Führen und folgen - Predigt zu Johannes 10, 11-16, 27-30 von André Demut
10, 11-16, 27-30

Führen und folgen - Predigt zu Johannes 10, 11-16, 27-30 von André Demut

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!

 

Liebe Gemeinde!

Den Bibeltext für die heutige Predigt haben wir bereits als Evangelium gehört. Ich lese ihn noch einmal nach einer anderen Übersetzung:

Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirt. Ein guter Hirt ist bereit, für seine Schafe zu sterben. Einer, dem die Schafe nicht selbst gehören, ist kein richtiger Hirt. Darum lässt er sie im Stich, wenn er den Wolf kommen sieht, und läuft davon. Dann stürzt sich der Wolf auf die Schafe und jagt die Herde auseinander. Wer die Schafe nur gegen Lohn hütet, läuft davon; denn die Schafe sind ihm gleichgültig. Ich bin der gute Hirt. Ich kenne meine Schafe und sie kennen mich, so wie der Vater mich kennt und ich ihn kenne. Ich bin bereit, für sie zu sterben. Ich habe noch andere Schafe, die nicht zu diesem Schafstall gehören; auch die muss ich herbeibringen. Sie werden auf meine Stimme hören, und alle werden in einer Herde unter einem Hirten vereint sein. … Meine Schafe hören auf mich. Ich kenne sie und sie folgen mir. Ich gebe ihnen das ewige Leben und sie werden niemals umkommen. Niemand kann sie mir aus den Händen reißen, weil niemand sie aus den Händen meines Vaters reißen kann. Er schützt die, die er mir gegeben hat; denn er ist mächtiger als alle. Der Vater und ich sind untrennbar eins.«1

 

„Führen und Folgen“ war die Überschrift eines Tanz-Workshops, an dem meine Frau und ich am letzten Wochenende teilnahmen.

Beim Tanzen sind die Rollen klar verteilt: Der Mann führt, die Frau lässt sich führen.  So zumindest die Theorie.  Wer das als Mann schon einmal versucht hat – oder gar regelmäßig tanzen geht – weiß, wie anspruchsvoll gutes Führen ist. Es kommt darauf an, dass ich selbst weiß, was ich als Nächstes machen möchte – und dass ich dies dann meiner Partnerin ohne Worte, nur durch meine Körpersprache, anzeige. Schlechtes Führen ist viel einfacher – und es passiert leider manchmal, dass ich schlecht führe.  Das kann dann so aussehen, dass ich gar nicht führe und meine Frau die Führung übernehmen muss, wenn wir bestimmte  Figuren tanzen wollen. Oder, die andere Variante schlechten Führens:  Ich weiß zwar, was ich als Nächstes machen will und ich mache auch die Bewegungen, die in die neue Figur führen sollen – doch mein Führen ist nicht wirklich ein Führen,  sondern ein Zwingen,  ein Drängen,  ein Überwältigen.

Die Partnerin kann sich dann nicht gut führen lassen, weil ihr jede eigene Freiheit genommen ist bei solch einer schlechten Führung. Wenn ich gut führe, biete ich durch meine Körperspannung und durch eindeutige Signale an, was wir als Nächstes machen können. Und meine Tanzpartnerin hat dann genügend Raum, genügend Luft zum Atmen, genügend Zeit zum Reagieren,  um sich auf das Führungsangebot einzulassen. Gute Führung zwingt die Geführten nicht, bedrängt sie nicht und überwältigt sie nicht. 

In unserem heutigen Bibeltext unterscheidet Christus gute Hirten von schlechten Hirten, gutes Führen von schlechtem Führen. Ein guter Hirte ist bereit, für die Geführten notfalls sein eigenes Leben zu geben. Ein schlechter Hirte lässt die Geführten im Stich, sobald ein ernsthaftes Problem auftaucht.  Ein guter Hirte kennt diejenigen wirklich, für die er Leitungsverantwortung trägt. Einem schlechten Hirten sind die Geführten im Grunde egal. Ein guter Hirte weiß, dass er selbst jemanden über sich hat, ich zitiere nochmal aus der Christus-Rede: „Ich kenne meine Schafe und sie kennen mich, 15 so wie der Vater mich kennt und ich ihn kenne … und der Vater ist mächtiger als alle.“ Ein schlechter Hirte tut so, als sei er niemandem außer sich selbst Rechenschaft schuldig.     

Wenn wir über das Johannesevangelium hinausblicken, sehen wir noch mehr, was einen guten Hirten, eine gute Führerin, einen guten Leiter ausmacht: „Und Jesus … sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an.“ (Mk 6, 34), so heißt es im Markusevangelium.

Man zuckt ein wenig, wenn man das liest: „Er fing eine lange Predigt an.“ Gott sei Dank wissen wir, wie die Geschichte weitergeht: Dieser Hirte wird sich dann auch um das leibliche Wohl der Volksmenge kümmern – es folgt nämlich die Geschichte der wunderbaren Brotvermehrung. Sie teilen das, was sie dabeihaben – und alle werden satt. Auf die Seelsorge folgt die Leibsorge. Leibsorge und Seelsorge gehören zusammen.Dieser Hirte speist die an Leib und Seele Geplagten nicht mit einer Predigt ab. Dieser Führer hat alle Bedürfnisse der ihm Anvertrauten im Blick. Doch dieser Leiter speist die Geführten auch nicht ab mit Brot und Spielen,

mit Wachstumsraten und Konjunkturdaten, mit abgedroschenen Phrasen und leeren Worthülsen. Dieser Hirte hat wirklich etwas zu sagen, weil er vorher selber genau hingehört hat,  er hält eine Predigt, er legt das Wort Gottes aus, er schenkt Orientierung: durch eine gute Rede, durch kluge Argumente, durch geistige Impulse, die den Zuhörenden wirklich etwas zu denken geben. Er nimmt die Geführten ernst, indem er ihnen geistige Nahrung für ihr eigenes Denken zumutet. Dieser Leiter tappt nicht in die Zynismus-Falle. Dieser Führer sagt sich nicht: „Die Schafe wollen eh nur einen gefüllten Magen haben. Denken wollen die nicht, dafür sind sie zu dumm und zu träge.“

Nein, dieser Hirte stellt die Predigt sogar an die erste Stelle, ehe er das Brot austeilt. Was für eine Freiheit beim Führen! Und wie viel traut er den Geführten zu! Dieser Hirte bietet eindeutige Signale an, was wir als Nächstes machen können. Dieser Führer überwältigt nicht. Dieser Leiter drängt nicht. Dieser Hirte manipuliert nicht. Von diesem Leiter werden die Geführten ernst genommen. Dieser Führer traut den Geführten zu, dass sie selbst mitdenken. Dieser Hirte kultiviert nicht das „dumme Schaf“, sondern, wenn wir mal im Hirt-und-Herde-Bild bleiben, das „intelligente Schaf“.    

 

Ein „intelligentes Schaf“ scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Doch Achtung: Vielleicht zeugt es einfach nur von unserer menschlichen Arroganz, wenn wir gern die Bildrede vom „dummen Schaf“ verwenden.  Eine Studie der Universität Cambridge förderte ein erstaunliches Ergebnis zutage: Stellen Sie sich vor: Zwei Bildschirme an der Wand, darunter je ein Ausgabeschacht für Leckerlis, in der Mitte ein Schaf. Per Zufallsgenerator werden sodann Fotos von Barack Obama und drei anderen Prominenten im Wechsel mit unbekannten Gesichtern, Gegenständen oder einem schwarzen Monitor gezeigt. Im Vorfeld der Studie waren dem Tier wiederholt Porträts der Prominenten gezeigt worden.

Das Schaf muss nun entscheiden, auf welchem Bildschirm ein Prominenter gezeigt wird. Irrt es sich, ertönt ein Hupton. Hat es recht, bekommt es zur Belohnung einen Getreidehappen. Die Versuchsergebnisse erstaunten die Wissenschaftler um die Neurobiologin Jenny Morton: Das Welsh-Mountain-Schaf war in acht von zehn Fällen in der Lage, im Abgleich den Prominenten zu identifizieren. Dass Schafe ihre Hirten erkennen können, war im Vorfeld des Versuchs bekannt - nicht jedoch, dass sie vier bekannte Gesichter von unbekannten unterscheiden können.2

„Führen und folgen“. Es gibt gute Hirten und es gibt schlechte Hirten. Die Guten trauen ihren Schafen etwas zu, sie respektieren sie als selbständige Gegenüber und sehen sie nicht als „dumme Schafe“.  Und für sich wissen die guten Hirten, dass sie selbst auch Führung und Orientierung brauchen, um anderen gute Orientierung geben zu können. Sie führen gut, weil sie auch folgen können – und nicht selbstherrlich um sich selber kreisen.

„Führen und folgen“ Niemand ist nur Hirte. Nicht einmal Christus. Und niemand ist ganz Schaf.  Oder anders gesagt:  Es ist keine Schande, sich führen zu lassen – es kommt nur darauf an, ein intelligentes Schaf zu sein: eins, das guter von schlechter Führung unterscheidet, eins, das sich verweigert, wenn es manipuliert und überwältigt werden soll eins, das Freude am Mitdenken hat eins, das sich am guten Hirten orientiert und weiß, worauf es ankommt beim „Führen und folgen“.  

Der Friede Gottes, der höher ist als aller Menschen Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn

 

1 I Joh 10, 11-16.27-30 Gute Nachricht

Perikope
Datum 05.05.2019
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 10, 11-16, 27-30