Freude am Neuanfang - Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Dorothee Kolnsberg
54,7-10

Freude am Neuanfang

Liebe Brüder und Schwestern,

ich denke mal, Sie kennen das auch! Ich meine Situationen, in denen wir nicht so reagieren, wie es angemessen wäre. Situationen, in denen Emotionen im Spiel sind und dadurch aus Kleinigkeiten auch mal Elefanten werden. Menschen erleben das in der Familie, in Partnerschaften und Freundschaften, in der Schule, bei der Arbeit und im öffentlichen Leben.

Ich erzähle Ihnen eine Begebenheit aus der Straßenbahn: Schon längere Zeit ist die Luft angespannt. Eine Frau guckt stur geradeaus. Eine ältere Frau hält sich konzentriert am Rollator fest. Sie redet auf ihren grauhaarigen Ehemann ein, der ebenfalls nicht mehr ganz rüstig ist: „Das ist doch kein Benehmen!“, schimpft sie vor sich hin. „Die jungen Leute meinen, die könnten sich alles erlauben.“ Die Luft ist zum Schneiden. Dann, beim Aussteigen kommt es zum Gerangel. Die ältere Frau mit dem Rollator fährt der jüngeren vor lauter Wut von hinten gegen die Beine. Die jüngere Frau dreht sich sofort um und wehrt sich. „Jetzt geht`s aber los! Was soll das denn? Sie sind mir gegen die Beine gefahren!“ – „Bin ich nicht!“ entgegnet die ältere. „Sind sie wohl. Jetzt lügen Sie auch noch!“ „Bin ich nicht!“

Auf dem Bahnsteig geht es weiter. Lautstark erheben die Frauen Vorwürfe gegeneinander. „Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen so schlecht geht wie mir, wenn sie alt sind!“ ruft die ältere Frau heraus. Auch der Mann versucht nun, seine Frau zu verteidigen. Der Konflikt endet erst, als ein Jugendlicher darauf aufmerksam macht, dass sich viele an der Haltestelle von den Streithähnen (bzw. Streithennen!) gestört fühlen. Immer noch vor sich hin kochend, geht die jüngere Frau schließlich ein paar Schritte zur Seite. Was ursprünglich der Anlass für den Streit war, ist nicht mehr auszumachen.

Von außen betrachtet scheint es ganz einfach: Der Streit führt zu nichts, getrennte Wege zu gehen wäre angesagt. Aber für die Personen selbst? Alles andere als einfach. Es ist ein Beispiel für die vielen Momente, in denen Menschen sich nicht so verhalten, wie es vielleicht angebracht wäre, vernunftgeleitet, freundlich, höflich, verständnisvoll, besonnen.

Ein Beispiel dafür, dass Menschen nicht perfekt sind, sondern Fehler machen.

So beten wir im Vaterunser: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Denn das Ziel ist, dass Menschen miteinander gut auskommen: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Damit ist gesagt: es kommt immer wieder vor, dass Menschen aneinander schuldig werden. Aber wichtig ist, dass diese Dinge angesprochen werden. Dass sie nicht hinuntergeschluckt oder unter den Teppich gekehrt werden. Wer aber sagt: „Ich habe einen Fehler gemacht, es tut mir leid“, zu dem kann sein Gegenüber sagen: „Ist in Ordnung, nicht weiter schlimm.“  – „… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Ein Zeitsprung zurück nach Babylon vor rund 2 500 Jahren. Die Israeliten sind verschleppt worden und leben im Exil. Ihr großer Traum: die Rückkehr in die Heimat, nach Jerusalem. Dort, in Babylon fühlen sie sich weit entfernt von Gott. Für sie ist Jerusalem ihre Heimat und die Heimat Gottes zugleich. Dort fühlen sie sich Gott nahe. Jetzt kommt es ihnen so vor, als ob sie von allem abgeschnitten wären. So erlebt es der Prophet Jesaja im heutigen Predigttext. Er hört Gott sagen:

„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.

Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“ (Jesaja 54,7-8)

Das Gefühl der Verlassenheit und Gottesferne deuten die Israeliten so, dass Gott sie strafen will. Sie können es sich nicht anders erklären, als dass sie für ihr Tun selbst verantwortlich sind. All ihre Fehler haben nun zur Folge, dass es ihnen schlecht geht. Gott hat sie verlassen, er ist nicht mehr auf ihrer Seite.

Auch Menschen heute kommt es manchmal so vor, als ob Gott verschwunden wäre. Wo ist Gott? fragt die Frau, die an Krebs erkrankt ist.

Wo ist Gott? fragt der Mann, der noch nie so recht geglaubt hat.

Wo ist Gott? fragt der Mann, der von seiner Frau verlassen wurde.

Wenn es nicht glatt läuft – wenn Menschen sich Sorgen machen, oder Probleme im Beruf haben, dann kommt häufig die Frage auf: Wo ist Gott jetzt?

In der Leidensgeschichte Jesu hören wir übrigens auch davon. Jesus selbst ist von Gott verlassen. Er schreit es laut am Kreuz heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch von den Jüngern wird Jesus verlassen, so haben wir es in der Schriftlesung gehört.[1] Jesus bittet sie, mit ihm wach zu bleiben und zu beten. Aber sie schlafen ein. In dieser Stunde hat Jesus große Angst. Er hätte es so sehr gebraucht, dass jemand ihn an die Hand nimmt und ihn tröstet. Oder zumindest: Dass die Jünger mit ihm leiden. Aber nein: sie schlafen ein. Jesus ist von Gott und den Menschen verlassen. Er wird von Judas verraten und nach der Gefangennahme fliehen die Jünger.

Verlassen – so fühlen sich die Israeliten. Schauen wir, wie sie Hoffnung finden: Sie finden neuen Mut in der Erinnerung, in dem, was Menschen vorher bereits mit Gott erlebt hatten. Gott erinnert sie daran:

„Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.“ (Jesaja 54,9)

Wie als Beweis erinnert Gott in den Worten des Propheten an frühere Zeiten, an die Sintflutgeschichte. Sie lässt sich wie eine Versöhnungsgeschichte lesen. Gott lässt es regnen, und er vernichtet damit Menschen und Tiere. Nur die Menschen und Tiere, die sich mit Noah auf die Arche gerettet haben, überleben. Diese Katastrophe verstehen die Israeliten als Zorn und Strafe Gottes: „Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden.“ (1. Mose 7,5)

Doch nach der Sintflut erneuert Gott die Gemeinschaft mit den Menschen. Er verspricht, dass dies nicht mehr passieren wird. Als Zeichen dafür setzt er den Regenbogen in die Wolken. Ein Zeichen der Versöhnung mit den Menschen. Daran können wir uns erinnern, bei jedem Regenbogen, den wir sehen. Gott zeigt: ich will mit euch sein. Nach der Sintflut entsteht neues Leben, und neue Hoffnung. Ich denke an die Taube, die mit einem grünen Zweig zur Arche zurückkehrt. Die Gefahr ist vorüber. Und Noah dankt Gott für die Bewahrung. Von nun an soll nichts mehr zwischen Gott und den Menschen stehen. Das sagt Gott im heutigen Predigttext folgendermaßen:

„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jesaja 54,10)

Dies ist ein beliebter Bibelvers bei Konfirmationen und auch bei Taufen. Er ist als Trost zu lesen in Zeiten, in denen es sich anfühlt, wie von Gott verlassen zu sein. Gott setzt dagegen: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ Alles kann ins Wanken geraten. Die Welt mag erschüttert werden, aber ich bin bei dir. Was immer Du für Fehlern begehst, ich werde immer zu dir halten. Oder wie Paulus schreibt: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Römer 8,38-39)

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, stellt euch vor: ist es nicht ein schönes Bild, wenn bereits Babys bei der Taufe diese Worte zugesprochen bekommen. Sie müssen nichts dafür tun: Was auch immer passiert, Gott wird diesem kleinen Menschen immer wieder verzeihen. Und auch den größeren!

Das hat Folgen, liebe Gemeinde. Wenn ich mir sicher bin, dass ich geliebt bin, und dass nichts mich von dieser Liebe trennen kann, dann werde ich selbst zum Liebenden. Ich werde frei, mich entsprechend zu verhalten und, wenn es angebracht ist, zu sagen: „Entschuldige bitte.“

Wenn der Ärger sich ein wenig gelegt hat, könnte die ältere Frau aus der Anfangsgeschichte gesagt haben: „Ich bin neidisch, dass ich nicht mehr so jung bin wie Sie. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen wehgetan habe vor lauter Wut.“ Die jüngere Frau könnte auch sagen: „Sie haben mich ganz schön ausgeschimpft. Ich sehe aber, dass es ihnen nicht gut geht. Das tut mir leid.“

Immer wieder gibt es im Leben diese Gelegenheiten zum Neuanfang, „denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Amen.

 

[1] Matthäus 26,30-56, nach der Württembergischen Reihe.

 

Perikope
30.03.2014
54,7-10