Freudige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – Predigt zu Lukas 3,1-14 von Karin Klement
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Freudige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – Predigt zu Lukas 3,1-14 von Karin Klement

Liebe Advents-Gemeinde, liebe Tauffamilie,

haben Sie eigentlich noch richtige Erwartungen? Hoffnungen auf etwas, das irgendwie wundervoll, absolut überraschend, ja himmlisch sein wird? Kennen Sie noch die kribbelige Vorfreude, die innere Gespanntheit, die aufgeregte Neugierde, so wie die Kinder? Für die Kleinen ist jede simple Schneeflocke ein Zauber oder ein höchst interessantes, herrlich matschiges und prima zu verklumpendes Spielzeug. Sie können nicht abwarten, bis der erste nächste Schnee fällt.

Und wir - mehr oder weniger - Erwachsenen? Sind unsere Erwartungen geschrumpft, verpufft wie ein allzu oft aufgeblasener Luftballon, der seine Spannung verloren hat? Enttäuschte Erwartungen, still und heimlich entschwundene Träume, wie ein Geist aus ferner Zeit?

Ursprünglich ist ADVENT die Zeit der Erwartung. Warte-Zeit auf den, der da kommen will, alle Jahre wieder. Doch im Laufe der Zeit ist die Erwartung abgekühlt, abgeklärt. Sie hat sich verändert. Nun warte nicht mehr ich, vielmehr richten sich die Erwartungen auf mich: Für das große Familien-Weihnachtsfest ist alles schön vorzubereiten, passende Geschenke sind zu besorgen, natürlich auch geheime Wünsche von den Augen der geliebten Menschen abzulesen und – wenn möglich – zu erfüllen. Die vor-weihnachtliche Zeit entwickelt sich zum Spießrutenlauf um die neuesten, besten, erstrebenswertesten Geschenke. Anstelle der ursprünglichen Fasten-Zeit gibt es Lebkuchen und Weihnachtsplätzchen bis zum Abwinken. Anstelle einer ruhigen Besinnlichkeit ist es ein Hetzen von einer vorgezogenen Weihnachtsfeier zur nächsten. Anstelle einer enthaltsamen, sparsam gefüllten Zeit springen mir die vollbehängten Weihnachtsbäume in jedem Einkaufsladen in die Augen, golden glitzernd im glimmernden Kerzenschein aus der Steckdose. Welche Überraschung bietet da noch der Weihnachtsbaum in der eigenen guten Stube?

Wir tun uns selbst keinen Gefallen, wenn die Erfüllung der Erwartungen jedes Jahr immer großartiger, immer beeindruckender sein soll. Aber wie kommen wir zur Ruhe? Wie finden wir wieder, was wir eigentlich erwarten – tief verborgen in der Seele, untergegangen in der proppenvollen Alltagszeit, zugedeckt von fremden Erwartungen, die uns Film, Fernsehen oder Werbung suggerieren? Wo verbirgt sich das geheimnisvolle Weihnachten? Das überraschende, unerwartete, herzbewegende Weihnachten?

Wir erwarten eine Geburt. Aber wer oder was da in uns geboren werden soll, verbirgt sich zunächst vor dem Wissen der Menschen. Nur mit einem Gefühl, mit einer leisen Ahnung beginnt das neue Leben sich zu entwickeln. So ist es zumindest bei uns Menschen.

Eine Tauffamilie erzählte mir: Als ihr Baby unterwegs war, warteten sie hocherfreut auf die ersten medizinischen Einblicke. Per Ultraschall wurde Mamas Bauch durchleuchtet. Etwas verschwommen erschien der Umriss einer Gestalt auf dem Bildschirm. Darin: Ein flimmerndes Herz, sich bewegende Arme und Beine, sogar das Profil eines Köpfchens. Immer noch recht vage, eigentlich so, wie fast jedes Kind im Mutterleib aussehen könnte. Ein kleines Detail, das genauere Rückschlüsse zulassen könnte, hielt das Kind bestens versteckt. Es weckte bei den Eltern die freudige Erwartung auf eine kleine Charlotte. Welche Überraschung, dass es anders kam als erwartet: Ein kleiner Ruben wurde geboren. Und für die Großeltern mit ihrer Hoffnung auf einen ersten männlichen Enkel noch eine überraschende Steigerung der Freude.
Freude von außen zu bewirken oder sie sich selbst zu verschaffen gelingt nicht. Sie kommt wie ein Wunder!

ADVENT – Warten auf ein Wunder?
Für den mahnenden Prediger Johannes stellt sich der Advent anders dar: Als eine Zeit der Buße, der Umkehr und Neuorientierung, weil es unbedingt und dringend nötig ist. Die Auflistung einer Reihe von Mächtigen seiner Zeit ruft den Menschen ins Bewusstsein, dass ihr Leben unter verschiedenen Fremdbestimmungen steht. Ihr Land ist besetzt von römischer Herrschermacht. An den Wegen, die sie zurücklegen, um von einem Ort zum nächsten zu gelangen, stehen überall Zollstationen, wo sie der Willkür der Zöllner ausgeliefert sind. Eine allgegenwärtige Präsenz des Militärs ist weniger zu ihrem Schutz, sondern vielmehr eine Last: Soldaten, die sich unrechtmäßig und gewaltsam nehmen, was sie haben wollen. Die Aufzählung der Herren ihrer Zeit lässt die Menschen erkennen, wie ihr Leben eingebunden ist in Umstände, die sie nicht ändern können. In unheilvolle Zusammenhänge, die ihnen und anderen Unrecht antun. Das Heil der Welt lässt auf sich warten. Und von den Mächtigen, den Reichen ihrer Zeit haben die einfachen Leute nichts Gutes zu erwarten.
Aber muss man sich mit all dem abfinden? Reicht es, zu versuchen, irgendwie sein eigenes „Schäfchen ins Trockene“ zu bringen, nach dem Motto: „Hauptsache, mir geht`s gut! An den üblen gesellschaftlichen Zuständen kann ich, als kleiner Mensch, sowieso nichts ändern!“

Weshalb kommen die Menschen zu Johannes? Suchen sie ihr privates Stückchen Glück in der Taufe zur Schuldvergebung? Reicht es ihnen aus, bestätigt zu bekommen, dass sie alles getan haben, was unter den gegebenen Umständen möglich ist, um irgendwie anständig zu leben?

Für Johannes geht es weder um Anklang und Popularität bei den Leuten, die ihm zuhören, noch um geschliffene, einschmeichelnde Worte. Es geht ihm um das, was wir tun, wie wir leben. Um unsere menschliche Einstellung, um unser Verhalten. Mit bissigen, verletzenden, ja unverschämten Worten staucht er seine Hörer zusammen: Tut Buße! Kehrt um, ändert euer Leben! Tut Gutes, eben das, was Gott als Selbstverständlichkeit von euch erwartet! Herbe, unbequeme Worte. Eine Publikumsbeschimpfung, die Geschichte gemacht hat: Ihr Schlangenbrut! Glaubt ihr etwa, dass ihr aufgrund eurer Zugehörigkeit zum Gottesvolk von Gottes Zorngericht ausgenommen seid? (Lk 3,7)

Johannes, der zornige Prediger in der Wüste, enttäuscht die Erwartungen seiner Zuhörer absichtlich, ganz bewusst. Keine krummen Wege lässt er durchgehen, keine Berg- und Talfahrt, die von Wahrheit und offener Ehrlichkeit ablenken will. Auf geradem Weg soll jeder Mensch sein Ziel erreichen. Aber wie sieht dieser Weg konkret aus? Was sollen wir denn tun?

Johannes predigt eine Buß-Taufe. Er redet vom Untergang des alten Menschen im Jordanwasser und vom Auftauchen eines ganz neuen, von Schuld gereinigten Menschen hinein in ein neues Leben. Wenn wir ein Menschenkind taufen (wie heute zum Beispiel Nele Sophie), dann tun wir das wohl in ganz anderer Erwartung. Wir hoffen auf himmlischen Beistand, auf Schutz und Bewahrung. Wir hoffen auf Gottes Segen, der dieses Menschenkind wie einen Schirm vor schlimmen, tränenreichen Erfahrungen schützen soll.
Doch Johannes predigt einen anderen, einen herausfordernden Gott. Einen Gott, der seinen Anspruch an uns Menschen stellt. Einen Gott, der seine Geschöpfe nicht wie Marionetten am Bändchen hält, sondern vielmehr uns Freiraum schenkt. Freien Raum für eigene Entscheidungen, die wir selbst zu verantworten haben. Freiraum auch zu Taten und Erfahrungen, die uns belasten, schmerzen oder in die Enge treiben können.
Johannes predigt keinen sanften, butterweichen Gott, sondern einen strengen, ernstzunehmenden Gott. Diesem Gott ist es nicht gleichgültig, wie wir handeln, wie wir mit anderen und mit uns selber umgehen. Dieser Gott fordert Rechenschaft und Umkehr, nicht nur dort, wo ganz offensichtlich falsche Wege gegangen werden, sondern auch dort, wo ein Gefühl der Selbstgerechtigkeit den kritischen Blick auf das eigenen Tun verstellt.

Was Johannes predigt, ähnelt einer elterlichen Erziehung: Solange wir unseren Kindern immer nur nachgeben, ihnen keine Grenzen setzen, können sie ihre Kräfte nicht erproben. Ihre Wege nicht an uns orientieren. Wenn wir ihnen jedoch einen Rahmen vorgeben, Ethik und Moral vorleben, können sie daran ihre eigenen Wertvorstellungen ausprobieren und messen.

Die Rahmenrichtlinien für ein gottgefälliges Leben, die Johannes vorgibt, erscheinen wie simple „Allerwelts“-Regeln: Die Zöllner sollen nicht mehr fordern, als ihnen das Recht zugesteht. Die Soldaten sollen ihre Macht nicht zum Schaden anderer ausnutzen. Und wir alle sind von Johannes gehalten, unseren Besitz mit den Bedürftigen zu teilen.

Mehr verlangt er nicht? Nein, weniger verlangt er nicht! Das oft Gehörte, das allzu Vertraute und Selbstverständliche muss anscheinend immer wieder gesagt und konkret beschrieben werden. Das neue Leben aus der Taufe soll an jenem Ort anfangen, wo wir leben: Im Alltag, bei der Arbeit, in der Familie, bei den Menschen, die mit uns leben. Wenn Johannes vom Teilen und Abgeben spricht, geht es ihm vielleicht nicht darum, Besitz und Habe akribisch genau aufzuteilen, sondern eher darum, dass wir einen Blick dafür gewinnen, was wir einander schuldig sind. Dass wir uns Gedanken darüber machen, was wir selbst dazu beitragen können, damit alle Geschöpfe Gottes leben und überleben können.

Das Abgeben und Teilen – nicht nur von Geld, auch von Zeit und Mitgefühl, von Rücksicht und Anteilnahme – ist ein grundlegendes Problem unserer Zeit. Wir wissen schon, was wir einander schuldig wären, doch an der Umsetzung vom Wissen in die Tat hapert es immer noch.

Die Stimme des Predigers in der Wüste stört und stößt an. Sie lässt uns den Advent nicht gemütlich feiern oder bequem genießen. Sie fordert heraus. Und das ist gut so! Sanfte Worte hören wir zu Genüge. Freundliche, unverbindliche Worte, die sich nicht festlegen lassen, umgeben uns wie Wattebäuschen vor der harten Realität. Mit ihnen lässt sich wenig anfangen. Sie widerstehen keinem Druck, sondern geben nach und verpuffen.
Johannes aber drängt und widersteht. Seine Botschaft hat er sich nicht selbst ausgewählt, aber sie ist ihm wichtig, mindestens genauso wichtig wie die Menschen, zu denen er spricht. Doch er ist ein Rufer in der Wüste, ein Mahner aus der Distanz. Er kommt den Menschen nicht nahe, sondern bleibt ein merkwürdig fremdes Sprachrohr Gottes.

Auch Jesus fordert zur Umkehr auf. Auch er predigt vom Neuen Leben, das mit der Taufe schon hier und heute beginnen soll. Doch er tut es nicht aus der Distanz heraus, er kommt den Menschen hautnahe. Er geht in ihre Häuser, teilt ihr Leben, ihre Sorgen, kennt ihre Nöte. Und allen, die sich nach einem neuen Leben sehnen, spricht er Gottes Nähe zu. Nicht der brennend-zornige, fordernde Gott steht im Mittelpunkt seiner Rede und seines Handelns, sondern der liebende, versöhnende Gott, der großzügig sich selbst verschenkt.

„Kehrt um, denn Gottes neue Welt ist nahe!“ Was bei Johannes wie eine Drohung klingt, wird im Munde Jesu zu einer Einladung. Johannes und Jesus sind wie zwei ungleiche Brüder, und zugleich beide wichtig. Johannes bereitet den Weg vor. Er stellt uns klar vor Augen, wie ernst die Situation ist, und wie notwendig die Umkehr. Er enttäuscht unsere falschen Erwartungen.

Jesus aber überbietet die Botschaft des Johannes. Er ermutigt uns zu ganz neuen, heil- und hoffnungsvollen Erwartungen: Umkehr ist nicht nur nötig, sie wird uns auch möglich! Weil Gott in seiner Liebe uns längst zuvorkommt. Weil er uns in Jesus als Mensch und Mitmensch entgegenkommt. Das Heil, das Gott seiner Welt schenkt, ist schon längst auf den Weg gebracht. Wir schauen es im Kind in der Krippe. Wir ahnen es im Bild des Gekreuzigten.

Johannes ist der Wegbereiter, aber Jesus selbst ist der Weg, auf dem wir gehen können. All unsere Lebenswege, durch manche Nacht von Leid und Schuld, durch tiefe Täler der Enttäuschung, genauso wie über die unzähligen Gipfel des Glücks. Das dürfen wir erwarten – nicht nur im Advent. Überrascht, neugierig und gespannt – wie ein Wunder!    
Amen.