Fürchtet euch nicht vor ihnen! - Predigt zu Matthäus 10, 26-33 von Gerhard Ulrich
10, 26-33

Liebe Gemeinde!

„Fürchtet euch nicht…!!! Dreimal hämmert der Text, den wir eben als Evangelium gehört haben, uns das ins Gehör. Fürchtet euch nicht vor ihnen, die euch Böses wollen. Die euch nachstellen. Die Falsches behaupten: fake News über euch verbreiten und über die Welt. Fürchten müsst ihr euch nur vor dem, was nicht vor aller Augen offen daliegt. Es ist aber „…nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.“ Keine Verschwörung Gottes, keine Manipulation der Sinne. Die Menschen damals, vor mehr als 500 Jahren, die sich ausgeliefert sahen den Mächten und Mächtigen, die keine Chance hatten, zu verstehen oder gar sich einzumischen: sie fürchteten sich vor denen, die sie klein hielten und ausbeuteten, abhängig machten. Ihnen galt das „Fürchtet euch nicht“ Jesu, das die Reformatoren verstärkten: Ihr seid Gottes geliebte Kinder! Euch gilt seine Gnade, seine Liebe. Euch will er brauchen.

Fürchtet euch nicht: diese Ermutigung können wir brauchen in einer Zeit, in der wir uns sehr wohl fürchten um unser Leben, das bedroht ist von einem unsichtbaren Virus. Der eben nicht offenbar ist, außer in seiner Wirkung. Der unser tägliches Leben, wie wir es gewohnt waren und wie wir es brauchen, zu Teilen außer Gefecht setzt.  Der dafür sorgt, dass Kultur und Gemeinschaft, dass alles, was Leben fördert, bedrohlich wird, weil zu große Nähe und zu kleine Abstände zwischen uns nicht heil, sondern krank machen. Der unsere täglichen Freiheiten einschränkt. Wir fürchten uns vor dem Erreger, der Millionen Menschen weltweit infiziert und Hunderttausende getötet hat, der Gesundheitssysteme an ihr Limit bringt und darüber hinaus, der Menschen und Betriebe in den Konkurs treibt, der die Kluft zwischen Armen und Reichen weltweit übel vergrößert. Es ist zum Fürchten, finde ich, wenn Existenzen zu Boden gehen und Arbeitsplätze wegbrechen und der Schrecken offenbar kein Ende nimmt und wir mittendrin sind, unausweichlich, ausgeliefert. Und der in unserer Gesellschaft ein Gesicht offenlegt, das nicht freundliche Solidarität, Empathie und Verantwortung zeigt, sondern zu oft Egoismus, Hass und Leugnung dessen, was offenbar ist. Aber die wahre Hölle ist woanders: da, wo der Virus den Hunger verstärkt, wo Klimakatastrophen Leben unmöglich machen; wo Menschen im Meer ertrinken auf der Flucht; wo in Flüchtlingslagern der Welt Menschen umkommen und dem Virus und anderen Schrecken nicht entkommen können; wo die Welt zurecht-gelogen wird und der Blick verweigert wird über den Tellerrand der eigenen bürgerlichen Sattheit hinaus. Die Hölle ist nicht da, wo wir uns einschränken müssen, um uns und andere zu schützen. Die Hölle ist nicht der Mund- Nasenschutz.

Ich finde schon zum Fürchten jene, die keinen Respekt zeigen gegenüber der Realität der Welt – weil sie die offenbare Realität der Welt nicht wahrhaben wollen in ihrer Angst und Schuldige suchen, Mahnerinnen und Mahner bedrohen: um so zum Schweigen zu bringen, was Angst macht, eng und lahm. Ich finde zum Fürchten, wenn Hunderttausende, die an dem Virus gestorben sind, nicht gesehen, nicht betrauert werden und nicht zur Umkehr bringen. Ich finde zum Fürchten manche, die sich brüsten, sich nicht zu fürchten

„Fürchte dich nicht vor ihnen“. Jesus ermutigt die Seinen, den Kopf zu heben, sich der Anziehungskraft des Fürchterlichen zu entziehen: da ist nicht nur die Realität der Welt, da ist auch Gottes Realität in ihr! Er macht offenbar, was verborgen ist. Und er selbst bleibt nicht verborgen, zeigt sich in dem, den er gesandt hat zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen! Rauf auf die Dächer. Auf den Mund!

Matthäus überliefert die Worte unseres Predigttextes innerhalb der so genannten „Aussendungsrede“ an die Seinen: „Siehe, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe“, hatte er gesagt. Geht hin. Erzählt vom nahen Himmelreich. Heilt. Geht an der Seite der Schwachen und Elenden. Habt Acht auf Euch und sie. Und stellt euch darauf ein, dass euer Weg kein Spaziergang ist, sondern rechnet mit Widerspruch, Widerstand. Und vertraut darauf, dass aller Schrecken nicht die Sprache verschlagen muss.

„Was ich euch sage in der Finsternis, redet im Licht; und was euch gesagt wird ins Ohr, das verkündigt von den Dächern.“ Damit offenbar ist beides: was zum Fürchten ist und was aufhilft, heilt und zurechtbringt.

Zu einer der vielen Talkshow-Runden zu Corona war die Schriftstellerin Thea Dorn zu Gast. Sie sei kein gläubiger Mensch, sagt sie. Überhaupt: „Wir sind eine vom Glauben abgefallene Gesellschaft“, die nicht mehr an ein Paradies oder das ewige Leben glaubt. Dann aber erzählt Frau Dorn, wie sie auf dem Weg zum Studio an einer Kirche vorbeigekommen sei. Draußen hing ein großes Transparent mit einem Zitat aus einem der Paulusbriefe. „Und ich“, so Dorn, „hätte nicht gedacht, dass ich mal in einem Fernsehstudio sitzen würde und sagen werde: Der klügste Satz, den ich heute gehört habe, war ein Bibelzitat von Paulus! Und zwar stand da drauf: ‚Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit‘.“ Der Satz habe sie „in einer gewissen Weise umgehauen, weil ich den Eindruck habe, wir lassen uns im Augenblick massiv vom Geist der Furcht leiten und nicht vom Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Und ich glaube, dass das nicht gut ist, wenn die Gesellschaft anfängt, sich vom Geist der Furcht bestimmen zu lassen.“

Von Gottes Wort regierte Herzen regieren die Welt anders: mit Liebe, zur Freiheit, barmherzig. Solche Herzen sind unruhige Herzen, die sich nicht zufrieden geben mit dem, was immer schon so war. Was wir erleben und erleiden, ist nicht alles. Da ist nicht nur Hölle, da ist auch Himmel. Die heben den Blick und sehen die Welt, nicht nur sich selbst: nicht müssen bleiben Hass und Verfolgung; Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich ist nicht gottgewolltes Schicksalsgefüge, sondern von Menschen entfachter Irrsinn; das Recht der Starken gegen die Schwachen ist nicht der Weg des göttlichen Heils, sondern menschlicher Irrweg; der Wert des Menschen und seine Würde hängen nicht ab von Leistung und Reichtum, Schönheit und Klugheit! Das Wort Gottes selbst will frei machen von Zwängen. Frei machen, indem es offenbart beides: die Realität der Welt und die Realität Gottes in ihr.

„Fürchtet euch nicht“ – das heißt ja nicht: es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Den gibt es sehr wohl: ein außer Rand und Band geratener Markt macht Angst; Diktatoren, die auf ihr eigenes Volk losgehen, machen Angst. Nicht wissen, ob der Lohn für die eigene Arbeit zum Leben reicht, macht Angst.

Fürchte dich nicht, heißt: schau hin, ruf es von den Dächern, was Gott will; sieh hin, wie er sich stellt an die Seite der Armen und Schwachen, der Elenden Stimme ist.

Ich weiß natürlich: das Offenbar-Werden, das Offenbar-Machen ist noch kein Wert an sich. Eine Befreiung wird das erst, wenn zugleich offenbar, hörbar, sichtbar und glaubbar wird Gottes Liebe, Gottes Geschichte mit der Welt. Das „Fürchtet euch nicht“ ist nur im Zusammenhang mit der Gottesfurcht eine befreiende Kraft, eine Realität. „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.“

Auch das ist offenbar, ist Realismus Gottes: Gott wirkt. Ihm ist nicht gleichgültig, was geschieht. Gott sagt nicht, dass kein Spatz mehr zu Boden fällt und kein Mensch ohne Leid bleibt. Er sagt nicht, dass alle genesen, dass alle überleben und dass alles gut wird. Er leugnet nicht das Kreuz – Zeichen des Lebens und der Hoffnung durch den Tod hindurch. Aber er verheißt seine Gegenwart im finsteren Tal und auf satten Wiesen – durch Himmel und Hölle. Er ist es, der in Händen hält Anfang und Ende. „Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.“

Ich bin dankbar für die vielen furchtlosen Gottesfürchter an meinem Lebensweg, die mich gelehrt haben, hinzuschauen, den Mund aufzutun und die Hände. Die mich ermutigt haben, gewiss zu sein, dass wirklich Furcht nicht ist, wo Gott selbst hörbar ist:

Dass offenbar wird, dass nicht verborgen bleibt das Schreckliche, ist eine Befreiung, wenn zugleich gewiss ist, dass offenbar wird der Wille Gottes, sein liebevolles Wort, das zurechtbringt.

Der Glaube, der die Realität der Welt sieht und die Gottes darin gleichermaßen, führt zu der Tat des Friedens, in den Widerspruch gegen Ungerechtigkeit, in die Konfrontation mit dem wieder aufstehenden Hass gegen alles Fremde. Und dieser Glaube hat Trost parat für die, die in Ängsten gefangen sind und im Hass.

Himmel und Erde kommen zusammen, wo Menschen aufstehen, den Mund auftun und die Hände und die Herzen. Wo sie nicht nur um des eigenen Vorteils willen ihre Entscheidungen treffen, sondern weil sie den Nächsten im Blick haben, den Bruder, die Schwester. Zur Reformation in die Nähe Gottes hinein sind wir gerufen.

Was uns in das Ohr gesagt wurde, das werden wir weiter von den Dächern rufen in alle Welt. „Fürchtet euch nicht vor ihnen! Schaut allein auf Christus – den Gekreuzigten und Auferstandenen!“

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Landesbischof em. Dr. h.c. Gerhard Ulrich

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es kann nicht anders sein: die dramatische Zuspitzung der Pandemie und die Sorgen der Menschen, die damit verbunden sind, stehen mir vor Augen. Jesu „Fürchtet euch nicht…“ kommt da gerade recht.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Text bietet keinen falschen Trost: Gottes Realismus schließt die Bedrohung an Leib und Seele nicht aus, sondern ein. Entscheidend: es ist Gott, der uns nicht aus den Au-gen und aus den Händen lässt.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass offenbar wird, also auf den Tisch kommt die Realität der Welt und die Realität Gottes in ihr: das ist der Grund der Freiheit und für die Überwindung aller Furcht: das Fürchterliche und das Rettende sind gleichermaßen offenbar.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich muss nicht Martin Luther zitieren, um eine Predigt zum Reformationsfest zu ver-fassen…

 

Perikope
31.10.2020
10, 26-33