Flattervogel auf Crashkurs oder Gefangenschaftsflüchtling mit Lufthoheit
Was haben Waschbären, Mustangs und Mandarinenten mit Gott gemeinsam? Sie sind allesamt Gefangenschaftsflüchtlinge. Ein Gefangenschaftsflüchtling ist ein Exemplar einer gebietsfremden Tierart. Dieses Tier ist aus menschlicher Obhut geflüchtet, oder wurde ausgesetzt. Und es kann frei lebend beobachtet werden.
Mustangs sind keine Wildpferde. Sie bilden die Nachkommen verschiedener Hausrassen, welche zuerst die spanischen Konquistadoren in die Neue Welt einführten. Das waren zumeist Araber und die in Spanien zu dieser Zeit heimischen Hauspferderassen - später auch die Pferde anderer europäischer Einwanderer. Viele dieser Tiere entkamen als Gefangenschaftsflüchtlinge, verwilderten und vermehrten sich hin zu einer stabilen Bevölkerung.
Manchmal gelingt es Gefangenschaftsflüchtlingen über längere Zeit in der freien Natur zu überleben und sich dabei fortzupflanzen. Schaffen dies die Tiere über mindestens drei Generationen hinweg, so spricht man von Neozoen. Ähnlich wie bei Pflanzen, deren Verbreitung sich durch Zutun des Menschen verändert hat, wie z.B. Mais, können Gefangenschaftsflüchtlinge die Artenvielfalt eines Lebensraums verändern. Wenn sie die Artenvielfalt eines Raumes gefährden, dann nennt man sie invasive Gefangenschaftsflüchtlinge. Erweitern sie die Artenvielfalt, dann heißt man sie nicht-invasiv.
Gott ist ein invasiver Gefangenschaftsflüchtling! Gott ist gefangen in der Blindheit seiner Geschöpfe, im Irrtum seines Volkes. Gott? Ein Gefangener? Ein Gefangener seiner eigenen wenn auch vornehmsten Geschöpfe?
Die Menschen merken ja nicht, dass wir entgegen den Gesetzen Gottes ihr Leben am Laufen halten. Das drückt unser Predigtext bildreich aus. Die Menschen ahnen noch nicht einmal, dass ihr Lebenswandel Gottes Willen und Wirken zuwider läuft. Sie halten sich sogar für fromm und Gott zu Diensten (V. 5b).
Und der scheint keine Chance zu haben, sie zu erreichen, sie auf ihr Verfehlen aufmerksam zu machen, ihnen ihre wirkliche Lage vor Gott einsichtig zu machen. Was ja noch längst nicht heißt, dass sie bereuen und sich ändern. Den Menschen scheint es gelungen, Gott aus ihrem Leben und Weben zu verbannen und wegzusperren. Insofern ist Gott als ein Gefangener zu verstehen.
Gut, dass Gott ein Gefangenschaftsflüchtling ist. Wie sollte es sich auch anders verhalten. Hat er doch Israel aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt. Seinen Sohn aus dem Verlies des Todes befreit. Wie sollte der, welcher andere befreit hat und noch befreit - wie sollte der sich selbst nicht befreien können? Gott ist ein echter Gefangenschaftsflüchtling.
Und nicht nur das. Gott ist ein invasiver Gefangenschaftsflüchtling. Gott ist sich nicht selbst genug, sondern er geht hilfreich zur Hand und in den Kopf. Ein invasiver Gefangenschaftsflüchtling, das habe ich vorhin gesagt, der verändert die Artenvielfalt. Und mit der Artenvielfalt den Lebensraum derer, denen er sich zuwendet. Denn er lebt über Generationen hinweg.
So erzählen es Israel und die christlichen Heiden von Alters her: Gott greift ein und verändert die sündige Welt. Und damit auch die Menschen. Aus Ahnungslosen werden nur mehr Fromme, aus Irrenden nur mehr Wahrhaftige, aus Gierigen nur mehr Gerechte, aus reulosen Heuchlern nur mehr reuige Sünder, aus Bösen nur mehr Gute. Diesen Wandel erschafft der Gott im Himmel, dank seiner hoheitlichen Gnade und Vergebung.
In Wahrheit verhält es sich ja so, dass wir die Gefangenen sind. Wir finden aus unserem begrenzten Leben nicht heraus. Und gleich Gott flüchten wir in unsere Hoheit. Aber der vor uns liegende ferne Fluchtpunkt ist ein gewaltiger Crash. Wie kann man so etwas sagen?
»Wir sind Lügner und Betrüger, durch und durch« So bilanziert ein Biologe namens Trivers schonungslos menschliches Verhalten. (Ich folge hier mehr oder weniger dem Artikel von Ulrich Schnabel in der ZEIT 2011/50: Wie man sich selbst auf den Leim geht) Seine Bilanz ist unterfüttert mit zahlreichen Belegen und Studien. Dabei betrachtet er die Welt mit einem Blick, der fragt: Warum hat sich dieses oder jenes Verhalten durchgesetzt? Welchen Nutzen bringt es im Licht der Auswahlvorgänge?
Aus dieser Sicht ist zunächst festzuhalten: Überall in der Natur wird getrickst und getäuscht, der Betrug und dessen Aufdeckung zählen zu den wichtigsten Waffen im Kampf ums Weiterleben. Das beginnt schon auf der Ebene der Viren. Der HIV-Erreger etwa überlistet das menschliche Immunsystem, indem er ständig seine Oberflächenstruktur ändert. Auch für viele Tiere ist eine gute Tarnung – Winterfell, abschreckend »giftige« Färbung, Anpassung und Nachahmung – lebenswichtig.
Der Mensch hat schließlich die Kunst der Täuschung in besonderem Maße entwickelt. Die Fakten sprechen für sich: Im Alter von sechs Monaten lernen Kinder, sich durch vorgetäuschtes Weinen Vorteile zu verschaffen. Mit zwei Jahren können sie so tun, als ob ihnen angedrohte Strafen keine Angst machten – auch wenn das Gegenteil der Fall ist. Zwei Drittel aller Zweieinhalbjährigen zeigen in Studien häufig ein entsprechendes Täuschungsverhalten – stets mit dem Ziel, sich einen Vorteil zu verschaffen.
Brisant dabei ist, dass die Fähigkeit zu lügen mit der Intelligenz zusammen hängt. Je heller der Kopf, umso kreativer ist er beim Formulieren von Ausreden.
Dies haben Forscher getestet: Sie ließen Kinder in einem Raum allein und forderten sie auf, nicht in eine dort stehende Schachtel zu schauen. Natürlich konnten die meisten der Versuchung nicht widerstehen. Wurden die Kinder später gefragt, ob sie gegen die Anweisung verstoßen haben, zeigte sich: Je besser sie zuvor in Intelligenztests abgeschnitten haben, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr wahres Verhalten geschickt vertuschten.
Hohe Intelligenz geht also nicht zwangsläufig mit besonders untadeligem Verhalten einher, im Gegenteil. »Wer auf seine intellektuellen Fähigkeiten stolz ist, sollte sich fragen, ob er öfter andere und dann auch sich selbst täuscht«, kommentiert Trivers. »Er hat jedenfalls das Zeug dazu, dies besonders gut zu können.«
Jede besondere Fähigkeit aber provoziert in der Natur eine Abwehrstrategie. Deshalb sind wir alle Experten darin, die Täuschungsabsichten anderer zu erkennen. Wir registrieren, ob unser Gegenüber Zeichen von Unsicherheit oder innerer Anspannung zeigt, ob seine Stimme höher wird, ob er unserem Blick ausweicht oder aus Nervosität Übersprungshandlungen begeht.
Auch die Sprache ist verräterisch: Beim Vertuschen vermeiden Menschen gern Pronomen wie »ich« oder »mir« und bevorzugen stattdessen unpersönliche Umschreibungen (»Die Firma geriet in Schwierigkeiten«, sagt dann der
Chef, der sonst für jeden Erfolg persönlich verantwortlich ist). Auch der so genannte Freudsche Versprecher kann darunter fallen.
Natürlich versuchen wir Menschen, verräterische Signale zu unterdrücken. Das allerdings erfordert dauernde Willensanstrengung. Und stets besteht die Gefahr, sich in schwachen Momenten doch zu verplappern. Deshalb hat das menschliche Gehirn im Laufe seiner Entwicklung einen genialen Ausweg aus dieser Zwickmühle gefunden:
Es verdrängt die Wahrheit ins Unterbewusstsein. Und überzeugt sich damit selbst davon, dass die Lüge der Realität entspricht. Auf diese Weise kann ein Lügner entspannt und glaubhaft hanebüchenen Unsinn vertreten, ohne sich mit der Selbstwidersprüchlichkeit herumschlagen zu müssen:
»Täuschung führt zur Selbsttäuschung, um die Täuschung zu perfektionieren«.
Vielleicht wenden sie ein: Das geht nicht ohne Risiko. Und sie haben Recht: Wer allzu verbissen die Realität verleugnet, wird am Ende leicht Opfer des eigenen Wahns. In Maßen aber scheint das Verschönern des eigenen Selbstbilds eher hilfreich. So überschätzen viele auf Partnersuche das Interesse, das ihnen fremde Menschen entgegenbringen. Da diese Selbsttäuschung sie aber zu mehr Annäherungsversuchen motiviert, erhöht sich die Chance, am Ende tatsächlich einen gleich interessierten Partner zu finden.
Vor allem bei Menschen, die nach Macht streben, ist dieser Mechanismus aktiv. Wer sich selbst als tollen Hecht wahrnimmt, wird leichter von anderen für einen solchen gehalten. Zudem verschafft die Selbsttäuschung das nötige Selbstvertrauen, dem Gegendruck standzuhalten, in Machtposition unabdingbar.
Deshalb, so Trivers, hat der Mensch im Laufe der biologischen Entwicklung Mechanismen entwickelt, die ebendiese Selbstüberschätzung befördern. Studien zeigen, dass wir unbewusst Informationen bevorzugen, die unsere vorgefasste Meinung bestätigen. Widersprüchliches wird geflissentlich verdrängt. Vielleicht gilt das ja auch für diese Predigt.
Als Psychologen etwa Befürworter und Gegner der Todesstrafe mit verschiedenen Fakten (pro und contra Todesstrafe) konfrontierten, hatten sich am Ende die Positionen nicht angenähert, sondern noch weiter voneinander entfernt. Jede Seite hatte vor allem jene Fakten zur Kenntnis genommen, die ins eigene Weltbild passten.
Auf ähnliche Weise schönen wir unsere Erinnerungen: Unliebsame Ereignisse, die am Selbstbild kratzen, werden verdrängt oder vom Gehirn automatisch weiter zurückdatiert (»Jugendsünden«), positive Erinnerungen dagegen gepflegt. Der Prozess des Erinnerns entspricht eben nicht dem Abrufen einer gespeicherten Computerdatei, sondern eher dem Erzählen einer alten Mär, die immer wieder an die Gegenwart angepasst wird.
Insofern ist die Feier des Volkstrauertags ein echter Zugewinn in Sachen Selbsterkenntnis und Realitätswahrnehmung! Wie das überhaupt für die evangelische Einsicht gilt, Sünder und Gerechter zugleich zu sein! Auch wenn das einem zuweilen schwer zu schaffen macht. Zurück zur Erinnerung.
Wer sich etwa einredet, in seiner Doktorarbeit nicht getäuscht zu haben, speichert irgendwann dies als Erinnerung ab. Fatalerweise verstärken sich solche unbewussten Selbsttäuschungsprozesse massiv, wenn wir in Machtpositionen geraten. »Macht korrumpiert unsere mentalen Prozesse beinahe sofort«, diagnostiziert Trivers und zitiert eine Reihe von Experimenten, die das zeigen.
Werden Menschen befördert und mit mehr Macht versehen, dann reagieren sie so: Sie achten weniger auf ihre Umgebung und sind stärker überzeugt von der eigenen Position. Damit einher geht zweierlei: die Neigung, sich moralisch überlegen zu fühlen (»sonst wäre man ja wohl kaum an der Macht«) und das Verhalten anderer verstärkt abwertend zu beurteilen. Dass das nicht nur zu Bank- und Börsencrashs führt, sondern zu Zusammenbrüchen in allerlei Lebensbereichen, das ist offensichtlich. Ungerechte Gewalt beginnt mit Täuschung und Selbstbetrug. Da muss es oft gar nicht mehr zu einem Ausbruch körperlicher Gewalt kommen.
Niemand ist vor Selbstbetrug gefeit. Diese Einsicht kann uns schützen, wenn sie uns um Gnade und Vergebung bitten lässt. Auf dass wir unter altem Recht neu miteinander leben können. Auf dass sich aus erkanntem Unrecht neues Recht entwickelt, das ein neues Zusammenleben eröffnet.
Dank der hoheitlichen Gnade und Vergebung Gottes im Himmel, der unseren Selbstbetrug durchbricht. Und Ahnungslose zu nur mehr Frommen, Irrende zu nur mehr Wahrhaftigen, Gierige zu nur mehr Gerechten, und reulose Heuchler zu nur mehr reuigen Sündern wandelt. Amen.