Gefallen – Geküsst – Getröstet – Predigt zu Römer 6,3-8 von Maximilian Heßlein
6,3-8

Liebe Gemeinde,

ein heißer Sommertag. Das Fahrrad des Kindes war neu. Es glänzte in den Strahlen der Sonne. Eine erste gemeinsame Tour. Mutter und Vater, Geschwister. Auch der Hund trabte nebenher. So ging es über die Felder voran.

„Komm, lass uns um die Wette fahren! Beim Baum hinter der Kurve ist das Ziel!“ Die Geschwister traten in die Pedale. Sie nahmen Geschwindigkeit auf. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren. Die Oberschenkel brannten vor Anstrengung. Das neue Fahrrad fuhr wie der Blitz. Das Kind war schnell. Im Wettstreit der Geschwister lag es weit in Führung. Nur noch die Kurve. Dann war das Rennen gewonnen.

Die Kurve kam. Die Kurve war eng. Die Geschwindigkeit war hoch. In der Kurve lag Schotter. Der beherzte Griff in die Vorderradbremse ließ dem Kind keine Chance. Das Fahrrad rutschte. Das Kind bremste den Sturz mit den Knien.

Nun weinte das Kind. Dicke Tränen. Die Knie aufgeschlagen. Blut lief in kleinen Bahnen das Schienbein hinab. Es tropfte auf die Erde. Heftig aufgeschürfte Schrammen.

Kindergeschichten.

„Wir werden leben!“, sagt der Paulus. Daran besteht kein Zweifel. Die Zukunft leuchtet und strahlt uns entgegen, weil diese Zukunft eine Zeit der Gegenwart Gottes ist. Gott ist da, auch wenn das Leben Schrammen und Wunden davon trägt. So hält der Apostel das fest.

Da können Sie jetzt sagen, liebe Gemeinde, und vielleicht tun Sie es auch: „Ja, schön. Das behauptet Ihr Pfarrer ja immer: Gott ist da. Die Zukunft ist offen. Wir leben. Aber wie erfahren wir das am eigenen Leib? Wie kann ich das im eigenen Leben wahrnehmen? Ist nicht vielmehr die Welt, die so viele Wunden und Striemen reißt, ist nicht viel mehr das Leben an sich ein Erweis des Gegenteils?“

Ich weiß nicht, ob Ihnen oder Euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, diese Frage wirklich durch den Kopf geht. Aber ich halte sie für eine sehr natürliche und normale Frage, eine Lebensfrage. Denn es gibt ja neben den Kindergeschichten auch andere Erfahrungen im Leben von uns Menschen, die auch eine schmerzhafte, dazu aber auch noch eine durchaus bedrohlichere Sprache sprechen:

Ich schaue auf den wankenden Kontinent Europa dieser Tage und sehe: Die Zukunft ist alles andere als klar. Sie liegt eher unter einem dunklen Schleier. Und dass wir auch in dieser Zukunft leben, ist noch lange nicht ausgemacht. Europa hat in den letzten Monaten, vielleicht schon in den letzten Jahren viele Kratzer und Schrammen abbekommen. Viele hat es sich auch selbst zugefügt. Wie geht es weiter? – Geht es weiter?

Ich schaue auf die Begleitung so vieler Menschen in diesen Tagen in Nah und Fern. Sie sind gezeichnet von Krankheit und Bedrohung, von Trennung und Schmerz, von Sorge, tiefer Not und Einsamkeit. Es sind tiefe Wunden des Lebens. „Wie geht es weiter?“ heißt die manchmal ausgesprochene, häufig auch zurückgehaltene und dafür im Innern umso deutlicher bewegte Frage. Geht es weiter?

Ich schaue in so viele Gesichter von Menschen, die im letzten Jahr nach Europa gekommen sind. Gekommen voller Hoffnung und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Gekommen, weil sie eine bessere Zukunft suchen. Gekommen durch Gefahren und Not, durch Ausbeutung und Verlockung. Wenn ich aber in ihre Gesichter schaue, dann sehe ich so viel Unsicherheit und Angst, so viel Heimweh und Fremdheit. Die Last und der Druck des Lebens in der Ferne liegen so offen zutage. „Wie geht es weiter?“ steht in diesen Gesichtern. Es muss nicht ausgesprochen sein. Geht es weiter?

Es ist, nüchtern betrachtet, das ganz normale Leben in West- oder Mitteleuropa dieser Tage. Da ließen sich noch viele Beispiele anbringen von Menschen, die mit den Wassermassen dieses Sommers zu kämpfen haben. Über die Ufer getretene Flüsse, überschwemmte Straßen und Wege, von Schlamm und Dreck verwüstete Städte und Dörfer.

Ich glaube, uns allen sitzt eine tiefe Verunsicherung über das Wie und das Ob der Zukunft im Nacken. Ja, es ist mühsame Zeit.

„Wir werden leben!“, sagt der Paulus. Hören Sie es noch? Können Sie es noch hören?
Wir werden leben. Paulus spricht das gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er setzt es gegen die Furcht und gegen das eigene Erleben. Für ihn besteht daran kein Zweifel. Es geht weiter, das Leben. Das ist auch nicht verhandelbar.

Dabei spricht der Paulus, Apostel, Überbringer der Botschaften Gottes, nicht blauäugig oder gar überheblich zu Ihnen und mir. Nein, vielmehr sieht er sehr genau, was diesem Lebenswort Gottes entgegensteht.

Und ich finde, es ist schon erstaunlich, dass dieser Paulus mit seinem zugegebenermaßen nicht einfachen Text aus dem Römerbrief doch deutlich über die Zeiten hinweg in unser Leben direkt hineinspricht.

Er benutzt dafür, das haben Sie vorhin gehört, diese schweren und großen Worte von Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab.

Diese Worte führen ja häufig dazu, dass Menschen sagen: „Ach, das schon wieder. Jetzt kommt die Kirche wieder. Ich soll mich schlecht fühlen, mein Leben infrage stellen. Jetzt werde ich wieder klein gemacht. Nie kann ich es recht machen.“

Wie oft habe ich das schon gehört! Wie oft habe ich das in den Kommentaren der sozialen Netzwerke schon gelesen! Wie groß ist mittlerweile die Angst innerhalb der Kirche, die Begriffe zu nutzen und ihren Gehalt für uns heute zu erklären, sie zu aktualisieren.

Denn dem Paulus geht es gar nicht darum, andere klein zu machen. Viel stärker muss ich noch sagen: Es geht Gott nicht darum, den Menschen klein zu machen. Es geht der Botschaft der Bibel nicht darum.

Vielmehr beschreiben diese großen Worte, Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab, die Realität und Wirklichkeit des Lebens. Sie sind zumindest ein Teil meines Lebens, wenn ich in diese Zeit hineinschaue.

Ich erfahre diese Dinge in den Stürzen und Wunden des Lebens. Ich erfahre sie in den hilflosen Gesichtern und in meinen eigenen erschreckten Gedanken. Diese harten und großen Worte des Paulus nämlich sind seine Worte für das, was ganz alltäglich und ganz normal in unserer Welt geschieht. In Ihrem und in meinem Leben. Immer wieder.

Tod und Sünde, Kreuzigung und Grab stehen gegen die gemeinsamen Wege, in denen unser Leben leuchten könnte. In ihnen liegen die Einsamkeit und der Verlust. In ihnen liegt das Ende.

Das weiß der Paulus. Er hat es selbst so erfahren. Zugleich aber, in diesem Wissen – und das kann in dieser Gleichzeitigkeit tatsächlich nur der Paulus in der Heiligen Schrift – wendet er diese Erkenntnis mit einem Blick auf Gott. Den hat er gesehen und diesen lehrt er uns. Paulus lehrt Sie und mich den Blick auf Gott. Er hält uns den Herrn Christus praktisch direkt vor die Nase.

Gott geht an unserer Seite und er heißt Jesus Christus. Der hat das Kreuz getragen wie wir. Der hat die Wunden und die Striemen erlitten. Der ist gefallen. Der war einsam und verlassen. Der hat aber auch den Tod überwunden, wie wir es jeden Tag wieder tun. Der hat das Leben gehalten.

Und: Der Herr Jesus Christus lebt in Ewigkeit. Wie Sie und ich in Ewigkeit leben durch ihn.

Und wenn ich das weiß, dann erkenne ich auch: Es ist so gut, dass wir heute in diesem Gottesdienst solch ein Fest des Lebens feiern. Es ist so gut, dass wir zusammen sind, uns gegenseitig mit unserer Kraft und unserem Leben spüren, unsere neuen Konfirmandinnen und Konfirmanden vorstellen und uns alle miteinander unserer Taufe erinnern. Hier und jetzt in diesem Moment weiß und erkenne ich Ihre und meine Verbindung mit dem Leben Gottes. Seine Nähe zu uns.

Wir werden leben! Das ist in diesem Raum heute mit Händen zu greifen.

Und wenn ich das sehe, dann weiß ich auch, dass dieses Leben, das der Apostel beschreibt, also nicht einfach nur ein Dahinvegetieren ist. Sondern dieses Leben, das Gott schenkt, ist ein umfassendes und gutes, ein leuchtendes und warmes. Es geht über Berge und durch tiefe Täler. Dieses Leben schlägt Wunden. Aber sie heilen auch wieder. Dazu brauchen Sie ja nur in die Gesichter Ihrer Nachbarin oder Ihres Nachbarn zu schauen.

Sie erinnern sich, liebe Gemeinde: Das Kind weinte. Dicke Tränen. Die Knie aufgeschlagen. Blut lief in kleinen Bahnen das Schienbein hinab. Es tropfte auf die Erde. Heftig aufgeschürfte Schrammen.

Endlich fuhren die Eltern heran. Die Gesichter ernst. Sehr sogar. Die Mutter stellte das Fahrrad an die Seite. Sie nahm Taschentücher und die Wasserflasche. Sie wusch den Schotter und den Sand aus dem verwundeten Leben. Das Blut gerann. Die Wunde schloss sich leicht. Ein ganz leichter Film legte sich darüber. Wie eine Glückshaut, dachte das Kind.

Als letztes gab die Mutter dem Kind einen Kuss auf das Knie. Voller Liebe. Die Tränen versiegten. Ein neues Strahlen. Ein neues Leben.

Gott spricht: Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Das Zeichen dieses Trostes Gottes, das wir als seine Menschen, als Jüngerinnen und Jünger Jesu haben, wie es die Lesung aus dem Matthäusevangelium vorhin beschrieben hat, ist die Taufe. Hier wäscht Gott alle Schrammen und Wunden rein. Und er küsst uns sanft. Voller Liebe. Sie und mich. Und dann gehen wir mit ihm in eine neue Zukunft. Amen.

Perikope
03.07.2016
6,3-8