Freiheit im Gepäck – Predigt zu Römer 8,12-17 von Stephanie Höhner
8,12-17

Freiheit im Gepäck – Predigt zu Römer 8,12-17 von Stephanie Höhner

Die Tasche ist gepackt. Alles drin für einen perfekten Tag am Strand: Sonnenbrille, dickes Buch, Handtuch. Und natürlich die Sonnencreme. Allein schon deren Duft lässt die Vorfreude in mir aufsteigen. Ich habe sofort Bilder von früher vor Augen. Sommerferien – sechs lange Wochen ohne Pflichten. Keine Schule, keine Hausaufgaben – einfach frei! Manchmal unerträglich viel frei.
Lange Nachmittage im Freibad. Familienurlaub an der Ostsee. Pommes am Strand, Mückenstiche an den Beinen. Jeder Tag neu und unbeschwert leicht.
Mit der Tasche über der Schulter und der Sonnencreme auf der Haut geht es zum Strand. Vorne: Meer und Wellen. Unten: weißer, heißer Sand. Oben: strahlend blauer Himmel, ein paar Schleierwolken.
Ich genieße das Rauschen der Wellen, den Duft der Sonnencreme und das Umblättern jeder Buchseite.
Kein Smartphone, das vibriert. Kein Papierstau. Keine Terminerinnerungen. Frei. Einfach frei. Perfektes Urlaubsfeeling.

So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.

Etwas schuldig bleiben – ein allzu bekanntes Gefühl. So viele Pflichten und Zwänge, die den Alltag bestimmen. Da bleibt wenig Zeit für sich selbst, einmal inne zu halten, spontan eine Freundin zu treffen, zwei Minuten länger der Mutter zuzuhören.
Zwang und Pflicht, die die Luft zum Atmen nehmen. Termine, Beruf, eigene Ansprüche – sie lassen nicht zur Ruhe kommen.
Selbst im Urlaub fällt es schwer, das Smartphone zu ignorieren, abzuschalten, die „Seele baumeln zu lassen“. Im Hinterkopf schon wieder der Alltag mit all seinen Ansprüchen. Und immer mit dabei: Nachrichten von zu Hause und aus aller Welt. Was passiert wann wo – die Welt lässt sich nicht aussperren, auch im Urlaub nicht.

Ich liege in der Sonne, bin schon auf Seite 112 angekommen. Habe alles um mich herum vergessen: Zuhause, Zeit und Welt. Als sich der Hunger meldet, gehe ich zur Promenade. Eine lange Reihe von Cafés und kleinen Läden mit allerhand Strandzubehör: Gummitiere, Schwimmflügel und Badelatschen. Und viele Touristen tummeln sich dort, in bester Urlaubsstimmung.
In einem Café kaufe ich Eis und Wasser. An der Kasse fällt mein Blick auf eine Zeitung: ein Schlauchboot, bis zum Rand gefüllt mit Frauen, Männern und Kindern. Orangene Schwimmwesten stechen heraus. Orange wie die Schwimmflügel im Laden nebenan. Die Überschrift zum Bild ist nicht wirklich neu: Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer.
Da sind sie wieder, die Bilder, die mich tagtäglich begleiten. Morgens seufzen die Zeilen in der Zeitung von neuen Bombenangriffen in Aleppo, abends fluten Bildermeere von gestrandeten Flüchtlingen die Nachrichten.
Vorbei mit der Urlaubsstimmung. Die Welt und der Alltag haben mich wieder.
Und doch ist da die Sehnsucht, alles hinter sich zu lassen. Wenigstens für ein paar Tage oder Stunden. Sich etwas Gutes zu tun. Unbedarft in den Tag hineinleben wie damals in den Sommerferien.

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!

Die Welt ist zum Fürchten. Täglich neue Bilder von Gewalt. Täglich neue Zahlen von Opfern und Anschlägen.
Täglicher Kampf ums Überleben – im Großen wie im Kleinen.
Ein täglicher Kampf um den Platz an der Sonne. Getrieben vom Ziel, Erste zu sein, ganz vorne mit dabei.
Getrieben von der Angst, alles richtig zu machen. Für sich und für andere.
Getrieben von der Angst, zu versagen. Etwas zu verpassen.
Diese Angst engt ein. Sie knechtet uns. Macht uns unfrei. Unfrei, anderen Menschen offen zu begegnen. Sich mit der Kollegin über den Erfolg zu freuen. Die Vorlesung ausfallen zu lassen, um dem Freund mit Liebeskummer beizustehen. Oder die Mutter zum Arzt zu begleiten.
Die Furcht vor der Welt – sie hat uns fest im Griff.

Die Furcht vor der Welt – sie hat auch Paulus fest im Griff.
Verfolgt, gefangen, gefoltert und später hingerichtet. Weil er an Jesus Christus glaubt.
Freunde von früher sind jetzt seine Feinde, wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Kein fester Wohnsitz, immer wieder muss er ins Gefängnis. Ist schwer krank. Und dann noch Streit mit seinen Freunden, „Brüder“ nennt er sie. Für Paulus ist die Welt alles andere als in Ordnung. Sie ist zum Fürchten.
Er könnte Schluss machen. Sich zurückziehen und andere die Arbeit machen lassen. Sollen die doch durch die Gegend ziehen, sich mit den Gemeinden streiten und diskutieren, sich für die eigene Predigt auslachen lassen. Er könnte einfach aufhören.
Kann er aber nicht. Das Bild von Christus lässt ihn nicht los. Er fühlt sich getrieben vom Geist Gottes. Angetrieben. Er will weiter seine Botschaft verbreiten. Jetzt auch über das Mittelmeer bringen, nach Europa, nach Rom.
Etwas treibt ihn an: Gottes Geist. Gegen die Angst vor Welt schreibt er an:

Ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!

Gott ist wie eine Mutter, die uns tröstet. Wie ein Vater, der uns beschützt.
Das anzunehmen und darauf zu vertrauen, das macht frei von der Angst. Angst vor der Welt, Angst vor dem Verlieren, vor dem Versagen, vor dem Verpassen.

Damals, als Kind, konnte ich sorglos in den Tag hineinleben. Ich wusste, dass meine Eltern sich um mich kümmern. Sie konnten helfen, wenn der Baum zu hoch war. Konnten mich tragen, wenn der Weg zu weit war. Halfen mir auf, wenn ich hingefallen war. Nahmen mich in den Arm, wenn ich Angst hatte. Trösteten mich, wenn ich traurig war.
Ich wusste: Bei ihnen bin ich gut aufgehoben. Sie passen auf mich auf.
So konnte ich die Welt entdecken und neues wagen. Hinfallen gehörte dazu. Scheitern auch. Aber das hielt mich nicht davon ab, es ein anderes Mal wieder zu probieren. So lernte ich Fahrrad fahren, Schwimmen und alleine den Weg zum Kindergarten zu gehen.
Ohne das Vertrauen in meine Eltern hätte ich vieles nicht gewagt. Und damit vieles nicht kennen gelernt.
Gott zu vertrauen wie ein Kind seinen Eltern und rufen: „Abba! Lieber Vater!“
Sich in die Welt zu wagen und sie zu entdecken. Sich nicht zu fürchten vor ihren Ansprüchen und Zwängen.
Gott zu vertrauen. Trotz der Verfolgung. Trotz der Gefängnismauern. Sich in die Welt zu wagen, über das Mittelmeer, nach Europa.

Zurück am Strand will ich weiter in meinem Buch lesen. Doch die Bilder von der Promenade lassen mich nicht los. Das Orange der Schwimmwesten und der Schwimmflügel.
Das Krokodil als Gummiboot bereitet hier den Kindern Badespaß. Ein paar Flugstunden weiter ist es der Strohhalm ins sichere Europa. Mein Strohhalm dient gerade nur dazu, mein Wasser aus der Flasche zu trinken.
Ich merke: Auch hier im Urlaub lässt sich die Welt nicht aussperren. Ich könnte mich im Hotel verkriechen, der Spa-Bereich bietet einiges. Ich könnte bei den Nachrichten wegsehen bis das Wetter kommt. Oder einfach in der Zeitung weiterblättern.
Doch abschalten kann ich die Bilder aus Zeitung und Fernsehen nicht. Sie bleiben in meinem Kopf. Schieben sich vor Ostseestrand und Gummikrokodil.
Ich liege entspannt am Strand während Hunderttausende in diesem Land auf Feldbetten in Containern schlafen. Das finde ich furchtbar. Aber trotzdem möchte ich meinen Urlaub nicht missen. Ich muss auch mal abschalten. Ich alleine kann die Welt nicht retten – so geht es mir durch den Kopf. Aber einfach wegsehen, abschalten – das klappt nicht.

Die Urlaubsstimmung heute ist nicht so wie die in der Kindheit. Nicht so unbeschwert. Im Hinterkopf sind immer auch Gedanken an zu Hause, die Arbeit. Im Hinterkopf bleiben Erinnerungen an die kranke Großmutter ebenso wie die Bilder aus Syrien und Brüssel.
Sechs Wochen Sommerferien von der Welt – das gibt es nicht mehr.

Sechs Wochen Sommerferien gibt es für Paulus nicht. Er kennt das Leben sehr genau, das Leben in der Welt, die zum Fürchten ist. Doch er lässt sich davon nicht lähmen. Sondern antreiben. Er ist angetrieben von Gottes Geist, vom Vertrauen in Gott, seinen Vater.

Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber seine Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

Erben Gottes und Miterben Christi sind wir.
Erben können wir Geld, Häuser, Schmuck, teure Autos und wertvolle Bilder.
Aber auch: Kredite, Krankheiten und Aufgaben.
Ein Erbe anzutreten, das bedeutet, alles anzunehmen. Vermögen ebenso wie Schulden, einen guten Ruf ebenso wie die Schuld.
Miterbe Christi zu sein, das bedeutet auch, den Schmerz und das Leid der Welt anzunehmen. Karfreitag zu erben ebenso wie Ostern.
Miterbe Christi zu sein befähigt dazu, in die Welt zu blicken. Nicht nur unter sich zu bleiben als „eingeschworene Gemeinschaft“, sondern raus zu gehen in die Welt. Sich nicht vor ihr zu fürchten, sondern ihr in die Augen zu sehen. Dem Flüchtlingsjungen auf der Straße, dem Freund mit Liebeskummer, der Großmutter im Pflegeheim.
Es gibt Bilder, die sind nicht auszuhalten. Es gibt Aufgaben, die nicht zu erfüllen sind. Und einen tiefen Fall, der weh tut. Aber davon lassen sich die Kinder Gottes nicht abschrecken. Weil sie sich damit an Gott wenden, voll vertrauen rufen: „Abba! Lieber Vater!“ Und ihren Weg finden in der Welt – ohne sich zu fürchten.

Das Mitleiden kannte Paulus allzu gut. Für ihn und die anderen Christen damals gehörte das zum Leben dazu: Dass sie leiden mussten wegen ihres Glaubens. Und auch heute gehört es für viele Christen in der Welt wieder dazu.
Paulus kann das Leiden auch nicht aussperren. Es gehört zu seinem Leben, auch wenn er „Kind Gottes“ ist. Aber er kann rufen: „Abba! Lieber Vater!“ Weil er Gott vertraut wie ein Kind. Daran hält er fest. Er ist angetrieben vom Geist Gottes. In der Welt, die eigentlich zum Fürchten ist. Er nimmt sie an, wie sie ist: zum Fürchten. Er nimmt sie an im Vertrauen: „Abba! Lieber Vater!“ Das befreit ihn zum Leben in dieser Welt. Das befreit ihn, weiter in die Welt zu gehen, über das Mittelmeer. Das befreit ihn, weiter zu leben.

Am nächsten Tag packe ich wieder meine Tasche. Wieder mit dabei: die Sonnencreme. Diesmal nicht dabei: die Illusion einer perfekten Urlaubsidylle. Dafür aber mit der Freiheit im Gepäck: Ich muss mich vor der Welt nicht fürchten. Auch im Urlaub nicht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unseren Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.