Freiheit durch Vertrauen – Predigt zu Römer 8,12-17 von Olaf Wassmuth
8,12-17

Liebe Gemeinde,

mit einem kleinen Seufzer bin ich vor ein paar Tagen nach Hause gekommen: Das war’s mit den Ferien! Im Büro ist alles noch so, wie ich es hinterlassen habe. Keiner hat meine Arbeit gemacht. Das, was dort unerledigt liegen blieb, bevor ich vor ein paar Wochen auf Reisen ging, liegt immer noch da. Und oben drauf die To-do-Liste für „Nach dem Urlaub“, die ich mir schon vorsorglich zurechtgelegt hatte. Jetzt bitte abarbeiten!

Ein kleiner Seufzer – vorbei die große Freiheit des Urlaubs, zurück im Alltag. Nein, so schlimm ist es gar nicht, Ihr Pfarrer zu sein – aber Sie wissen schon, was ich meine: Viele von Ihnen erleben es ja dieser Tage selbst, wie es ist, sich wieder einspannen zu lassen in Verpflichtungen und Aufgaben. Ganz schnell ist er wieder da: der Druck. Ganz schnell ist es wieder da: Das Müssen und Sollen, unter dem so leicht verschüttet geht, was ich eigentlich will.

Oben auf meiner To-do-Liste ist eine Bibelstelle notiert – der Predigttext für heute. Ein schwer zugängliches Stück Bibel, aber ich merke: Was der Apostel Paulus schreibt, hat etwas mit mir zu tun. Mit Freiheit und Unfreiheit, mit dem Müssen und Wollen. Ich lese den Abschnitt aus Römer 8,12-17.
12 So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. 13 Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. 14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. 15 Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! 16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind. 17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

Der Mensch zwischen „Fleisch“ und „Geist“.
Obwohl das keine Fremdworte sind, sind es doch fremde Worte, die sich nicht so leicht erschließen.
„Fleisch“ ist vielleicht eines der missverständlichsten Worte im Neuen Testament. Man denkt da viel zu schnell an den menschlichen Leib, an seine Bedürfnisse und Begierden. Doch es geht um mehr.

„Fleisch“ ist alles, was ich mir in meinem Leben nicht ausgesucht habe. Die Haut, in der ich stecke. Die Gewohnheiten und Schwächen, die mich so oft selber nerven. Die Ansprüche, die andere an mich stellen. Die Welt, so wie sie nun mal ist. „Fleisch“ ist, was ich nicht ändern kann.

Ich kann die Welt nicht ändern. Aber ich muss mich ihren Zwängen und Versuchungen auch nicht vor die Füße werfen. Wenn „das Fleisch“ dein Leben bestimmt, sagt Paulus, dann bist du schon so gut wie tot. Christliches Leben, Leben als Christ bedeutet für ihn, ein Gefühl von Freiheit zu erfahren, das sich über alle Begrenzungen erhebt. Ein Gefühl, das sein innerster Antrieb ist, das ihm Kraft gibt.

Ein Gefühl von Freiheit – da kommen mir schon wieder (oder immer noch) Urlaubsbilder in den Sinn: Guter Urlaub bedeutet für die meisten von uns, sich irgendwie frei zu fühlen. Wenn auch nur für begrenzte Zeit.
Mit dem Boot raus aufs Meer – um mich herum nur Sonne und Wasser.
Auf den Gipfel des höchsten Berges – wo die Welt mit ihren Begrenzungen so lächerlich klein aussieht.
Mit der Harley auf der Route 66 – immer geradeaus und nur den Wind im Gesicht.
Gemeinsam ist solchen Erfahrungen, dass wir uns darin ganz weit entfernen von dem, was wir sollen und müssen. Freiheit ist Ungebundenheit.

Der Apostel Paulus entwirft ein anderes Bild von Freiheit und siedelt es im Alltag an. Für ihn besteht Freiheit nicht in der Ungebundenheit, sondern in einer Beziehung – einer ganz bestimmten Beziehung.

Diese Beziehung besteht zwischen Gottes Geist und unserem „Geist“. Oder, etwas freier ausgedrückt: Zwischen der Lebendigkeit Gottes und unserem inneren Leben, unserem Denken und Fühlen. Diese Beziehung, die für Paulus bei der Taufe entsteht, ist geprägt durch ein kindliches Vertrauen. Und dieses Vertrauen macht Menschen wahrhaft frei.

Warum? Weil das Gegenteil von Freiheit nicht Bindung ist, sondern Angst.
Die Lebensangst ist es, die den Menschen wirklich knechtet. Die Angst, zu versagen, nicht zu genügen, das Leben irgendwie zu verpassen. Das was Paulus „das Fleisch“ nennt, führt uns in solche Angst und macht uns zu angstgetriebenen Menschen. Und die Angst ist der Tod im Kopf.

Wer vertrauen kann, ist dagegen wirklich frei.
Wenn du weißt, dass es nichts gibt, was dich wertlos oder unwürdig macht. Wenn du weißt, dass du um jeden Preis und unter allen Umständen geliebt bist, dann bist du wirklich frei. Freier als auf dem Ozean und über den Gipfeln der Berge. Denn da bist du bloß allein.

Der Geist Gottes, so beschreibt es Paulus, schafft in uns ein Vertrauen, wie Kinder es zu einem liebevollen und geduldigen Vater haben: „Abba, lieber Vater!“ „Abba“ ist eine zärtliche aramäische Anrede für den Vater, ein bisschen wie „Papa“. Das ist nicht der gestrenge Vater, den gerade unsere evangelische Tradition oft in Gott gesehen hat – und den das protestantische Bürgertum durch den unnahbaren und Gehorsam fordernden Patriarchen glaubte abbilden zu können. Wer den Film „Das Weiße Band“ kennt, weiß, was ich meine. Es ist vielmehr ein Vater wie im Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“: sanft, verständnisvoll, großzügig – voll Sehnsucht und Hingabe für sein Kind. Ein Vater, zu dem man immer kommen kann. In dessen Armen die Freiheit nicht endet, sondern beginnt.

Und wo ereignet sich solche Freiheitserfahrung konkret?
Paulus gibt ihr einen spezifischen Ort oder vielleicht besser: Ausgangspunkt – das Gebet. Ein paar Zeilen weiter im Römerbrief schreibt er noch mehr darüber.

Das Gebet ist ein Augenblick von Freiheit.* Mitten im Alltag.
Vielleicht haben Sie es so noch nicht gesehen. Vielleicht erscheint Ihnen das bloß als weitere Pflicht: Gebet und Stille, Meditation und Gottesdienst – dafür soll man also auch noch Zeit haben!

Das Gebet ist ein Augenblick von Freiheit.
Wer betet, segelt innerlich aufs Meer hinaus, steigt auf den höchsten Gipfel und sagt dort „Du“. Das Gebet ist Abstand und Beziehung zugleich: Es hilft uns, uns vom „Fleisch“ – dem Druck der Welt – zu distanzieren. Und es verbindet uns zugleich mit dem „Geist“ ,der Lebendigkeit Gottes. Das Gebet übt uns immer wieder neu ein in das Vertrauen, das „Abba, lieber Vater“ sagt.

Liebe Gemeinde,
die Ferien sind vorbei. Für die meisten von uns jedenfalls.
Für mich ist der Neubeginn nach den Sommerferien der tiefste Einschnitt im Jahr. Nicht etwa Silvester und Neujahr. Am Ferienende nehme ich mir Neues vor. Am Ferienende suche ich nach Perspektiven, mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich möchte mich nicht treiben lassen, sondern verbunden bleiben mit dem, was mir Kraft gibt. Mit dem, der mir Kraft gibt. „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“

Die Ferien sind vorbei.
Aus meinem Seufzer wird ein Gebet:

Gott, Vater im Himmel:
Ich will nicht verzweifeln
an meinen Begrenzungen.
Ich will mich nicht knechten lassen,
von dem, was ich muss oder soll.
Lass mich frei atmen
durch deinen Geist,
der mir Kraft und Inspiration ist.
Lass mich vertrauen
und vertreibe die Angst,
denn ich bin dein Kind.

Amen.

 

 

*Vgl. Hilde Domins Frankfurter Poetik-Vorlesungen: „Das Gedicht als Augenblick von Freiheit“ (1988).

Perikope
28.08.2016
8,12-17