„Die große Freiheit“ – Das ist nicht nur der Name einer berühmten Straße auf St. Pauli in Hamburg: Es ist vielmehr ein Versprechen!
Dem steht dann aber wiederum als Abgesang der Freiheit der Liedvers gegenüber, den Marius Müller-Westernhagen in den 80er Jahren sang und darin beschwor:
„Freiheit, Freiheit,
Wurde wieder abbestellt.
Alle, die von Freiheit traeumen,
Sollen's Feiern nicht versaeumen,
sollen tanzen auch auf Graebern.
Freiheit, Freiheit,
Ist das einzige, was zaehlt.“
Freiheit – ein verletzliches Gut! Wie verletzlich Freiheit ist, konnte ich im Herbst diesen Jahres erahnen, als ich an der Grenze vom palästinensischen Westjordan Gebiet aus – der Stadt Bethlehem – eher rüde und ruppig von der israelischen Grenzkontrolle bei der Einreise nach Israel – der Stadt Jerusalem – angehalten und aufgehalten wurde. An Grenzen erleben Menschen die Demarkationslinie der Freiheit. Viele Menschen erleben dort auch das Scheitern des Projektes Freiheit. Die Mauern, wie deren Reste in Berlin oder der Grenzzaun zwischen Nord- und Südkorea oder eben – für mich ein Paradigma der Grenze der Freiheit – zwischen Palästina und Israel, zeigen dies überdeutlich. Sie sind Plakatwände für die Freiheit. Sie erzählen in Bildern und Texten Geschichten von der Sehnsucht nach Freiheit und dem Zerplatzen der Träume von Freiheit. Ein kurzer Text, der sich an der Mauer auf der Seite Palästinas zwischen Israel und Palästina befindet und den ich fotografiert habe, soll dies stellvertretend verdeutlichen:
„My husband’s cousin married a German woman. They have lived in Germany for thirty years. Every summer, he comes back to visit Palestine. Two years ago, he came with his wife and when they arrived at Ben Gurion Airport in Tel Aviv, his wife presented her German passport. She was treated with politeness and respect. When his turn came, he presented his German passport and the officer started interrogating him in a disrespectful manner. This was because his passport showed that he was born in Bethlehem. He and his wife both got very angry and nervous. He shouted at the officer: ‘Why do you treat me like an animal?’ The Israeli airport authorities ordered him to return to Germany. They told him, ‘You can visit the West Bank via Amman, Jordan.’” (Written by Baha; info@aeicentercenter.org)
Die Freiheit endet oft an Nationalstaatsdenken, an Egoismen und Fremdenfeindlichkeit. Wer im Jahr 2018 über Freiheit reflektiert, der muss sich zwangsläufig die Frage stellen: Wie viel ist uns Freiheit wert und wie verhält sich meine eigene Freiheit zur Freiheit der Anderen? Definiert sich nicht gerade in einer Demokratie die Freiheit als „Freiheit des Anderen“ durch Anerkennung, Respekt und Würde? Toleranz ist dann die Haltung der Freiheit.
Freiheit – das ist in diesem Sinne auch eine Sache des Protestantismus und verdient es am Reformationstag reflektiert zu werden. Zu dieser evangelischen Haltung der Freiheit gehört es dann aber auch, kritisch die Frage zu stellen, ob es in einer religionsoffenen und pluralen Gesellschaft nicht angemessener wäre, statt den Reformationstag zum Feiertag in wenigen Bundesländern zu machen, einen „Tag der Religionen“ zum Feiertag zu erheben, an dem jede Religionsgemeinschaft im Sinne der Religionsfreiheit gewürdigt wird. Dem Islam und dem Judentum könnten damit gleichermaßen Ehre als gesellschaftlicher Kräfte in unserer Gesellschaft zu Teil werden.
Insofern ist der Predigttext des Reformationstages aus dem Galaterbrief des Apostel Paulus – obgleich ein wichtiger Teil christlicher Glaubenslehre und protestantischer Identität – auch als Text im Sinne einer Religionsoffenheit hin zu verstehen und zu interpretieren. In religiöser Perspektive ist die Freiheit ein Versprechen…
I.
Bedrohte Menschen brauchen Hoffnung
Was war und ist das Besondere der „Großen Freiheit“ auf St. Pauli in Hamburg? Historisch gesehen sind es vor allem die Gewerbe- und Religionsfreiheit, die die Große Freiheit begründeten und dann vor allem auch Ort für die Armen und Kranken war, die in Altona vor der Stadtmauer lagerten und die sich anfangs mit Gaukeleien Geld verdienten. Es entstand eine Parallelwelt mit „Verheißungscharakter“, die als sündige Meile berühmt wurde. Das Symbolische an ihr liegt in der Möglichkeit der Durchbrechung des Alltags. Das galt für die Matrosen von damals und für die Menschen von heute. Die „Große Freiheit“ malt mit leuchtenden Buchstaben Sehnsuchtshorizonte in den dunklen Himmel. Eine Sehnsucht, wie sie vielleicht auch vergleichbar ist mit den Illusionen des gelobten Landes Deutschland, das Tausende von Flüchtlingen auf der Welt im Kopf haben und alles riskieren, um dieses Land zu erreichen, denn: die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wenn der Apostel Paulus von „Freiheit“ in Gal 5 spricht, wird er vielleicht von Manchen so verstanden worden sein: Freiheit – das ist das Versprechen, dass die Knechtschaft beendet ist. Der Begriff der Freiheit hatte schon damals Sprengkraft und dies vor allem im politischen Sinne. Die römische Besatzungsmacht herrschte mit Gewalt und Unterdrückung und religiöse Minderheiten wurden aus Angst der Römer vor Aufruhr und politischem Umsturz zerschlagen. Die Angst ging um im Römischen Reich. Dass dies nicht ganz unbegründet war, zeigte sich, als die Römer den Tempel in Jerusalem im Jahr 70 endgültig zerstörten und die Juden fliehen mussten. Sie verloren damals ihre Heimat und ihr Land.
In jüdischen Ohren klingt das Wort Freiheit daher als Verheißung, dass ihnen das Land wieder gegeben werden könnte, das sie seit der Zeit der babylonischen Gefangenschaft (587 v. Chr.) und dann der Zeit der römischen Besatzung verloren hatten. Freiheit ist für sie die Hoffnung der Wiedervereinigung von Land und Volk Israel. In den Ohren der römischen Sklaven und der Vielen, die von der römischen Besatzungsmacht unterdrückt wurden, hatte das Wort „Freiheit“ einen emanzipativen oder revolutionären Klang. Die Fesseln der Knechtschaft werden gelöst, die Gefangenen werden frei und erlöst von ihren Qualen. Wie sehr die Seelen von Menschen durch Gefangenschaft und Bedrückung gequält werden können, lässt sich von uns, die wir wie ich selbst ein Leben lang in Freiheit gelebt haben, nur sehr schwer erahnen. Traumatisierungen und seelische Verletzungen brauchen lange, bis die betroffenen Menschen sie verarbeiten können. In diesem politisch befreienden Sinn haben viele Christinnen und Christen diese Texte vor allem in Afrika oder auch in Lateinamerika gelesen. Ich erinnere nur an die sogenannte Befreiungstheologie oder die Texte aus Nicaragua in den 70er Jahren, die unter dem Titel „Das Evangelium der Bauern von Solentiname“ uns Studierende dieser Zeit tief bewegt und beeindruckt haben. Alle diese Traditionen zeigen, dass die biblische Rede von der Freiheit den Menschen, die seelisch oder körperlich bedrängt sind, Hoffnung gibt. Die Freiheit ist für sie ein Versprechen, dass Gott selbst die Fesseln der Unterdrückung sprengen kann und die Umkehrung der Verhältnisse bevorsteht. Der Theologe Karl Barth stellte eine Reihe von Predigten, die er im Gefängnis hielt, unter den Titel: „Den Gefangenen Befreiung“.
II.
Die Freiheit vom Gesetz
Was meint aber nun der Apostel Paulus genau, wenn er von Freiheit in Gal 5,1 spricht und diese dem Joch der Knechtschaft entgegenstellt? Es ist nicht die politische Freiheit, sondern theologisch spricht er von der Freiheit als einem religiösen Begriff. Sein Verständnis von Freiheit kehrt ein in einen sehr komplexen und nicht ganz einfach zu verstehenden Horizont jüdischen Glaubens und religiösen Selbstverständnisses, den er seiner Gemeinde von damals darstellt und den es auch für heute zu erklären und zu verstehen gilt, um die Aussagen des Bibeltextes einordnen zu können.
Es lässt sich für den heutigen Bibelleser besser verstehen, wenn vorab kurz der Anlass und die Motivlage des Apostel Paulus reflektiert werden, die ihn zur Abfassung des gesamten Galaterbriefes veranlasst haben. Dieser Brief entfaltet zum ersten Mal einen geschlossenen theologischen Gedankengang und gilt neben dem Römerbrief als Herzstück der Theologie des Apostels. Die Bibelauslegung weiß seit langem, dass im Hintergrund des Galaterbriefes die Nachricht steckt, dass es Wanderprediger und Missionare gab, die in den Gemeinden die Rückkehr zu den Vorschriften der Tora predigten. Sie fielen damit theologisch dem Apostel Paulus in den Rücken. Der Galaterbrief des Apostel Paulus ist somit ein Appell, nicht diesen Missionaren zu glauben, sondern an dem Evangelium, das er selbst der Gemeinde verkündigt hatte, festzuhalten. Zur der Zeit, als er den Brief an die Gemeinde verfasst, lebte er nicht mehr in der Provinz Galatien, sondern war weiter gereist und hörte nun von den Vorfällen. Er will also die Verhältnisse gerade rücken und holt daher theologisch grundsätzlich aus.
Sein Hauptargument ist nun, dass die Beschneidung, die im Judentum als Forderung der Tora gilt, durch Jesus Christus abgelöst wurde. Als Israelit und Jude gilt es in den Augen des Apostel Paulus, die Tora zu leben und sie zu halten. So kommt er ganz argumentierend aus der jüdischen Sicht der Tora zu der Auffassung, dass derjenige, der sich beschneiden lässt, „das ganze Gesetz zu tun schuldig ist“ (Gal. 5,3). Dieses solle sich jeder vor Augen führen und die Konsequenz erkennen, dass dem, der diesen Weg folgt, Christus „nichts nützen“ wird (Gal. 5,2). Aus der Sicht des Apostels liegt genau an dieser Stelle der Differenzpunkt, dass nämlich das jüdische Verständnis des Heils durch die Einhaltung aller Regeln der Tora gerecht zu werden, mit Jesus Christus eine Alternative erfahren hat. Die berühmte Stelle des später verfassten Römerbriefes in Kap 10,4 bekräftigt dann die Auffassung des Apostels, indem er dort davon spricht: „Christus ist des Gesetzes Erfüllung, wer an den glaubt, der ist gerecht“ (Röm 10,4). Gal 5 und Röm 10 stehen theologisch in einem Zusammenhang. Lange Zeit ist in der Auslegungsgeschichte dieses Textes das im griechischen Text stehende Wort „telos“ als Ende oder Überwindung verstanden worden. Auch der Reformator Martin Luther hat sich in seinen Bibelauslegungen immer wieder mit diesem Zusammenhang auseinander gesetzt. Nach neuerer exegetischer Auffassung enthält das Wort eine Zieldimension und heißt nicht Abschaffung der Tora, sondern Weiterführung und Vollendung.
In diesem Sinn ist dann auch das Wort Freiheit in Gal 5,1 zu verstehen, denn es führt unmittelbar in den Zusammenhang der Wirkung, die mit dem Leben und Werk Jesu Christi zu tun haben. Wer durch das Gesetz gerecht werden will – so sagt Paulus – und damit dem Weg des Judentums weiter folgt, der ist „aus der Gnade gefallen“ (Gal 5,4). Diese Worte klingen sehr hart und lese ich sie mit den Augen desjenigen, der vor kurzem die Stadt Jerusalem besucht hat, wird mir die innere Widersprüchlichkeit und Absurdität überdeutlich, mit der sich jeder konfrontiert sieht, der die Altstadt von Jerusalem besucht: Da haben sich die Christen der Grabeskirche bemächtigt. Eifernde religiöse Frauen aus Rumänien, Russland und Polen küssen inbrünstig die bloßen Steine als wäre es die Stirn ihres eigenen Kindes. Nur ein paar Meter weiter schokeln inbrünstig betende ultraorthodoxe Juden an der Klagemauer den ganzen Tag und leben in ihrem religiösen Eifer lieber von der staatlichen Sozialhilfe als arbeiten zu gehen. Und freitags werden die Menschenströme geleitet und gehen die Moslems in die Al-Aksa-Moschee, deren Zugang gerade in diesem Sommer kurzzeitig wegen Demonstrationen geschlossen wurde. Ich kann kaum glauben, dass der Apostel dies mit seinem Verständnis von Freiheit beabsichtigt hatte, als er die Gemeinde davor warnte, aus der Gnade zu fallen. Das Christentum muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass es durch die Auslegungsgeschichte biblischer Texte selbst die Religionskonflikte mit hervor gebracht hat. Jedenfalls ist der Text des Apostel Paulus nicht ganz von Missverständnissen frei.
Freiheit – das meint dann aber positiv der Apostel Paulus als Wirkung und Folge der Gnade, die er auch als die Gerechtigkeit Gottes betont. Der Reformator Martin Luther hat in diesem Begriff den Kern der evangelischen Botschaft gesehen: Die Gnade als Folge der Gerechtigkeit Gottes macht den Menschen frei. Sie ist das Versprechen, das Gott selbst eingelöst hat.
III.
Freiheit als Lebensprinzip des Glaubens
Die Freiheit ist ein Versprechen – das hatte ich eingangs mit Verweis auf die „Große Freiheit“ auf St. Pauli in Hamburg betont. Sie ist auch in theologischem Sinne ein Versprechen, wenn man der Argumentation des Apostel Paulus folgt.
Das Versprechen gilt für das Leben. Dieses Leben ist für Paulus durch den Glauben geprägt, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6). Der Glaube ist die neue Form des Lebens, die ein Leben nach der Beschneidung überflüssig macht. Dieser innere Zusammenhang von Gnade in Jesus Christus und dem Glauben hat den Reformator Martin Luther zutiefst bewegt. Im Glauben fand er einen neuen Zugang zu Gott und dies ist die reformatorische Freiheit, dass der Mensch aus dem Glauben selig wird.
Mit Paulus kann man sagen, dass Gott sein Versprechen von Gnade und Erlösung mit der Offenbarung und der Hingabe seines Sohnes Jesus Christus am Kreuz eingelöst hat. Daran erinnert der Apostel die Gemeinde in der Region Galatien und diese Erinnerung gilt auch den Menschen von heute, die in der Welt der 1000 Versprechungen gar nicht mehr wissen, wem oder was sie glauben sollen. Wir sind durch die Masse der Versprechungen dieser Welt zutiefst irritiert und suchen die „Große Freiheit“, die doch da ist. „Greifen Sie zu“ – Der „Framstag“ ist am „Sonntag“, denn da ist die Kirche verlässlich geöffnet und das Wort Gottes zum Greifen nah.
Wie aber geht das: Leben aus Glauben in der Freiheit? Der Glaube löst sicherlich nicht alle Probleme der Welt. Aber im Glauben haben die Menschen die Möglichkeit aus einer inneren Haltung heraus die Sorgen, Nöte und Probleme des Alltags zu meistern. Für mich resultiert aus dem Glauben die „Glaubensheiterkeit“ oder auch Freude, von der Martin Luther in seinem Lied „Nun freut Euch lieben Christengmein“ gedichtet hat und das für mich das eigentliche protestantische Glaubenslied ist:
Nun freut euch, lieben Christen gmein,
Und laßt uns fröhlich springen,
Daß wir getrost und all in ein
Mit Lust und Liebe singen,
Was Gott an uns gewendet hat
Und seine süße Wundertat
Gar teur hat ers erworben.
Nicht den Reformationstag als solchen gilt es am 31.10. zu feiern, sondern die Glaubensgewissheit hochzuhalten, die die Menschen aus dem Glauben leben lässt. Dennoch ist dieses christliche Glaubensverständnis aus Freiheit in einer religionspluralen Gesellschaft nur ein Beitrag, neben dem jüdische und moslemische Gedanken gleichermaßen Berücksichtigung finden. Alle drei machen die „Große Freiheit“ aus, die in JHWH-Gott-Allah verborgen liegt. Alle Religionen glauben zutiefst diesem einen Versprechen.