Ganz nah - Predigt zu Johannes 16,23b-28.33 von Hans Uwe Hüllweg
16,23b-28b-33

Liebe Gemeinde,

„Dafür kannst du doch mal beten“, sagte Tante Minchen, „du willst doch schließlich Pfarrer werden!“. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Wofür sollte ich beten? „Dass ich mal sechs Richtige im Lotto habe!“

Ich schaute sie prüfend an. Sie schien es ernst zu meinen. Nun, ich war selbst ein Jugendlicher von etwa 17 Jahren und wusste, ich will Pfarrer werden. Aber ich hatte noch nicht viel Ahnung von dem, was ein werdender Pfarrer so alles lernen muss. Aber eines fuhr mir blitzartig durch den Kopf, die Frage nämlich, ob man für so etwas wohl beten dürfe?!

„Du meinst, ich soll dafür beten, dass du sechs Richtige im Lotto kriegst, dafür soll ich beten?“

„Ja, natürlich!“ Sie meinte es tatsächlich ernst. Tante Minchen ‑ sie ist schon seit Jahrzehnten tot ‑ meinte damals wirklich, wenn sie selbst schon kein Glück mit dem Beten habe, dann müsste Gott sich doch von einem, der Pfarrer werden will, beeindrucken lassen. Gott könne doch sicher die Kugeln in der Lostrommel dahin rollen lassen, wohin er will oder besser: wohin sie will. Und wenn für uns die Chance nur 1:13 Millionen ist, dann gelten für Gott doch wohl nicht dieselben Regeln der Mathematik!

Tante Minchens Ansinnen enthüllt beiläufig ein Missverständnis, das ich bei vielen Menschen gefunden habe: Als ob „der lange Arm Gottes“ direkt in das Geschehen in der Welt eingreifen wollte. Den Wunsch, dass Gott sich gefälligst um die Sechs Richtigen kümmern solle, kann man ja noch als schrullig und meinetwegen auch als egoistisch beiseitelegen. Aber die Sache ist ernster. Es gibt ja auch Menschen, die für durchaus ehrenhafte und sinnvolle Anliegen beten, und es gibt Menschen, in ihren Wünschen und Gebeten nicht in erster Linie an sich, sondern an andere denken. Und die dennoch enttäuscht werden.

Ich habe in all den Jahren meines Dienstes gehört, wie Menschen solche Wünsche aussprachen: Dass Gott die Arbeitslosigkeit abschaffen solle und die Armut, die Kriminalität und die Einsamkeit. Dass Gott mit einem Blitz aus dem Himmel zwischen all das Leid fahren solle, das uns widerfährt. Dass er etwa mit Terroristen, der Mafia, dem Blutvergießen insgesamt und überhaupt allen Grausamkeiten aufräumen müsste.

Ich kann diese Wünsche gut verstehen. Auch ich fühle mich machtlos, wenn ich im Fernsehen mit ansehen muss, wie Kinder hungern, wie Mädchen und Frauen entführt und missbraucht werden, wie Terroristen Hunderte, ja Tausende  Menschen umbringen, wie Flutwellen oder Tornados Menschen obdachlos machen und wie bei der Flucht in ein besseres Leben übers Mittelmeer die Schleuser reich werden und eine Vielzahl von Flüchtlingen ertrinken. Auch ich wünsche mir, dass es damit ein Ende nähme.

Doch eins dürfen wir nicht vergessen: Das meiste Leid, das geschieht, ist von Menschen verursacht, und es ist unsere Aufgabe, damit aufzuräumen. Da müssen wir selbst ran. Das kommt nicht von allein. Die Verantwortung für mein Leben und für unsere Welt nimmt mir niemand ab.

Hier hat, so meine ich, auch das Beten seinen Sinn: Wenn ich bete, finde ich mich nämlich nicht mit der Wirklichkeit ab, sondern glaube, dass sie veränderbar ist. Ich wünsche mir im Gebet den Mut, sie zu verändern, wo immer ich kann. Unsere Vorfahren hatten dafür einen Spruch zur Hand, der heute leider aus der Mode gekommen ist: „Bete und arbeite!“

Sechs Richtige im Lotto – wer die erwischt, mag sich freuen. Das können immer nur einzelne sein. Wenn aber viele Menschen beten und arbeiten, dann haben alle was davon.

Wer über unseren Text aus dem Johannesevangelium nachdenkt, mag erstaunt sein über die Unbedingtheit der Zusage Jesu, die man vorher vielleicht noch nie so deutlich gelesen oder gehört hat: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben.“ Das beißt sich mit der Lebenserfahrung vieler Menschen, die noch beten.

Was heißt aber, in Jesu Namen zu beten?

Der englische Prediger Charles Spurgeon, einer der bekanntesten Prediger des 19. Jahrhunderts, hat einmal in einem treffenden Bild erklärt, was es heißt, im Namen Jesu zu bitten. Die Zahlungsverfahren sind heute im Zeitalter von Smartphone, Kreditkarte und Paypal zwar andere, aber wir kennen das auch noch. Spurgeon schreibt:

„Wenn ich mit einem von einem reichen Mann unterzeichneten Scheck zur Bank gehe, dann erhaltene ich die ausgeworfene Summe, weil der Mann ein Guthaben auf der Bank hat und weil ich in seinem, nicht in meinem Namen darum bitte.

Ich kann ein mit schmutzigen Lumpen bedeckter Bube sein, doch die Bank zahlt mir aus, weil ich auf der Anweisung einen guten Namen stehen habe. Denn er interessiert sich nicht so sehr für die Person, die das Geld abholt, als für den Namen, der auf der Anweisung steht. Und wenn ich im Gebet vor Gott stehe, so ist die Frage weniger, wer ich bin. Ich kann sehr arm und unbedeutend sein, es ist der Name, in welchem zu bitten ich das Vorrecht habe… Welche Kraft des Namens Jesu!“ Soweit Spurgeon.

Ein Mensch, dessen konkrete Bitte Gott nicht erhört hat, und das gibt es ja!, ist schnell dabei, das Beten als etwas Sinnloses und Vergebliches anzusehen. Manche verachten es als Träumerei oder gar Spinnerei. Es mag ja auch enttäuschend sein, dass Gott offenbar auch sinnvolle Bitten überhört.

Dazu gibt uns Martin Luther einige hilfreiche Ratschläge. Er sagt zum Beispiel:

- Zweifle nicht, wenn du betest, du machst ja sonst Gott zu einem Lügner. Oder:

- Gott erhört wundersam und reichlich, des Menschen Herz ist zum Begreifen dessen zu eng. Oder auch:

- Wer nicht betet, wird mit der Zeit den Glauben verlieren. Nächst dem Predigtamt ist das Gebet das größte Amt in der Christenheit. Im Predigtamt redet Gott mit uns, darum rede im Gebet mit ihm.

Dass Gott gelegentlich in der Tat auf wundersame Weise  Gebete erhören kann, hat einmal Johann Heinrich Pestalozzi berichtet, der bekannte, große Schweizer Pädagoge des 18. Jahrhunderts. Er hatte einen einzigen Sohn, der etwa vom zwanzigsten Lebensjahr an schwere epileptische Anfälle bekam. Da geschah folgendes, wie Pestalozzi erzählt:

„Ich war gerade um die Mittagszeit heimgekommen, da traten die Leiden des Sohnes wieder so entsetzlich auf, dreimal war es an dem Tage schon vorgekommen, ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Und was er noch nie tat, er schrie in seinem Leiden. Da ergriff mich ein unaussprechliches Gefühl. Ich wusste nicht, was ich tat; ich wusste auch kaum, was ich wollte. Wie von einem Sturmwind niedergestoßen, lag ich auf den Knien und betete mit einer Macht der Stimme, die den Knaben erschütterte. So auf den Knien betete ich und rief auch ihm zu: 'Glaube nur, glaube Gott, er kann dir helfen.' Da wichen die Geister. Erstaunen ergriff uns… Schön war diese heilige Stunde; ohne die Leiden meines Lebens hätte ich sie nicht erfahren. Dank dem Ewigen!“

Über das Leid, das dieser bedeutende Pädagoge in seinem Leben erlitt und annahm, schreibt ein Autor: „Am Leid ist Pestalozzi gereift, und er hat übermäßig viel gelitten; aber wie er mit dem Leid fertig wurde, das rückt ihn aus der Linie des nur heroischen Menschentums und stellt ihn in den Kraftbereich des Glaubens…“ Das kann natürlich keine Garantie sein für unser Bitten. Aber solche Erfahrungen gibt es eben auch, und die machen Mut, es immer wieder mit dem Beten zu versuchen.

Ewas wir heute aus er Bibel erfahren: Kein Gebet bleibt ungehört, wenn es ernsthaft ist. Auch wenn es nicht in jedem Fall erhört wird. Das schafft uns schon mal inmitten der Ängste dieser Welt und unseres Lebens die Gewissheit, bei Gott geborgen zu sein.

Liebe Gemeinde, Tante Minchen ist gestorben, ohne im Lotto gewonnen zu haben. Ich habe ja auch nicht dafür gebetet. Und wenn ich mich wider Willen dafür hergegeben hätte, wäre vermutlich auch nichts daraus geworden. Man sollte sich halt überlegen, was man, wofür und für wen man betet. Denn wenn gewiss ist, dass Gott alle Gebete hört, dann hört er auch die bösen.

Zu guter Letzt: Es geht hier und heute nicht um einen Imperativ nach dem Motto: „Betet!“, oder gar: „Betet mehr.“ Oder: „Betet etwas Gutes!“ Sondern um einen wichtigen Hinweis für uns als Christinnen und Christen:

Das Gebet ist der Atem der Seele. Die Seele braucht das Gebet, wie die Pflanze das Wasser, um nicht zu verdorren.

Wenn Ihr von diesem Gottesdienst und dieser Predigt nichts behaltet, dann doch wenigstens diesen einen Satz: „Gott ist nur ein Gebet weit von uns entfernt!“ Den habe ich von dem ehemaligen brasilianisch-deutschen Fußball-Nationalspieler Cacau. Ja, Gott ist nur ein Gebet weit von uns entfernt!

Amen.

 

Anregungen von Albrecht Weber/Delmenhorst über www.predigtdatendank.de (derzeit offline); Luther-Worte aus verschiedenen Quellen, z.B. aus Ulrich Asendorf, Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988; Zitat über Pestalozzi: Jörg Erb, Die Wolke der Zeugen, 3. Band, 3. Aufl., Kassel 1969, 394f.; Zitat von Cacau häufig im Internet zu finden, ursprünglich Gedichtzeile von Nelly Sachs

Perikope
26.05.2019
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