"Ganz der Vater" - Predigt über Johannes 8, 21-30 von Werner Grimm
8,21
Predigt über Joh 8,21-30 am Sonntag Reminiszere 2013
Ganz der Vater
Liebe Gemeinde!
Wenn ihr nicht glaubt, daß ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden.Originalton Jesus.
Jedem anderen Menschen würden wir antworten: Welche Anmaßung! Welche Selbstüberschätzung! Welche unglaubliche Ichbezogenheit! Gibt es überhaupt irgendetwas in dieser aggressiven Rede Jesu, das wir ernstnehmen könnten? Gibt es irgendetwas mitzunehmen oder zu lernen von diesem Jesus, wie ihn der Evangelist Johannes sprechen lässt?
Da fällt allerdings eine verärgerte Reaktion Jesu auf. „Wer bist du denn?“, haben sie ihn im Jerusalemer Tempel gefragt. Nachdem jeder Verständigungsversuch mit einem Missverständnis geendet hatte – dann fragen wir dich halt ganz direkt, sag’s halt!
Wer ist er denn? Das ist allerdings eine Grundfrage, die sich jede Generation der Christen neu stellen muss: Wer ist er eigentlich? Mit Hoheitstiteln wie Messias, Menschensohn, Gottessohn, Rabbi, Prophet oder Gottesknecht haben es seine ersten Jünger versucht zu sagen; „Verführer“ haben ihn die geschimpft, die seinen Anspruch verwarfen. Aber auch die christlichen Theologen mussten in den folgenden Jahrhunderten erklären, was sie denn mit den Titeln meinten, mit denen sie ihn scheinbar eingefangen hatten. Da spielte ihnen dann der Zeitgeist manchen Streich. Vor 250 Jahren in der Zeit der Aufklärung, als es hieß: „wage dich deines Verstandes zu bedienen“, da sah man in Jesus prompt einen großen Lehrer der Vernunft und einer einsichtigen Moral. Als nach 1800 die Romantik in Deutschland herrschte, wurde Jesus zum Einweiser in religiöse Gefühle und Stimmungen. 1968 machte ihn die Studentenbewegung zum Sozialrevolutionär a la Che Guevara. Später als C.G.Jung und die Tiefenpsychologie in die Theologie drangen, beschrieb Hanna Wolff, meine Religionslehrerin, Jesus als den ersten psychisch gelungenen Mann und als einfühlsamen Psychotherapeuten, der alle Neurosen heilen kann. Vielleicht verstehen ihn heute viele Christen als den Schirmherrn seiner Wohlfühl-Gemeinden, in denen die vielfältigen Bedürfnisse nach Gemeinschaft und events befriedigt werden.
Ist Jesus Spielball von wechselnden Sehnsüchten? Ist er Lichtbilderleinwand immer neuer Projektionen menschlicher Philosophien? Nämlich der Weltanschauungen derer, die von unten sind, von dieser Welt eben?
Warum wird Jesus so böse, als sie ihn fragen: Nun sag schon, wer bist du? Spürt er, dass sie ihn auf einen Begriff und damit in den Griff kriegen wollen? Dass sie einen Titel verlangen, wo doch ...?
Wo doch was? Wo man doch zur Erkenntnis eines Menschen und eben auch des Menschen Jesus Christus auf ganz andere Weise gelangt. Wie? Gleichermaßen schlicht und tiefsinnig erzählt es Erich Kästner in seinen Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“:
Unser Klassenlehrer Lehmann – Man hatte uns berichtet, daß man bei ihm in einem Jahr mehr lernen müsse als anderswo in zwei Jahren... Außerdem hatte man uns erzählt, daß er pro Woche einen Rohrstock verbrauche. Wir zitterten vor ihm, noch bevor wir ihn kannten, und wir zitterten noch mehr, als wir ihn kennengelernt hatten...Während einer Frühstückspause trat er im Schulhof zu mir und fragte obenhin: „Willst du am Sonntag mit mir in die sächsische Schweiz fahren?“ Erich Kästner erinnert sich, wie er sehr verdutzt war, aber dann doch mitkam.Auf diesem Ausflug lernte der Schüler seinen Lehrer anders kennen ... Lehrer Lehmann verstand, den Steinen zuzuhören. Er begriff die Dialekte der Vögel. Er studierte die Spuren des Wildes ... Er kannte die Gräser beim Vornamen ... Die Natur war vor ihm aufgeschlagen wie ein Buch, und er las mir daraus vor ... Als ich mich für den schönen Tag bedankte, versuchte er wieder zu lächeln: „Ich wäre ein ganz brauchbarer Hauslehrer geworden und Reiseführer für drei, vier Kinder. Das brächte ich zuwege. Doch dreißig Schüler, das sind für mich fünfundzwanzig zu viel.“ Damit ging er. Ich sah hinter ihm drein ... Er ging allein. Er wohnte allein. Er lebte allein. Und hatte 25 Schüler zu viel.[1]
Wer einen Menschen kennenlernen will, muss sich auf ihn einlassen. In seine Welt mitgehen und ihn dort neu „entdecken“. Ihn selber, hinter der Fassade seines Selbstschutzes, sehen - sehen mit dem, was sein Herz höher schlagen lässt, wie auch mit dem, was seine tägliche Angst ausmacht. Und es hätte uns dieser Mensch womöglich viel zu sagen und zu geben, wenn er nur die Chance bekäme, die anderen Facetten seiner Persönlichkeit zu zeigen. Wenn seine Lebensumstände seiner Selbstverwirklichung nicht so arg hinderlich wären. Dann könnte er uns womöglich mit ungeahnten Dimensionen des Lebens zusammenbringen, die uns sonst verschlossen bleiben. Und könnte unser Leben befruchten.
Und genau dieses zwischenmenschliche Geheimnis trifft auch für die religiöse Erkenntnis zu. Genau dieses vermöchte Jesus: uns mit den ungeahnten Dimensionen des Daseins zusammenbringen, wenn wir – wenn wir uns im Glauben auf ihn einlassen und Wege mit ihm gehen und gespannt warten, was dann in uns und mit uns passiert. Er würde unser Leben in Geheimnisse hineinziehen, dass wir aus dem Staunen nicht mehr herauskämen; er würde uns mit der Herkunft und mit dem Urgrund seines heiligen und heilen Lebens zusammenbringen; er würde uns seiner Wahrheit zuführen – und das hieße, er würde uns hineinnehmen in seine Kommunikation mit dem, den er seinen und unseren Vater nennt.
Denn das ist das Ziel des schwierigen Gesprächs, auf das Jesus hier hinaus will: Dann werdet ihr erkennen, daß ich nichts von mir selber tue, sondern wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. Das hätten die Menschen damals erkennen sollen: Er ist ganz der Vater – der Vater im Himmel! Das wäre es gewesen.
Ganz der Vater! Unter uns hören wir das oft – ein beinahe geflügeltes Wort, ein Ausruf des Erstaunens: Da steht jemand vor einem – seinem Vater zum Verwechseln ähnlich – wie sehr hat ihn offenbar das genetische Erbe und das Vor-Leben und die Erziehung des Vaters geprägt – so sehr, dass man die Stimme und die Reaktionen und Verhaltensweisen von denen des Vaters kaum unterscheiden kann.
Jesus ist von dem „ganz anderen Vater“ geprägt, und es gibt wohl eine Stelle in seinem Leben, da blicken wir ein wenig hinein in das Geheimnis seiner Prägung, und es ist zugleich die Stelle, an der er uns gewissermaßen hineinziehen will in dieses Präge-Geschehen, in dem auch wir zu Kindern Gottes werden. Es ist das Vaterunser, das er den Jüngern und der Christenheit geschenkt hat – ein „hörendes“ Gebet, sein Gebet und unser Gebet. In ihm er das „Mein Vater" zum Vater unser im Himmel geöffnet.
„Geheiligt werde dein Name“: Und wie wir’s aussprechen, ergreift uns Ehrfurcht vor dem, der Himmel und Erde und millionenfältiges Leben darin erschaffen und alle seine Lebewesen mit einem Wohnraum bedacht hat. Wie könnten wir anders auf dieser Erde wandeln als in Ehrfurcht vor dem Leben – in allen seinen Erscheinungsformen?
Dein Reich komme!Wie arg wurde und wird unsere Heilssehnsucht missbraucht von Machthabern, die uns benutzen. Die „Untertanen“ in ihrem „Reich“ wie Puppen halten, die nach ihrer Melodie tanzen sollen. Und es wird uns wieder einmal bewusst, dass keine noch so demokratisch begründete Herrschaft und keine noch so perfekte Technik aus der Welt schaffen kann, was sie krank macht. Die Dominanz von Geld, Gier und Größenwahn und die Versuchung zum Machtmissbrauch spüren wir in allen treibenden Kräften der Politik schmerzlich, auch in unseren eigenen Antrieben. Und ungebrochen ist allemal die Macht des Todes, gegen sie ist am Ende kein noch so „biologisches“ Kraut gewachsen. Wir tasten nach dem Heilenden, wir lassen nicht von der Bemühung. Aber die Sehnsucht nach dem Tag, an dem Gott alle Macht im Himmel und auf Erden in die Hand nimmt, bleibt, und wir lassen sie leben.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – so flehen wir mit Jesus, dass der Vater im Himmel mit der Kraft seines mütterlichen Erbarmens in der Weltgeschichte endlich seine guten Pläne durchsetze – ja wir protestieren an höchster Stelle gegen so viel Unterdrückung und unschuldiges Leiden in so vielen Weltgegenden. Wir hören die Schreie der Opfer und protestieren, Wutbürger, beim Herrn der Geschichte. Wir fordern ihn buchstäblich „heraus“ aus seinem Himmel!
Und dann lenkt Jesus unsere Gedanken in die Realität des hier und heute zu bewältigenden Lebens. Da sind die Sorgen, die wir täglich zählen; die Schuld, die doch schwerer lastet als die wohlfeile Rede „einen Fehler gemacht“ es zugeben will; das ist schwer fassbare Angst vor dem Bösen.
Unser tägliches Brot gib uns heute:Brot und alles, was wir zum Leben brauchen. Von der Atemluft, die uns erfrischt und den Kopf frei macht, bis zu Begegnungen, die uns erwärmen. Von sinnvollen Aufgaben und Tageszielen bis hin zum Schlaf, der uns für einen neuen Tag wach macht. Und all das wünschen wir unserem kranken Nachbarn auch, und ob es wohl auch unsere Enkelkinder täglich bekommen werden? Wir gleiten vom Beten ins Denken, und schon verlieren wir uns wieder in die Sorgen und Planungen. Aber da merken wir mit dem letzten Wort der Bitte, „heute!“, dass es „bei Gott“ keinen Sinn macht, wenn wir uns an ungelegten Eiern des morgigen Tages festbeißen. Und wir kommen ins Heute zurück, „wie Kinder fromm und fröhlich“ ob der „Überraschungseier“ dieses Tages.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern– Auch da verändert sich, wenn wir das mit Jesus sprechen, etwas in unserem Bewusstsein. Da kehrt etwas, was uns zuzeiten aus dem Ruder läuft, in normale Bahnen zurück. Haben wir uns nicht angewöhnt, unsere Schuld entweder zu verdrängen: Dann sind immer die anderen schuld, und wir haben höchstens Schuldgefühle, die wir uns in hartnäckigeren Fällen dann wegtherapieren lassen? Oder wir bauschen andersherum etwas Ungutes in unserem Leben zu einem Ungetüm auf; wir steigern uns in einen Wahn hinein, dass unsere Schuld so schlimm sei, dass wir damit das Leben verwirkt haben. Im Aussprechen der Worte Jesu wird uns heilsam bewusst, dass es fast so etwas wie „alltäglich“ ist, dass wir einem Menschen Unrecht tun und dass jemand an uns schuldig wird. Dass es aber in den meisten Fällen das (buchstäblich von Gott) Gegebene und sozusagen die christliche Normalität ist, dass man die allfälligen Beziehungsstörungen nicht zementiert, sondern: Vergib, wie auch wir wollen vergeben. So gehen wir freier in den neuen Tag.
Und schließlich: die Angst, wenn sie uns wieder einmal überwältigt, obwohl wir cool und furchtlos sein und dem Feind ins Auge schauen wollten. Angst vor der der Prüfung: bloßgestellt werden!; Angst vor der Operation: seinen Leib ausliefern!, Angst vor dem Altern: vereinsamen, verlöschen? Angst auch vor meiner ganz persönlichen Schwäche in den Situationen, in denen ich meiner nicht sicher sein kann: Angst vor der Über-Macht des Bösen – werde ich mich wehren können, wenn es mich, wer weiß, in welcher Gestalt, morgen anspringen und verwickeln will? Und Jesus nimmt uns, dich und mich, mit zum Vater: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist die Kraft …
Wie sprach Jesus am Ostermorgen zu Maria von Magdala? „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ In jedem ‚herzlich‘ gebeteten Vaterunser schließen wir uns aufs engste mit Jesus zusammen - zur spirituellen „Auffahrt“ zu seinem Vater und unserem Vater. Und in dieser Ausrichtung unseres Lebens werden wir jedenfalls nicht in unseren Sünden sterben; das ist dann kein Thema. Amen.
[1] Als ich ein kleiner Junge war, Atrium Verlag Zürich, 2011, S.154-162.
Ganz der Vater
Liebe Gemeinde!
Wenn ihr nicht glaubt, daß ich es bin, werdet ihr sterben in euren Sünden.Originalton Jesus.
Jedem anderen Menschen würden wir antworten: Welche Anmaßung! Welche Selbstüberschätzung! Welche unglaubliche Ichbezogenheit! Gibt es überhaupt irgendetwas in dieser aggressiven Rede Jesu, das wir ernstnehmen könnten? Gibt es irgendetwas mitzunehmen oder zu lernen von diesem Jesus, wie ihn der Evangelist Johannes sprechen lässt?
Da fällt allerdings eine verärgerte Reaktion Jesu auf. „Wer bist du denn?“, haben sie ihn im Jerusalemer Tempel gefragt. Nachdem jeder Verständigungsversuch mit einem Missverständnis geendet hatte – dann fragen wir dich halt ganz direkt, sag’s halt!
Wer ist er denn? Das ist allerdings eine Grundfrage, die sich jede Generation der Christen neu stellen muss: Wer ist er eigentlich? Mit Hoheitstiteln wie Messias, Menschensohn, Gottessohn, Rabbi, Prophet oder Gottesknecht haben es seine ersten Jünger versucht zu sagen; „Verführer“ haben ihn die geschimpft, die seinen Anspruch verwarfen. Aber auch die christlichen Theologen mussten in den folgenden Jahrhunderten erklären, was sie denn mit den Titeln meinten, mit denen sie ihn scheinbar eingefangen hatten. Da spielte ihnen dann der Zeitgeist manchen Streich. Vor 250 Jahren in der Zeit der Aufklärung, als es hieß: „wage dich deines Verstandes zu bedienen“, da sah man in Jesus prompt einen großen Lehrer der Vernunft und einer einsichtigen Moral. Als nach 1800 die Romantik in Deutschland herrschte, wurde Jesus zum Einweiser in religiöse Gefühle und Stimmungen. 1968 machte ihn die Studentenbewegung zum Sozialrevolutionär a la Che Guevara. Später als C.G.Jung und die Tiefenpsychologie in die Theologie drangen, beschrieb Hanna Wolff, meine Religionslehrerin, Jesus als den ersten psychisch gelungenen Mann und als einfühlsamen Psychotherapeuten, der alle Neurosen heilen kann. Vielleicht verstehen ihn heute viele Christen als den Schirmherrn seiner Wohlfühl-Gemeinden, in denen die vielfältigen Bedürfnisse nach Gemeinschaft und events befriedigt werden.
Ist Jesus Spielball von wechselnden Sehnsüchten? Ist er Lichtbilderleinwand immer neuer Projektionen menschlicher Philosophien? Nämlich der Weltanschauungen derer, die von unten sind, von dieser Welt eben?
Warum wird Jesus so böse, als sie ihn fragen: Nun sag schon, wer bist du? Spürt er, dass sie ihn auf einen Begriff und damit in den Griff kriegen wollen? Dass sie einen Titel verlangen, wo doch ...?
Wo doch was? Wo man doch zur Erkenntnis eines Menschen und eben auch des Menschen Jesus Christus auf ganz andere Weise gelangt. Wie? Gleichermaßen schlicht und tiefsinnig erzählt es Erich Kästner in seinen Kindheitserinnerungen „Als ich ein kleiner Junge war“:
Unser Klassenlehrer Lehmann – Man hatte uns berichtet, daß man bei ihm in einem Jahr mehr lernen müsse als anderswo in zwei Jahren... Außerdem hatte man uns erzählt, daß er pro Woche einen Rohrstock verbrauche. Wir zitterten vor ihm, noch bevor wir ihn kannten, und wir zitterten noch mehr, als wir ihn kennengelernt hatten...Während einer Frühstückspause trat er im Schulhof zu mir und fragte obenhin: „Willst du am Sonntag mit mir in die sächsische Schweiz fahren?“ Erich Kästner erinnert sich, wie er sehr verdutzt war, aber dann doch mitkam.Auf diesem Ausflug lernte der Schüler seinen Lehrer anders kennen ... Lehrer Lehmann verstand, den Steinen zuzuhören. Er begriff die Dialekte der Vögel. Er studierte die Spuren des Wildes ... Er kannte die Gräser beim Vornamen ... Die Natur war vor ihm aufgeschlagen wie ein Buch, und er las mir daraus vor ... Als ich mich für den schönen Tag bedankte, versuchte er wieder zu lächeln: „Ich wäre ein ganz brauchbarer Hauslehrer geworden und Reiseführer für drei, vier Kinder. Das brächte ich zuwege. Doch dreißig Schüler, das sind für mich fünfundzwanzig zu viel.“ Damit ging er. Ich sah hinter ihm drein ... Er ging allein. Er wohnte allein. Er lebte allein. Und hatte 25 Schüler zu viel.[1]
Wer einen Menschen kennenlernen will, muss sich auf ihn einlassen. In seine Welt mitgehen und ihn dort neu „entdecken“. Ihn selber, hinter der Fassade seines Selbstschutzes, sehen - sehen mit dem, was sein Herz höher schlagen lässt, wie auch mit dem, was seine tägliche Angst ausmacht. Und es hätte uns dieser Mensch womöglich viel zu sagen und zu geben, wenn er nur die Chance bekäme, die anderen Facetten seiner Persönlichkeit zu zeigen. Wenn seine Lebensumstände seiner Selbstverwirklichung nicht so arg hinderlich wären. Dann könnte er uns womöglich mit ungeahnten Dimensionen des Lebens zusammenbringen, die uns sonst verschlossen bleiben. Und könnte unser Leben befruchten.
Und genau dieses zwischenmenschliche Geheimnis trifft auch für die religiöse Erkenntnis zu. Genau dieses vermöchte Jesus: uns mit den ungeahnten Dimensionen des Daseins zusammenbringen, wenn wir – wenn wir uns im Glauben auf ihn einlassen und Wege mit ihm gehen und gespannt warten, was dann in uns und mit uns passiert. Er würde unser Leben in Geheimnisse hineinziehen, dass wir aus dem Staunen nicht mehr herauskämen; er würde uns mit der Herkunft und mit dem Urgrund seines heiligen und heilen Lebens zusammenbringen; er würde uns seiner Wahrheit zuführen – und das hieße, er würde uns hineinnehmen in seine Kommunikation mit dem, den er seinen und unseren Vater nennt.
Denn das ist das Ziel des schwierigen Gesprächs, auf das Jesus hier hinaus will: Dann werdet ihr erkennen, daß ich nichts von mir selber tue, sondern wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. Das hätten die Menschen damals erkennen sollen: Er ist ganz der Vater – der Vater im Himmel! Das wäre es gewesen.
Ganz der Vater! Unter uns hören wir das oft – ein beinahe geflügeltes Wort, ein Ausruf des Erstaunens: Da steht jemand vor einem – seinem Vater zum Verwechseln ähnlich – wie sehr hat ihn offenbar das genetische Erbe und das Vor-Leben und die Erziehung des Vaters geprägt – so sehr, dass man die Stimme und die Reaktionen und Verhaltensweisen von denen des Vaters kaum unterscheiden kann.
Jesus ist von dem „ganz anderen Vater“ geprägt, und es gibt wohl eine Stelle in seinem Leben, da blicken wir ein wenig hinein in das Geheimnis seiner Prägung, und es ist zugleich die Stelle, an der er uns gewissermaßen hineinziehen will in dieses Präge-Geschehen, in dem auch wir zu Kindern Gottes werden. Es ist das Vaterunser, das er den Jüngern und der Christenheit geschenkt hat – ein „hörendes“ Gebet, sein Gebet und unser Gebet. In ihm er das „Mein Vater" zum Vater unser im Himmel geöffnet.
„Geheiligt werde dein Name“: Und wie wir’s aussprechen, ergreift uns Ehrfurcht vor dem, der Himmel und Erde und millionenfältiges Leben darin erschaffen und alle seine Lebewesen mit einem Wohnraum bedacht hat. Wie könnten wir anders auf dieser Erde wandeln als in Ehrfurcht vor dem Leben – in allen seinen Erscheinungsformen?
Dein Reich komme!Wie arg wurde und wird unsere Heilssehnsucht missbraucht von Machthabern, die uns benutzen. Die „Untertanen“ in ihrem „Reich“ wie Puppen halten, die nach ihrer Melodie tanzen sollen. Und es wird uns wieder einmal bewusst, dass keine noch so demokratisch begründete Herrschaft und keine noch so perfekte Technik aus der Welt schaffen kann, was sie krank macht. Die Dominanz von Geld, Gier und Größenwahn und die Versuchung zum Machtmissbrauch spüren wir in allen treibenden Kräften der Politik schmerzlich, auch in unseren eigenen Antrieben. Und ungebrochen ist allemal die Macht des Todes, gegen sie ist am Ende kein noch so „biologisches“ Kraut gewachsen. Wir tasten nach dem Heilenden, wir lassen nicht von der Bemühung. Aber die Sehnsucht nach dem Tag, an dem Gott alle Macht im Himmel und auf Erden in die Hand nimmt, bleibt, und wir lassen sie leben.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – so flehen wir mit Jesus, dass der Vater im Himmel mit der Kraft seines mütterlichen Erbarmens in der Weltgeschichte endlich seine guten Pläne durchsetze – ja wir protestieren an höchster Stelle gegen so viel Unterdrückung und unschuldiges Leiden in so vielen Weltgegenden. Wir hören die Schreie der Opfer und protestieren, Wutbürger, beim Herrn der Geschichte. Wir fordern ihn buchstäblich „heraus“ aus seinem Himmel!
Und dann lenkt Jesus unsere Gedanken in die Realität des hier und heute zu bewältigenden Lebens. Da sind die Sorgen, die wir täglich zählen; die Schuld, die doch schwerer lastet als die wohlfeile Rede „einen Fehler gemacht“ es zugeben will; das ist schwer fassbare Angst vor dem Bösen.
Unser tägliches Brot gib uns heute:Brot und alles, was wir zum Leben brauchen. Von der Atemluft, die uns erfrischt und den Kopf frei macht, bis zu Begegnungen, die uns erwärmen. Von sinnvollen Aufgaben und Tageszielen bis hin zum Schlaf, der uns für einen neuen Tag wach macht. Und all das wünschen wir unserem kranken Nachbarn auch, und ob es wohl auch unsere Enkelkinder täglich bekommen werden? Wir gleiten vom Beten ins Denken, und schon verlieren wir uns wieder in die Sorgen und Planungen. Aber da merken wir mit dem letzten Wort der Bitte, „heute!“, dass es „bei Gott“ keinen Sinn macht, wenn wir uns an ungelegten Eiern des morgigen Tages festbeißen. Und wir kommen ins Heute zurück, „wie Kinder fromm und fröhlich“ ob der „Überraschungseier“ dieses Tages.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern– Auch da verändert sich, wenn wir das mit Jesus sprechen, etwas in unserem Bewusstsein. Da kehrt etwas, was uns zuzeiten aus dem Ruder läuft, in normale Bahnen zurück. Haben wir uns nicht angewöhnt, unsere Schuld entweder zu verdrängen: Dann sind immer die anderen schuld, und wir haben höchstens Schuldgefühle, die wir uns in hartnäckigeren Fällen dann wegtherapieren lassen? Oder wir bauschen andersherum etwas Ungutes in unserem Leben zu einem Ungetüm auf; wir steigern uns in einen Wahn hinein, dass unsere Schuld so schlimm sei, dass wir damit das Leben verwirkt haben. Im Aussprechen der Worte Jesu wird uns heilsam bewusst, dass es fast so etwas wie „alltäglich“ ist, dass wir einem Menschen Unrecht tun und dass jemand an uns schuldig wird. Dass es aber in den meisten Fällen das (buchstäblich von Gott) Gegebene und sozusagen die christliche Normalität ist, dass man die allfälligen Beziehungsstörungen nicht zementiert, sondern: Vergib, wie auch wir wollen vergeben. So gehen wir freier in den neuen Tag.
Und schließlich: die Angst, wenn sie uns wieder einmal überwältigt, obwohl wir cool und furchtlos sein und dem Feind ins Auge schauen wollten. Angst vor der der Prüfung: bloßgestellt werden!; Angst vor der Operation: seinen Leib ausliefern!, Angst vor dem Altern: vereinsamen, verlöschen? Angst auch vor meiner ganz persönlichen Schwäche in den Situationen, in denen ich meiner nicht sicher sein kann: Angst vor der Über-Macht des Bösen – werde ich mich wehren können, wenn es mich, wer weiß, in welcher Gestalt, morgen anspringen und verwickeln will? Und Jesus nimmt uns, dich und mich, mit zum Vater: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist die Kraft …
Wie sprach Jesus am Ostermorgen zu Maria von Magdala? „Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ In jedem ‚herzlich‘ gebeteten Vaterunser schließen wir uns aufs engste mit Jesus zusammen - zur spirituellen „Auffahrt“ zu seinem Vater und unserem Vater. Und in dieser Ausrichtung unseres Lebens werden wir jedenfalls nicht in unseren Sünden sterben; das ist dann kein Thema. Amen.
[1] Als ich ein kleiner Junge war, Atrium Verlag Zürich, 2011, S.154-162.
Perikope