor des 2. Petrusbriefes, der sich auf die Autorität des Apostels Petrus beruft, hat zu seiner Zeit, das noch junge Christentum verteidigen. Jesus ist kein Mythos, keine Sagengestalt, sondern aus Fleisch und Blut. Jesus bewirkte Wunder, aber brauchte diese nicht für seine gute Botschaft. Diese Wunder sind allein Beiwerk, der Glaube beruht darauf, dass der Morgenstern der Hoffnung über allen Menschen aufgegangen ist.

Keine ausgedachten Geschichten zur allgemeinen Erbauung machen das Evangelium aus. Nicht nur ein paar aneinandergereihte kluge Gedanken zur Mitmenschlichkeit prägen die frohe Botschaft. Nicht eine jeweils neue attraktive Philosophie für die Menschen in der Antike und Neuzeit steckt hinter dem Christentum, sondern es geht um eine neue Beziehung zwischen Gott und Menschen und wiederum zwischen ihnen.  Der Eckstein für dieses neue Fundament, wie wir leben und hoffen können, ist Christus, der unsere Gemeinschaft trägt.

Diese wachsende religiöse Gemeinschaft im Altertum und heute vielfältig in aller Welt vertreten, namens Ekklesia, ist keine Gruppe besonders lebenskluger und tüchtiger Menschen, die sich von anderen abheben möchte, sondern dahinter steckt ein anderer Geist, den die Gläubigen den Heiligen nennen. Es ist der Geist der Liebe, Versöhnung und Hoffnung auf neue Erde und einen neuen Himmel.

Liebe Gemeinde, der nicht genannte Autor dieses wohl jüngsten Briefes des Neuen Testaments schöpft seine Glaubenszuversicht aus Überlieferungen von Augenzeugen. Eine Autorität ist Simon Petrus der Fels, der auf dem Berg der Verklärung Augenzeuge war, der Jesus und seine Verhaftung im Garten Gethsemane nicht verhindern konnte und Jesus am Kreuz sterben sah. Und es ist wiederum Petrus, der dem Auferstandenen begegnet und von ihm angesprochen wird.

Christlicher Glaube stützt sich auf Berichte sowohl von Zeugen als auch auf das prophetische Wort. Die Weissagungen aus den Texten der alten Propheten führen zum Leben Jesu hin und sagen seine Ankunft voraus.

Sicherlich  hat der Schreiber des 2. Petrusbriefes als Propheten über Jesaja, Jeremia und Micha hinaus den Apostel Paulus im Blick, der mit seiner ganz eigenen Sprache und Bildern den auferstandenen Christus predigte, der als helles Licht in die Welt kam. Propheten und Apostel haben ihre Geschichten und ihre Erlebnisse und Erfahren mit Gott, Christus und dem heiligen Geist erzählt. Für die frühen Christen und alle christlichen Gemeinden heute sind diese Glaubenszeugen Autoritäten geworden, an denen sich Gemeinden orientieren können. Sie sind Vorbilder, die im Namen Gottes geredet haben, wie uns der Autor im 2. Petrusbrief versichert.

Liebe Gemeinde, dies sind erst  zwei wichtige Haltepunkte im Glauben, von denen uns der Autor des 2. Petrusbriefes schreibt. Aber er nennt noch einen weiteren wichtigen Punkt, den er nur andeutet. Der Schreiber schöpft aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen im Glauben, der sich in ihm trotz Anfeindungen von außen und Widersprüchen in den eigenen Gemeinden gefestigt hat.

Alle Christenmenschen haben vielfältige Erfahrungen im Glauben. Jeder von uns könnte seine persönliche Glaubensbiographie verfassen. Wir leben unseren Glauben durch Hoffnungen und Visionen, die wir in uns tragen. Eigenes Erleben führt uns zum Glauben und lässt ihn wachsen. Nicht immer sind es spektakuläre Bekehrungserlebnisse wie ein legendärer Blitzschlag  bei Stotternheim nahe Erfurt, der Luther um sein Leben fürchten ließ und ihn motivierte ins Kloster zu gehen. Es widerfährt nicht jeder, wie Mutter Theresa, über die Worte Christi „mich dürstet“ auf den bedingungslosen Weg der Nächstenliebe geführt zu werden.

Biographiearbeit, von der ich ihnen am Anfang erzählte, kann sich auch auf die Stationen im Glauben beziehen, die wir in unserem Leben über Jahrzehnte mit anderen zurückgelegt haben.

Wie hat sich, liebe Gemeinde, Ihr Glaube entwickelt? Vielleicht hat Ihre Mutter mit ihnen gebetet. Für den einen anderen ist eine frühe Begegnung mit einer biblischen Geschichte im Kindergottesdienst besonders wichtig geworden. Wiederum denkt eine andere gerne  an ihren Religionsunterricht zurück, der entscheidende Weichen stellte.

Unsere Glaubensbiographien  sind ein Stück von uns selbst und alle Mal wert aufgeschrieben zu werden. Sie sind von jeweiligen Erfahrungen und Hoffnungen an den Stationen des Lebens bestimmt. Wir wissen um die vielen Erlebnisse unserer Beziehung zu Gott, die sich zwischen Gewissheit und Zweifel für viele immer wieder ereignen. Unser Glaube pendelt oft zwischen suchen und gefunden haben, von Aufbrüchen zu neuen Erfahrungen im Glauben und wiederum zurück zur Tradition. In diesem Spannungsfeld bewegt sich menschlicher Glaube.

Unsere Glaubensbiographien sind unser bleibender Schatz. Gott erwartet nicht von uns, dass diese nur Erfolgsgeschichten sind, wenn man überhaupt von Erfolgen im Glauben sprechen kann, sondern für den einen sind diese Erinnerungen eine Vergewisserung und für den anderen ein Wiedergewinn von Glaubensstärke.

Liebe Gemeinde, heute am letzten Sonntag nach Epiphanias erinnert uns das helle Licht, der Morgenstern,  noch einmal an Weihnachten 2013. Für viele  war es erneut ein Fest, an dem man sich seines Glaubens gerne und dankbar erinnerte. Für  andere, die am Rande der Kirche stehen, kann es ein Fest gewesen sein, welches Sehnsucht nach Glauben wiedergeweckt hat.

Das weihnachtliche Licht  berührt Menschen, weil sie die Wärme und Kraft des Morgensternes spüren. Dieses Licht leuchtet selbst dann, wenn jener Morgenstern uns aus dem Blick zu geraten scheint, weil wir nach ganz andrem Ausschau halten.

Das Licht zu Weihnachten scheint immer wieder im Kirchenjahr hell auf, wenn wir uns an den Lebensweg des Kindes in der Krippe erinnern. Der Morgenstern  führt uns weiter im Kirchenjahr bis zum Ostermorgen. Immer weiter auf dem Weg unsere Biographien  im Glauben, auf dem Weg mit unserem Gott. Amen.

Perikope
09.02.2014
1,16-21

Stille Post und die Kette des Glaubens - Predigt zu 2. Petrus 1,16-21 von Wolfgang Vögele

Stille Post und die Kette des Glaubens - Predigt zu 2. Petrus 1,16-21 von Wolfgang Vögele
1,16-21

Stille Post und die Kette des Glaubens

Der Predigttext für den ersten Sonntag nach Epiphanias steht in 2Petr 1,16-21: „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge. Um so fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.“

Liebe Gemeinde,

Stille Post heißt ein schönes altes Kinderspiel, gut geeignet für die Geburtstage der Fünf- bis Neunjährigen. Möglichst viele Kinder setzen sich in einem Kreis eng nebeneinander. Das erste Kind denkt sich einen lustigen Satz aus: Die Kuh flog in hohem Bogen über die Weide. Sehr lustig! Diesen Satz flüstert das Kind, meistens schon kichernd, dem Nachbarn ins Ohr. Das Nachbarkind flüstert wiederum seinem Nachbarn weiter, was es von diesem ersten Satz verstanden hat. Unablässiges Kichern überall. Nach acht Einflüsterungen und acht leichten Veränderungen des ursprünglichen Satzes ist die Reihe am Ende. Das letzte Kind sagt laut, was es verstanden hat: Der Elefant trinkt Wasser mit dem Rüssel. Das Kichern wächst sich zum großen Gelächter aus, wenn das erste Kind dann den ursprünglichen Satz wiederholt. Von der Kuh zum Elefanten, von der Weide zum Rüssel. Die Kinder beschließen: Das war so schön, das spielen wir sofort noch einmal.

Kinder können über dieses Spiel Tränen lachen. Erwachsene können ihm eine kleine Dosis Psychologie entnehmen: Denn die stille Post bestimmt auch die Lebensgeschichte von Menschen. Jeder Mensch lebt aus Erbe und Erinnerungen. Er bekommt von seinen Eltern ein Erbe mit, das er in seinem eigenen Leben erinnern, wiederholen, durcharbeiten muss. Diese Mitgift aus dem Elternhaus trägt jeder in sich, bewusst oder unbewusst.  Und Eltern vererben ihren Kindern eine ganze Menge, genetisch, psychologisch, philosophisch, finanziell: Einfamilienhäuser oder Anteile an Aktienfonds; Schuldverschreibungen oder Lebensweisheiten; große, kleine, schmale, breite Nasen und blaue, grüne, braune Augen; Lebensfragen und Lebensgewißheiten; gute und schlechte Angewohnheiten und nicht zuletzt auch einen Glauben, religiöse Orientierungen und Überzeugungen.

Lassen wir finanzielle und biologische Aspekte der Sache beiseite und konzentrieren wir uns auf die Psychologie: Kinder übernehmen von ihren Eltern, aber auch von Großvätern und -müttern, Tanten und Onkeln eine Familiengeschichte, die prägend tief in die Seele hineinreicht.

Das kleine Baby steht vor vollendeten Tatsachen: Es wird sich stets diejenigen zum Vorbild nehmen, die es als erste kennen lernt. Vater und Mutter als erste Bezugspersonen prägen das kleine Kind von Anfang an. Je älter Kinder werden, desto mehr lernen sie bewusst von ihren Eltern, und irgendwann, meist im Alter zwischen elf und dreizehn, fangen sie an, sich abzusetzen und selbständig zu werden. Das meiste, was lernwillige kleine Kinder psychologisch prägt, übernehmen sie bewusst und unbewusst von Vater und Mutter. Je älter es wird, desto selbständiger verhält sich ein Kind zu seinem Erbe in Zustimmung und Ablehnung, in Vertrauen und Abneigung. Neben dem offensichtlichen und offenbaren Erbe nimmt das Kind auch die unbewussten, die nicht ausgesprochenen Botschaften der Eltern und Verwandten wahr. Je widersprüchlicher diese Botschaften sich darstellen, desto mehr muss es sich als erwachsener Mensch damit auseinandersetzen.

Das Kind empfängt psychologisch eine stille Post. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun hat für diesen psychologischen Prozeß denselben Ausdruck gebraucht wie für das Kinderspiel. Das, was die Sender, die Eltern, an unbewussten Botschaften weitergeben, muss nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was die Empfänger, die Kinder aus solchen Botschaften empfangen. Es bestehen Unterschiede zwischen gesendeten und empfangenen Botschaften, und das ist manchmal für die Kinder beschwerlich und mühsam.

Nun will ich Sie, liebe Gemeinde, nicht dazu verführen, über die Botschaften Ihrer Eltern nachzudenken, die Sie als stille Post empfangen haben. Aber der Verfasser des 1.Petrusbriefes und auch wir heute stellen eine entscheidende Frage: Wie geben wir Christenmenschen das weiter, was wir Glauben nennen? Was geben wir unbewusst weiter und was geben wir öffentlich und mit Anerkennung und Respekt weiter? Wird der Glaube beim Weitergeben verfälscht? Wird er verfälscht, indem wir uns von den Ursprüngen des Glaubens entfernen? Wird er verfälscht, indem wir in den biblischen Glauben das eintragen, was unserer eigenen Überzeugung entspricht?

Der Briefeschreiber, den die alte Kirche Petrus genannt hat, scheint genau das zu befürchten. Wortgewaltig wehrt er sich dagegen, dass die Christen seiner Zeit „ausgeklügelten Fabeln“ folgen. Zu seiner Verteidigung beruft er sich darauf, dass er den Prediger aus Nazareth persönlich kennengelernt hat. Er ist ein unmittelbarer Augenzeuge des Heilsgeschehens.  Er war ein Zeuge.

Der Zeuge in einem Gerichtsprozess berichtet in der Regel von einem vergangenen Ereignis.  Weil von Zeugenaussagen Gerichtsurteile abhängen, haben die Gesetzgeber nicht in erst in neuer Zeit eine ganze Reihe von Regeln dafür aufgestellt: Um eine folgenlose Falschaussage zu verhindern, kann ein Zeuge vereidigt werden. Wer dann trotzdem vor Gericht eine falsche Aussage macht, wird wegen Meineids bestraft.

In den ersten Jahrhunderten breitete sich das Christentum schnell über den gesamten Mittelmeerraum aus. Die christlichen Gemeinden, die sich in den größeren Städten gründeten, stellten sich die Frage: Was gehört zu den unverzichtbaren Gehalten? Und was ist Beiwerk, das ist nicht unbedingt notwendig ist? Was widerspricht womöglich dem, was Jesus von Nazareth und die ihm nachfolgenden Apostel verkündigt haben? Darum schrieben Paulus, Petrus und Jakobus Briefe an die Gemeinden, die sie gegründet hatten. Sie wollten Streitfragen klären, Konflikte schlichten und den Glauben bekräftigen. Sie wollten das stark machen, was Glaube, Liebe und Hoffnung auf den Weg brachte. In einer Zeit ohne Internet und Email, ohne Chat und SMS waren diejenigen glaubwürdig, die mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört hatten, was Jesus geredet und wie er gehandelt hatte. Im Gegensatz zu unserer modernen Gesellschaft waren damals Nachrichten nicht im Überfluss vorhanden, sondern eine begehrte Mangelware.

Glaubwürdig ist, wer den Heiland mit eigenen Augen gesehen hat und von ihm erzählen kann. Er gewinnt eine besondere Autorität.  Glaube lebt nicht nur von Erinnerung und Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart, von einer glaubwürdigen und respektgebietenden Haltung und Einstellung, von einer Frömmigkeit.

Es genügte für die ersten Christen in den Hafenstädten am Mittelmeer nicht, sich auf die ersten Zeugen zu berufen, auf diejenigen, die von Anfang an in der christlichen Bewegung mitgetan hatten. Glaube und Vertrauen an Gott werden in der jeweiligen Gegenwart Wirklichkeit. Glaube geht nicht auf in Geschichten, die wir einfach aus der Vergangenheit übernehmen. Glaube ist mehr als ein schwieriges Erbe und erst recht mehr als die Botschaft einer stillen Post. Richtig ist: Glaube lebt aus der Vergangenheit, aber er zielt auf Gegenwart und Zukunft.

Darin gleichen sich diejenigen, die heute versuchen, als Christen zu leben, mit denjenigen, die in der Zeit des 1.Petrusbriefes um den rechten Glauben stritten. Wir haben diese Möglichkeit nicht mehr, die ersten Zeugen zu befragen. Wir können nur noch die Briefe, Evangelien und andere Texte lesen und immer wieder neu deuten. Darin kehren wir immer wieder in die Ursprungszeit des Glaubens, in die ersten Jahrhunderte nach Christus zurück.

Um der Deutung der Bibel willen steht die Predigt in der Mitte des evangelischen Gottesdienstes. Wir alle sind darauf verwiesen, diejenigen Geschichten und Predigten zu hören und Briefe und Evangelien zu lesen, die die ersten Christen in den Jahrzehnten nach Jesu Kreuzigung verfasst haben. Wir alle empfangen den Glauben als Erbe von denjenigen, die uns in diesem Glauben vorangegangen sind. Wir sind angewiesen auf Botschaften und Zeugnisse derer, die Jahrhunderte vor uns dem biblischen Gott vertraut haben.

Niemand wird sich gern die Aufgabe wegnehmen lassen, für sich selbst herauszufinden, was er an christlichen Überzeugungen nachvollziehen, beten, handeln und leben kann. Darin ist er nur seinem Gewissen verantwortlich. Und genauso kann jeder wissen, dass er mit seinen persönlichen Überzeugungen in einer langen historischen Kette des Glaubens steht. Das ist die Kette der Weitergabe des Glaubens, die Kette des christlichen Erbes.

Wir lernen glauben von unseren Vätern und Müttern. Selbst wenn das nicht die leiblichen Väter und Mütter sind, so treten andere stellvertretend ein, um dieses Erbe des Glaubens weiterzugeben. Deswegen richtet sich große Aufmerksamkeit auf Kindergärten, in denen biblische Geschichten erzählt werden, auf Kindergottesdienst, in denen die Botschaft des Evangeliums kindgerecht weitergesagt wird, und auf den Konfirmanden- und Religionsunterricht. Denn alle diese Einrichtungen haben die Aufgabe, Kinder und Jugendliche von Glauben und Vertrauen zu überzeugen, liebevoll und sanft die Botschaft des Jesus von Nazareth – im wahren Sinn des Wortes – glaubwürdig, dem jeweiligen Alter angemessen weiterzugeben, nicht aber stur auswendig lernen zu lassen oder Bekenntnisse einzubimsen.

Damit solches liebevolle Lernen, das Vertrauen und Glauben schafft, Gestalt gewinnen kann, braucht es Menschen, die zu Zeugen des Glaubens werden, Menschen, die das christliche Erbe nicht im Sinn einer stillen Post weitergeben, sondern die eigene Geschichte des Glaubens mit allen Höhen und Tiefen offenlegen. Sie legen sie offen, weil der Glaube an Gott nichts zu verbergen hat. Wir alle haben die Aufgabe, den Glauben in der Gegenwart zu verantworten und dabei das Erbe derer aufzunehmen, die uns vorangegangen sind. Das geschieht in aller Vorläufigkeit und Offenheit.

Dazu gibt der Predigttext aus dem 1.Petrusbrief am Ende einige wichtige Hinweise: Mit Hilfe des prophetischen Wortes, so sagt es der Briefschreiber, soll der „Morgenstern“ in unseren Herzen aufgehen. Was ist damit gemeint? Im Glaube, in der christlichen Überzeugung, die uns prägt, kommen ganz unterschiedliche Elemente zusammen. Jeder bezeichnet das als seinen Glauben, was er vor sich selbst und seinem Gewissen verantworten kann. Er braucht dazu keine andere Richtschnur als die Bibel. Aber das zeigt schon: Glauben und Vertrauen leben auch von dem, was von unseren Vätern und Müttern an Glauben und Vertrauen übernommen haben. Und dazu zählen zuallererst die Briefe und Geschichten, welche die ersten Christen verfasst haben und die im Neuen Testament gesammelt sind. Und schließlich, so sagt es der Briefschreiber, gehört dazu die Hilfe des Heiligen Geistes. Glaube ist weder ausschließlich das Ergebnis eigener (Denk-)Arbeit noch die Übernahme dessen, was Väter und Mütter uns mitgegeben habe. Nein, Glaube ist daneben auch Geschenk, eine Gabe des Heiligen Geistes. Er wirkt in denen, die diese Botschaft des Evangeliums weitertragen wollen. Diese Botschaft besteht nicht in einer Sammlung von Regeln. Sie ist keine Moral. Sie besteht auch nicht in einer Sammlung von anrührenden Geschichten aus der Vergangenheit. Sie ist kein historischer Roman. Sie besteht in ihrem Kern in einer Person und in einem Namen: Jesus von Nazareth. Der Heilige Geist hilft uns, dass dieser Jesus von Nazareth in uns lebendig wird.

Er ist der Morgenstern, dem wir in Glauben und Vertrauen nachfolgen.

 

Perikope
09.02.2014
1,16-21