Geben und Glauben - Predigt zu zu Lukas 16, 1-9 von Dr. Ralph Hochschild
16, 1-9

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

“Stellt Euch vor, was mir passiert ist. Heute Morgen ruft mich mein Herr zu sich. Ihm gehören all diese Ländereien, Felder und Häuser, die ich für ihn verwalte.” Das Drama beginnt. Benjamin streckt die rechte Hand aus und zieht mit dem Finger vor meiner 10. Klasse einen riesigen Halbkreis. “So weit reichen seine Güter. So viel Arbeit für mich. Jahr für Jahr ärgere ich mich mit den Pächtern herum. Jahr für Jahr laufe ich den Schuldnern hinterher. Jahr für Jahr verkaufe ich Öl und Getreide zu einem guten Preis und schaffe Platz für die neue Ernte. Geräte und Gebäude halte ich in Schuss. Und jetzt das!” Benjamin schnaubt hinter seiner Corona-Maske. Die Brille beschlägt sich vor Empörung. “Er ruft mich und sagt: ‚Jemand hat mir zugetragen: Du verschleuderst mein Vermögen. Deshalb muss ich dich entlassen. Bereite Deine Schlussabrechnung vor und geh!‘

Nicht einmal verteidigen durfte ich mich. Nur ein Gerücht und schon gefeuert, auf die Straße geschickt ohne Beweis. Was soll ich jetzt tun? Ich bin nicht stark genug, um auf dem Feld zu arbeiten. Ich schäme mich zu betteln. Was soll ich tun?”

Im Gleichnis vom sogenannten “ungetreuen Verwalter” findet der Verwalter eine verblüffende Lösung für sein Problem. Nachdem uns die Einleitung ins Gleichnis so brillant vorgespielt wurde, lese ich nun die Fortsetzung aus der Bibel. Wir hören Lukas 16, die Verse 4-9. Der Verwalter überlegt und sagt:

Ich weiß, was ich tun will, damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich von dem Amt abgesetzt werde. Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Der sprach: Hundert Fass Öl. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig. Danach sprach er zu dem zweiten: Du aber, wie viel bist du schuldig? Der sprach: Hundert Sack Weizen. Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig. Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts. Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.

Liebe Gemeinde,

eigentlich würde ich jetzt gerne hinter Benjamins Corona-Maske schauen. Ob er ganz in seiner Rolle drin ist? Ob er grinsen muss, als er so temperamentvoll den Verwalter dieses Gleichnisses spielt? Keine Chance für mich und keine Chance für seine Mitschüler. Aber jeder im Klassenzimmer erkennt etwas anderes. Vor den Augen ein zu Recht empörter und zu Unrecht beschuldigter Verwalter. Hinter der Fassade eine Figur, die es faustdick hinter den Ohren hat. “Darf man das so machen, wie er es tut?” Ich bitte die Klasse um eine spontane Reaktion. Als Lehrer wecke ich pflichtschuldigst Verständnis für den Verwalter. Keine Chance für mich und keine Chance für den Verwalter. Das Urteil steht: “Nein, man darf nicht stehlen.” “Nein, keiner will, dass einer dem anderen das Vermögen wegschenkt.” “Nein, das hat nichts mit dem zu tun, was ein Verwalter von sich erwarten sollte.” “Nein, auch wenn er den Schuldnern Gutes tut - daraus lässt sich kein allgemeines Gesetz machen.” “Nein, die Glückspunkte, die das Schenken bringt, wiegen nicht das Unglück des betrogenen Mannes auf.”

“Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, weil er klug gehandelt hatte. Denn die Kinder des Lichts sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts.”

Verlassen wir das Klassenzimmer, noch bevor die spielenden Schüler sich zum Gleichnis äußern dürfen und schließen leise die Tür hinter uns. Lassen wir dort das Urteil über den Verwalter zusammen mit unserem eigenen moralischen Widerwillen zurück. Lassen Sie uns stattdessen fragen: Warum ist er klug? Was können wir von ihm lernen. Drei Dinge fallen mir ein.

Zuerst: Er jammert nicht lange über seine schlechten Aussichten. Er lässt sich nicht einschüchtern. Er nimmt das Unrecht nicht hin. Er sitzt nicht auf die Hände, er tut etwas. Er analysiert. Er weiß, was er kann und was ihn überfordert: Schwere körperliche Arbeit. “Zu betteln schäme ich mich”. Kaum zu glauben. Eigene Werte, die er fokussiert verfolgt, hat er auch, ob sie uns gefallen oder nicht. So handelt er schnell, durchdacht, entschlossen und zielstrebig. Er weiß, was jetzt die Stunde geschlagen hat.

Dann: Er sucht seine Chance mit den Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, ob sie seine eigenen oder ihm überlassen sind. Ich denke an meine eigenen Kräfte und Ressourcen. Vieles von dem, was mir gelingt, schaffe ich mit Mitteln, die mir andere überlassen und gegeben haben. Ob ich wichtige Dinge von Lehrern, Freunden oder Kollegen an meiner Schule gelernt habe, ob ich Impulse von meinen Schülerinnen und Schülern aus dem Unterricht mitgenommen und an ganz anderer Stelle wieder gewinnbringend eingesetzt habe - ich glaube, nicht nur ich verdanke viel im Leben den Ressourcen, Dingen und Mitteln, die mir andere überlassen haben.

Es ist gewiss kein Fehler, wenn wir uns das am heutigen Volkstrauertag vor Augen halten. Wir treten nachher aus der Kirche und gehen über den Friedhof die wenigen Schritte zu unserem Mahnmal. Mit uns geht die lange Geschichte dieses Tages, an dem das Gedenken und das Trauern so unterschiedliche Formen angenommen hat. Zunächst ist der Volkstrauertag der Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und wurde dann zum “Heldengedenktag”. 1952 wiederbegründet, entwickelt er sich zu einem Teil unserer besonderen Erinnerungskultur. Sie ist in einem langen und gewiss nicht schmerzfreien Prozess seit den 60er-Jahren gewachsen. Heute spart sie die misslungenen Teile unserer Geschichte und das Unrecht, das unschuldigen Menschen zugefügt wurde, nicht aus. Deshalb gedenken wir heute “der Opfer von Gewalt und Krieg, an Kindern, Frauen und Männer aller Völker” (Bundespräsident Joachim Gauck 2016). Ich bin überzeugt, unser Land hätte diesen guten Weg nicht gehen können ohne die Geduld, ohne den Vertrauensvorschuss, der unserem Land nach 1945 gewährt wurde. Wir hätten diesen Weg nicht gehen können, wenn Überlebende der Schoah und ehemalige Zwangsarbeiter nicht bereit gewesen wären, in unsere Schulen zu kommen und unauslöschliche Eindrücke bei Schülerinnen und Schülern hinterlassen hätten. Durch das, was sie erzählt haben, durch ihre Bereitschaft, neuen Generationen eine neue Chance zu geben. Zeit, Geduld, ein großer Vertrauensvorschuss - sie wurden uns gegeben. Und ich glaube, sie wurden gut genutzt.

Jeder von uns nützt die Ressourcen anderer Menschen. Denn wer könnte ohne die Erfahrung der Verzeihung leben? Nicht jeder Konflikt kann juristisch geklärt, nicht jeder Streit vor Gericht befriedet, nicht jedes Unrecht durch kluge Mediation ausgeglichen werden. Es braucht die Erfahrung der Verzeihung. Das heißt ja nichts anderes, als dass ein verletzter und beschädigter Mitmensch bereit ist, einen Raum zu öffnen, in dem neu Vertrauen wachsen kann, in dem eine misslungene Vergangenheit einer besseren gemeinsamen Zukunft nicht im Wege steht. Auch eine Ressource, die uns andere geben und aus der wir etwas machen können.

Lange bevor einer von uns seinen Eltern seine Liebe bewusst zeigen konnte, wurden wir schon von ihnen geliebt. Haben sie ein Urvertrauen in uns gepflanzt, aus dem heraus wir selbstbewusst, vertrauensvoll zu anderen und offen gegenüber der Welt werden konnten. Wir konnten wachsen und die Menschen werden, die wir heute sind, weil uns diese Ressource geschenkt wurde. Das führt mich zum dritten Punkt.

“Also am Anfang habe ich überhaupt nichts kapiert”. Wir sind einen Moment zurück im Klassenzimmer. Alina sitzt auf dem “heißen Stuhl”. Sie ist der Schuldner, dem seine Schuld erlassen wurde. Sie erzählt, wie sie diesen Moment in ihrer Rolle erlebt hat. “Erst habe ich gedacht, der ist verrückt geworden. Aber als ich verstanden hatte, wie mein Leben dadurch leicht wird, da wurde ich richtig froh.”

Liebe Gemeinde,

das macht unseren Verwalter doch fast wieder sympathisch. Denn wenn ich es mir recht überlege. Er hätte die Sache ganz anders anpacken können. Er hätte einfach etwas unterschlagen können - macht er aber nicht. Er hätte Druck aufbauen können und die Schuldner zur Bezahlung ihrer Schuld zwingen können, um sich etwas abzuzweigen - macht er aber nicht. Er hätte seine vornehme Stellung dazu nützen können, um sie zu seiner Unterstützung zu überreden - macht er aber auch nicht. Sondern: Er gibt, er schenkt, entlastet, macht andere froh - und glaubt.

Er gibt und glaubt. Denn er weiß: so gut er sich das ausgedacht hat, so schlau er das geplant hat, so clever wie er es durchgeführt hat. Ob es am Ende klappt, ob sie ihn am Ende wirklich aufnehmen - dafür hat er keine Garantie. Das muss er glauben. Und so ist die vertrauensunwürdigste Person in der Geschichte zugleich die vertrauensseligste. Für mich ist das das Erstaunlichste und die schönste Wendung in dieser ganzen Geschichte.

Glaube ist eine Geistesgabe. Wir glauben, dass Gottes Geist in uns wirkt. Er hält das Gedächtnis Jesu in uns lebendig. Er ist der Tröster. Gottes Geist ist ein Geist der Liebe. Er macht uns bereit, uns anderen Menschen zuzuwenden. Diese Ressource Gottes nicht weniger ruchlos als der Verwalter das Vermögen seines Herrn nutzen - das will ich aus diesem Gleichnis lernen. Aus dem zu leben und zu geben, was mir zur Verfügung steht. Und glauben, dass mein Gott Gutes daraus erwachsen lässt. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Ralph Hochschild

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Im Bewusstsein vieler Kirchgänger ist der Vorletzte Sonntag des Kirchenjahres der „Volkstrauer-tag“. Besonders in den ländlich geprägten Teilen und im Stadt-Umland-Bereich unseres Kirchenbe-zirks nehmen viele die Gelegenheit wahr, nach dem Gottesdienst an der der Feier der politischen Gemeinde zum Volkstrauertag teilzunehmen. Gemeinderäte und Bürgermeister nehmen diesen Tag zum Anlass, in den Gottesdienst zu kommen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Seit Jahren spiele, reflektiere und deute ich mit Schülerinnen und Schülern biblische Texte in dramapädagogischen Unterrichtssequenzen. Oft zeigen sich im Spiel Sinnpo-tenziale biblischer Texte, die man so nicht in der der gängigen exegetischen Literatur findet und die trotzdem des Nachdenkens wert sind. In der Predigt eine Summe aus einigen dramapädagogischen Versuchen mit diesem Text nachzuvollziehen und für die Predigt produktiv zu machen, war eine motivierende Aufgabe.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Viele der Interpretationen des Gleichnisses ringen mit der moralischen Qualität des „un-ehrlichen Verwalters“. Davon abzusehen und auf seine Handlungen, ihre Voraussetzun-gen und Wirkungen zu achten, hat mir das Gleichnis neu erschlossen. Immer wieder daran denken, dass wir vieles tun können, weil uns geistige und materielle Ressourcen anderer zur Verfügung stehen. Als „Kinder des Lichts“ von der Klugheit der „Kinder der Welt“ das Richtige lernen. Der Geist Gottes als besondere Ressource unserer Existenz.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Ermutigung zu einer anschaulichen Sprache und eine stärkere Fokussierung auf das Thema „Geben und Glauben“

 

Perikope
15.11.2020
16, 1-9