„Ganz ungetröstet bin ich nicht“
In diesem Gottesdienst denken wir an unsere Toten, an die Menschen, die wir im letzten Jahr verloren haben. Ein Text aus dem Johannesevangelium will uns trösten in unserer Trauer. Ich lese Johannes 5, die Verse 24-29:
Jesus spricht: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. (25) Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben. (26) Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber; (27) und er hat ihm Vollmacht gegeben, das Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. (28) Wundert euch darüber nicht. Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden (29) und werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.
Der Tod,
liebe Gemeinde,
der Tod ist für uns, die wir zurückbleiben,
ein großes Erschrecken.
Eine tiefgehende Erschütterung.
Einem Erdbeben gleich fräst er sich durch unser Leben.
Ein naher Mensch geht weg und wir bleiben zurück.
Wir sehen ihn leiden,
sehen sein Ringen mit dem Tod,
erleben, wie er schwächer und schwächer wird,
wie er dem Leben entgleitet und wir müssen es zulassen.
Müssen ihn weggehen lassen.
Wir werden gezwungen, ihn loszulassen.
Ihn freizugeben.
Und wir werden nicht gefragt.
Manchmal dürfen wir nicht einmal Abschied nehmen.
Dann, wenn der Tod wie ein Wegelagerer ins Leben fällt.
Plötzlich, unerwartet, ohne Vorwarnung.
So wie letzte Woche in Paris.
Und wir – , wir bleiben zurück.
Allein.
Vertrieben aus unseren bisherigen Gewissheiten.
Unser Lebenshaus wirkt seltsam verwaist.
So viele Räume stehen leer.
So viel Vertrautes funktioniert nicht mehr.
Die zwei gleichen Tassen beim Frühstück, ja, die aus dem letzten Sommerurlaub, sie wirken so deplatziert.
Und wer macht jetzt morgens das Müsli?
Wer holt die Zeitung hoch?
Wer bringt den Müll runter und hängt die Wäsche auf?
Der gemeinsame Kleiderschrank ist plötzlich völlig überdimensioniert und die Ferienwohnung viel zu teuer für nur eine Person.
Der Tod vertreibt uns aus unseren Gewohnheiten, aus unserem Alltag.
Er zwingt uns in neue Rollen und neue Gewohnheiten.
Wir müssen uns neu finden: Wer sind wir? Wie wollen wir jetzt leben? Wie können wir jetzt leben? Halten unsere Freunde und Verwandte unsere Trauer und unseren Schmerz aus? Oder müssen wir weitere Verluste ertragen?
Manchmal tauchen auch dunkle Erinnerungen auf.
In die Trauer mischt sich Schmerz.
Wie gerne würden wir manch böses Wort zurückholen, abfällige Gesten rückgängig machen und gäben viel darum, wir hätten nicht so oft gestritten, nicht so viel gearbeitet, sondern mehr gefeiert, mehr gemeinsame Zeit verbracht.
Uns dämmert: Manchmal waren wir ungerecht. Hatten so wenig Verständnis und Zeit für unsere nächsten Menschen, für ihre Eigenheiten, ihre Geschichte.
Im Tod beginnt eine Frau zu verstehen, dass ihr Mann die vielen Stunden der Zurückgezogenheit im Hobbykeller, an denen sie immer rumgemäkelt hatte, dass er sie für seinen Seelenfrieden gebraucht hat. Dass er deshalb oft zwischen ihr und der Tochter oft ausgleichen konnte, wo sie eher in den Konflikt ging.
Im Tod beginnt der Sohn zu verstehen, warum der Vater ihn als Kind so unverhältnismäßig streng behandelt hat. Plötzlich vermag er die Seelengeister zu sehen, die den Vater gejagt haben. Er findet Behandlungsunterlagen einer schlimmen Depression. Die Strenge war eine Überlebensstrategie.
Manchmal müssen wir im Tod die Weggegangen neu sehen lernen.
Wir erfahren Dinge, die wir nicht unbedingt wissen wollten und die unsere gemeinsame Geschichte umdeuten.
Ob wir uns neu sehen oder den anderen:
Im Tod erfahren wir neue Wahrheiten.
Verborgenes kann zu Tage treten.
Plötzlich spüren wir in uns eine Liebe, von der wir nicht wussten, dass sie noch so lebendig ist.
Plötzlich nehmen wir eine Fremde war, die uns erschrecken lässt.Ja,
liebe Gemeinde,
der Tod ist für uns, die wir zurückbleiben,
ein großes Erschrecken.
Eine tiefgehende Erschütterung.
Ein Erdbeben.
Jesus spricht davon, dass der Tod einem „Gericht“ gleicht.
Verborgenes, Unbekanntes wird offenbar und lässt sich nicht länger leugnen.
Wir können nicht entrinnen.
Wir werden nicht nach unserer Zustimmung gefragt.
Es hat etwas Endgültiges.
Ja, der Tod ist für uns, die wir zurückbleiben, ein Erschrecken.
Er gleicht einem Gericht.Gott sei Dank aber,
liebe Gemeinde,
Gott sei Dank,
ist das nicht das Einzige und vor allem nicht das Letzte, was Jesus über den Tod sagt.
Im Glauben, sagt Jesus, im Glauben ist der Tod immer auch ein Hindurchgehen durch das Gericht des Todes. Ein Hindurchgehen zum Leben. Zum ewigen Leben. Weil der Glaube um das Unverlierbare und um die Ewigkeit der Liebe weiß.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.
Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben.
Jesus Worte – das sind Worte jener tiefen Wahrheit über uns Menschen, dass wir alle, Tote und Lebende, geborgen sind in der ewigen Gnade Gottes.
Jesus Worte – das sind Worte jener tiefen Liebe zu uns Menschen, die sich selbst in den Tod gegeben hat, um uns in eben dieser Erschütterung nahe zu sein und um uns zur Auferstehung zu begleiten.
Jesu Worte – das sind Worte jener tiefen Hoffnung für uns Menschen, dass am Ende der Tage Gott ein Taschentuch in die Hand nimmt und alle Tränen von unseren Augen abwischen wird, alle Traurigkeit und Schmerz aufheben wird, seine Hand auf unsere gebeugten Schultern legen wird und sagen: Siehe, ich mache alles neu. Es ist gut.
Jesu Worte – das sind Worte jenes tiefen Glaubens, dass das Leben nicht mit dem Tod und nicht mit dem Gericht endet, sondern am Ende eingeht zu Gott und darin neu wird – ewiges Leben.
Jesu Worte – sie verbinden uns mit Gott, mit der Ewigkeit seiner Liebe und so verbinden sie auch uns und unsere Verstorben miteinander.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten hören werden die Stimme des Sohnes Gottes, und die sie hören werden, die werden leben.
Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben.
Manchmal,
liebe Gemeinde,
manchmal beginnen wir zu spüren:
Nicht nur die Toten gehen hindurch zum Leben.
Auch wir, die wir zurückbleiben, fühlen uns in unserem Schmerz und mitten in aller Erschütterung mit dieser Ewigkeit des Lebens und der Unvergänglichkeit dieser Liebe verbunden.
In einer schlaflosen Nacht, in der die Erinnerung uns übermannt und der Schmerz uns aufzuzehren droht, da steigt in uns ein stummes Gebet auf. Wir spüren: Gerade jetzt sind wir „in Rufweite zu Gott“ (Norbert Hummelt).
In schweren Tagen, wenn die Einsamkeit in unser Leben einzuziehen droht, da machen wir die Erfahrung: Wir sind „von guten Mächten wunderbar geborgen“ (Dietrich Bonhoeffer).
Und die guten Mächte haben ein ganz menschliches Gesicht:
Die Nachbarin, die ein nettes Kaffeekränzchen ins Leben ruft. Jeden Mittwoch, gleicher Ort, gleiche Torte. Eine neue Gewohnheit. Sie tut gut. Sie lenkt ab. Sie heitert auf.
Der Kollege, der einem eine Dauerkarte fürs Stadion besorgt. Jeden Samstag, gleicher Ort, gleiches Leiden mit dem eigenen Verein. Eine neue Gewohnheit. Sie tut gut. Sie lenkt ab. Sie aktiviert.
Die Nichte, die zum Studium in eine ferne Stadt zieht, lädt ein: Komm doch her, mach‘ eine Reise. Hier gibt es viel zu sehen. Es tut gut. Es lenkt ab. Man kommt in Bewegung.
Und manchmal sind es auch die kleinen Dinge des Alltags, in denen uns der Trost der Ewigkeit, der Trost Gottes berührt:
Ein prächtiger Sonnenuntergang,
das Blühen des Rosenstrauches,
das stille Flackern einer Kerze,
der Duft von frischen Äpfeln.
So hat es der Dichter Johannes Kühn einmal formuliert:
„Totenlieder summend bin ich wach,
Äpfel duften im Zimmer.
Ganz ungetröstet bin ich nicht“.
Der Tod,
liebe Gemeinde,
der Tod ist ein großes Erschrecken.
Eine tiefgehende Erschütterung.
Einem Erdbeben gleich fräst er sich durch unser Leben.
Unser bisheriges Leben, seine Gewohnheiten und all das Vertraute – es gerät auf den Prüfstand. Gleich einem Gericht.
Doch das ist nicht das Letzte.
Denn wir und unsere Verstorbenen, wir gehen hindurch, durch den Tod, durch das große Erschrecken, durch das Gericht. Wir hören die Stimme Jesu, seine Worte und fühlen uns verbunden mit der Unvergänglichkeit der Liebe Gottes.
Wir spüren:
Hier ist der Trost der ganzen Welt,
darauf sie all ihr Hoffnung stellt.
Wenn wir zum Tode erschrecken – ganz ungetröstet sind wir nicht.
In dieser Zuversicht stärke uns Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Amen
Literatur:
Norbert Hummelt, Totentanz. Gedichte, Darmstadt: Luchterhand 2007, 9f. („Allerheiligen“).
Johannes Kühn, Ganz ungetröstet bin ich nicht. Gedichte. Hg. v. Irmgard und Benno Rech, München: Carl Hanser, 2007, 61 („Herbstbild“)