Gedanken zur Jahreslosung von Christiane Kohler-Weiß
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Gedanken zur Jahreslosung von Christiane Kohler-Weiß

Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig (2. Kor 12, 9)
  Gedanken zur Jahreslosung 2012 und zur künstlerischen Umsetzung von Friedhelm Welge  (www.werkdruckedition.de)
Was kommt wohl auf uns zu im Neuen Jahr? Welche Möglichkeiten, Versuchungen, Freuden, Rätsel, Begegnungen, Gefahren, Prüfungen, Überraschungen hält das Jahr 2012 für uns bereit?
Die Jahreslosung in ihrer künstlerischen Umsetzung von Friedhelm Welge gibt eine klare Antwort auf diese Frage. Ein Wort Jesu Christi kommt auf uns zu: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Wenn wir diese Losung von der Mitte des Bildes aus lesen, spüren wir die andrängende Kraft dieser Worte. Und wenn unsere Augen zunächst bei dem großen Wort mächtig hängen bleiben, werden wir ins Bild hinein gesogen, dorthin, wo die Quelle dieser Macht ist, zu Jesus Christus.
Der Apostel Paulus hat uns die Worte der Jahreslosung überliefert. Er hat sie von Jesus Christus gehört und an die Gemeinde in Korinth weitergegeben, zu einer Zeit, als diese Gemeinde den Apostel fragte: „Woher sollen wir wissen, dass du wirklich ein Diener Jesu Christi bist? Andere Missionare haben mehr zu bieten: mehr Spiritualität, mehr wundertätige Kraft, mehr Charisma, mehr Redekunst, eine überzeugendere Persönlichkeit.“ „Möglich“, antwortet Paulus, „aber darauf kommt es nicht an, denn Jesus Christus hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
Paulus kennt die ganze Skala von menschlichen Gefühlen aus eigener Erfahrung: das Bewusstsein eigener Stärke und die ohnmächtige Wut völliger Schwäche. Er kennt auch die Scham über nicht wieder gut zu machende Schuld. Als eifernder Christenverfolger hat er sie vielfach auf sich geladen. Er kennt das erhebende Gefühl der Glückseligkeit (entrückt in das Paradies; 2 Kor 12, 4) und er kennt das Gefühl, schwach am Boden zu liegen. Die Erfahrungen der Schwachheit, die Paulus am eigenen Leib durchgemacht hat, zählt er auf. Es sind: schmerzhafte Krankheiten (Paulus spricht von einem Pfahl im Fleisch; 2 Kor 12, 7) sowie Misshandlungen, Nöte, Verfolgungen, Ängste (2 Kor 12, 10). In dieser widersprüchlichen Lebenslage, in diesem Gedränge von „himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt“ hört er das Wort Jesu: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Was auch immer also an Erfahrungen auf uns zukommen mag im neuen Jahr, keine unserer Lebenslagen wird so außerordentlich sein, dass dieses Wort Christi nicht tröstlich in sie hinein sprechen könnte.
Karl Barth sagte in einer Silvesterpredigt des Jahres 1962 vor Strafgefangenen in Basel über diesen Vers: „… Paulus … hat es aufgeschrieben: aber eben nicht als sein, sondern als das von seinem Herrn Jesus Christus an ihn gerichtete Wort. So hat er es weitergegeben. So dürfen wir es nun auch uns sagen lassen als auch an uns gerichtet und für uns gültig.“ (222)
Aber wer sind wir? Als was für Menschen stellt uns die bildhafte Gestaltung der Jahreslosung dar? Da sind zwei Gestalten zu sehen, ein Mann und eine Frau, beide nackt. Sie tragen eine Last, stützen etwas, halten etwas hoch, halten stand, sind selbst Säulen. Anders als bei Atlas in der griechischen Mythologie, ist es keine ganze Welt, die sie tragen, sondern ihre eigene, ihre persönliche Last. Ihr können sie nicht entrinnen. Die beiden Gestalten sind eingespannt in die Anforderungen ihres Lebens, mit diesen verwachsen. Friedhelm Welge stellt in diesen Skulpturen nicht den Menschen in seiner Freiheit dar, sondern den Menschen in seiner Gebundenheit. Das ist unsere menschliche Lebenssituation. Was auch immer im Jahr 2012 auf uns zukommen wird, unseren Aufgaben und Pflichten, unseren persönlichen Lasten und gewachsenen Verbindungen können wir nicht entrinnen. Es kommt darauf an, wie wir mit ihnen umgehen.
Die Skulpturen wirken weder besonders angestrengt noch scheinen sie besonders stark zu sein, aber sie können das, was ihnen auferlegt ist, tragen. Der Mann streckt seine Arme hoch und stützt seine Last mit den Fäusten; die Last der Frau ruht auf Armen und Kopf. Ein bisschen erinnert sie an afrikanische Wasserträgerinnen. Vielleicht erfüllt die beiden Gestalten ihre tragende bzw. stützende Funktion sogar mit Stolz und Freude. Auf jeden Fall strahlen die Skulpturen Würde aus. Lasten, die man zu tragen hat, können Menschen auch dazu verhelfen, eine aufgerichtete und auf positive Weise gespannte Haltung einzunehmen.
Die beiden Skulpturen stehen einander gegenüber, aber sie berühren einander nicht. Dadurch entsteht ein Zwischenraum. Ist es ein Ausblick in die Zukunft, den uns der Zwischenraum eröffnet? Ein Ausblick in den Lebensraum, der im kommenden Jahr vor uns liegt? Zu erkennen ist eine Landschaft, aber sie ist verschwommen. Drei Bäume kann man erahnen, Häuser vielleicht oder Fahrzeuge. Die Landschaft könnte überall sein, sie ist unspektakulär, alltäglich, eine Allerweltslandschaft. Deutlich erkennbar und deshalb gewiss ist nur eines: die Schrift, die immer größer wird und sich zwischen die beiden Skulpturen drängt.
Der Name Jesus Christus ist auf der Höhe des Halses der beiden Gestalten zu lesen, da wo die verletzlichste Stelle des Menschen ist, da wo uns die Angst die Kehle zuschnüren kann. Das Wort spricht korrespondiert mit dem Herzen der Skulpturen, da wo das Wort Gottes uns berühren möchte und kann. Die Worte meine kraft zielen auf den Bauch, das Kraftzentrum des Menschen. Mit den Wörtern in den schwachen erreicht der Text die Ebene der Knie, wo wir die Schwäche spüren, wenn die Knie weich werden, wo wir einknicken, wenn die Last zu groß wird. Und das Wort mächtig gibt den Füßen der Gestalten einen festen Stand.
Wenn man die Skulpturen und die Schrift zusammen betrachtet, wird klar, woher die dargestellten Menschen ihre Gelassenheit und Kraft beziehen: was ihnen Halt und Kraft gibt ist die Grundlage, auf der sie stehen, die Macht Jesu Christi. Die ganze Körperhaltung der beiden Skulpturen zeigt, dass sie sich ihrer Kraftquelle bewusst sind. Niemand kann sie ihnen nehmen.
Was kommt wohl auf uns zu im neuen Jahr? Eine Neuauflage der Finanzkrise, weitere Befreiungsbewegungen, Terroranschläge, ein Jahrhundertsommer, öder Alltag, aufregender Neubeginn, persönlicher Erfolg oder jähes Scheitern – all das ist ungewiss. Gewiss ist nur: Gottes kraftvolle Gnade kommt auf uns zu, jeden Tag neu, unaufhaltsam.
Wie werden wir uns fühlen im kommenden Jahr? Werden wir staunen, was wir alles stemmen können, oder werden uns die Knie schwach werden, weil wir uns überfordert fühlen? Auch das ist ungewiss. Gewiss ist nur: Gott ist mit seiner Kraft noch lang nicht am Ende, wo wir schwach werden. Ja, er ist gerade da in seinem Element, wo wir Menschen ihn brauchen, ihn machen lassen, ihm Raum geben in unserem Leben und in unserem Miteinander.
Werden wir zufrieden sein mit dem, was wir zustande bringen, oder wird uns der Vergleich mit anderen quälen, die mehr können, mehr wissen, mehr verdienen, mehr leisten, mehr bewundert und geliebt werden? Die Jahreslosung ermutigt uns, gemeinsam mit Paulus zu sagen: „Möglich, dass andere mehr zu bieten haben als ich, aber darauf kommt es nicht an, denn Jesus Christus hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
Wörtlich übersetzt heißt der Vordersatz zur Jahreslosung übrigens: Meine Gnade genügt dir. Es ist kein Aufruf zur Tugend der Genügsamkeit und kein Appell zum demütigen Ertragen von Leiden, den Paulus gehört hat und weitergibt, sondern eine Zusicherung Jesu Christi: „Meine Gnade genügt dir in jedem Fall! Alles, worauf es wirklich ankommt, alles, was du wirklich brauchst, das gebe ich dir.“ Die Kraft Jesu Christi ist die Kraft seiner Gnade. Karl Barth beschreibt die Gnade Jesu Christi in der schon erwähnten Predigt so: „Meine Gnade – das bin Ich selber: Ich für dich nämlich, … Ich, dein Befreier von Sünde, Schuld, Elend und Tod, die ich auf mich und so von dir weggenommen habe – Ich, der ich dir den Vater zeige und den Weg zu ihm auftue – Ich, der dich das große Ja hören läßt, das er von Ewigkeit her auch zu dir, gerade zu dir gesprochen hat – Ich, der dich hiemit einsetzt und einstellt in den Dienst Gottes und der dich eben zu diesem Dienst auch brauchbar, willig und bereit macht.“ (224)
Das sind große Worte, die Karl Barth hier spricht, gewiss, aber mit weniger großen Worten müssen und sollten wir uns nicht zufrieden geben. Das tägliche Tragen von Lasten ist unsere Realität, im alten wie im neuen Jahr. Aber alles, was uns wirklich in die Knie zwingen könnte – Sünde, Schuld, Elend und Tod – das trägt Jesus für uns.
Das tägliche Zurückbleiben hinter den Anforderungen des Lebens, das vielfache Scheitern im Kleinen und manchmal auch im Großen, ist unsere Realität, aber zu allem, zu dem Jesus uns beruft, macht er uns durch seine Kraft auch brauchbar, sei es als Eltern und Partner, als Berufstätige oder als ehrenamtlich Tätige.
Der tägliche Kampf um Anerkennung ist unsere Realität, aber das große Ja, das Jesus Christus uns hören lässt, kann uns mit der Zeit unabhängiger von der Zustimmung oder Ablehnung anderer machen.
Dass wir Schwächen haben, körperliche, charakterliche, geistige oder intellektuelle, das ist unsere Realität, denn wir sind verletzlich, unsere Kraft ist begrenzt und unser Leben je länger es dauert umso verwundeter. Wir werden auch im neuen Jahr immer wieder das Empfinden haben, wir seien Mängelwesen, die einen mehr, die anderen weniger. Aber deshalb sind wir nicht ohnmächtig, sondern können gerade in der Ohnmacht Gottes Macht erfahren. Nichts, worauf es im Leben wirklich ankommt, wird uns im Neuen Jahr fehlen, genauso wenig wie im alten.
Die beiden Skulpturen, auf die die Jahreslosung 2012 zukommt, sind einander zugewandt. In ihrer Mitte macht sich der Zuspruch Jesu Christi breit. Es wäre schön, wenn sich der Zuspruch Jesu Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig im Jahr 2012 auch in unserer Mitte breit machen würde. Dazu können wir beitragen, indem wir einander daran erinnern, dass wir durch Gottes kraftvolle Gnade mächtiger werden können als alles, was uns klein machen will. So können wir einander im Namen Jesu Christi gegenseitig mutig, kräftig und mächtig machen! Ich wünsche mir christliche Gemeinden als Orte, an denen einer der anderen zuspricht, dass Gott uns will und die Macht Jesu Christi in uns Schwachen mächtig ist.
Was kommt also auf uns zu im Neuen Jahr? Ein Jahr ohne grundlegenden Mangel, ein Jahr der Genüge, ein Jahre mit genug Lebenskraft durch die Gnade Gottes – wir können uns darauf freuen. Amen.
Bestelladresse für Text, Postkarten und Plakat: www.werkdruckedition.de
Liedvorschläge für den Gottesdienst:
Eingangslied: „All Morgen ist ganz frisch und neu“ (EG 440)
Lied vor der Predigt: „Ich steh an deiner Krippen hier“ (EG 37, vor allem V. 2)
oder „Ich singe dir mit Herz und Mund“ (EG 324, vor allem V. 12)
Lied nach der Predigt: „Allein deine Gnade genügt“ von Martin J. Nystrom oder
„Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (EG 369)
Schlusslied: „Geh unter der Gnade“ (EG WÜ 543)
 
Literatur: Karl Barth: Predigten 1954-1967, hg. von Hinrich Stoevesandt. Zürich 1979. GA I/12