Gehorsam lernen - Predigt zu Hebr 5,7-9 von Rainer Stuhlmann
5,7-9

Gottes Sohn hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott die Ehre gab. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, gelernt – er hat Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden. (Hebräer 5,7-9)

„Gehorsam“. Zu diesem Thema hielt der Abt eines Benediktinerklosters einen Vortrag. Als Repräsentant der Evangelischen Kirche am Ort hatte auch ich eine Einladung erhalten. Ich gestehe, dass ich mich ziemlich lustlos auf den Weg gemacht habe. „Gehorsam“? Was für ein abgedrehtes Thema!
Nach bald 50 Jahren im demokratischen Rechtsstaat erschien mir das Prinzip „Befehl und Gehorsam“ eher wie ein Relikt aus fernen Zeiten. Wir schätzen uns glücklich, dass unter uns die Regeln autoritärer Erziehung ebenso wenig Gültigkeit haben wie die eines Obrigkeitsstaates. Selbst beim Militär ist an die Stelle von Gehorsam das Konzept der „Inneren Führung“ getreten. Schon auf dem Weg zu diesem Vortrag formulierte ich in Gedanken für mich ein evangelisches Gegenprogramm mit den Stichworten: Freiheit – Widerspruch – Widerstand.
Unerwartet zog mich aber die anschauliche Erzählung des Abtes in Bann. Zu den Erfahrungen sowohl des jungen Novizen als auch des gereiften Mönches gehörten durchaus Widerspruch und Widerworte. Gehorsam, das war für den Klosterbruder eine immer wieder neue Geburt aus Rebellion und Widerstand. Gehorsam musste er immer wieder neu lernen.
Noch spannender aber wurde sein Vortrag, als er von seinem Gehorsam als Abt erzählte. Ich habe noch seine provokativen Sätze im Ohr: „Der Gehorsam als Abt ist für mich sechzehn Mal schwerer als der Gehorsam als Mönch.“ Sechzehn Mal schwerer? „Die Mönche“, so sagte er, „gehorchen einem Abt. Aber als Abt habe ich in meinem Kloster sechzehn Mönchen zu gehorchen.“
Ich war mehr als verblüfft. Gehorsam nicht gegenüber einer Obrigkeit, nicht gegenüber Papst und Ordensoberen war die ihm gestellte Aufgabe, sondern der Gehorsam gegenüber den Menschen, denen er vorstand, die er zu leiten hatte. In der Regel des Heiligen Benedikt heißt es: „Die Mönche sollen sich in gegenseitigem Gehorsam überbieten.“ Keine Hierarchie. Keine Befehle. Sechzehn Männer sollen einander gehorchen? Ich stelle mir vor, wie schwer es für den Abt ist, sechzehn verschiedenen Persönlichkeiten zu gehorchen.
Sechzehn Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, verschiedene Wünsche. Wem sollte er gehorchen? Wem nicht? Er musste lernen, was wirklich nötig ist, was einzelne wirklich brauchen. Er musste vorgebrachte Forderungen dechiffrieren. Was dient der Gemeinschaft? Was muss geschehen, dass niemand zu kurz kommt? Da gibt es wechselseitige Widerworte, Widersprüche, Widerstände. Wer hier leiten will, muss gehorchen und widersprechen, nachgeben und widerstehen.
Das also ist der Gehorsam, den Menschen brauchen, um zu leiten, ohne zu herrschen. Unversehens fühlte ich mich ganz persönlich angesprochen in meinen damaligen Leitungsaufgaben. Ich muss also lernen, denen zu gehorchen, denen ich was zu sagen habe.

Gottes Sohn hat „Gehorsam gelernt“, heißt es im Hebräerbrief. Das ist eine einmalige Aussage in der Bibel. Aber sie spricht aus, was zigmal erzählt wird. Ähnlich formuliert Paulus im Philipperbrief: Der Messias Jesus, „entäußerte sich selbst und nahm Sklavengestalt an… Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Philipper 2, 6-8). Der Herr wird Sklave und lernt gehorchen. „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene“ heißt es im Evangelium (Mk 10,45). Wenn Jesus die Sklavenschürze anlegt und seinen Jüngern die Füße wäscht (Joh 13), dann wird überdeutlich: Der Gehorsam Jesu ist nicht ein Gehorsam nach oben, sondern ein Gehorsam nach unten. Es ist der Gehorsam des Herrn gegenüber denen, denen er vorsteht, die er zu führen und zu leiten hat.
Der Gehorsam Jesu ist also nicht der „Kadavergehorsam“, wie Paul Gerhardt ihn als Kind seiner Zeit in seinem berüchtigten Passionslied vom „Lämmlein“, das da „geht und trägt“ geschichtswirksam beschrieben hat (EG 83,3). Wenn er Jesus als serviles willenloses „Lämmlein“ sagen lässt: "Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg auf, ich will dir's tragen, mein Wollen hängt an deinem Mund, mein Wirken ist dein Sagen“.
Es ist genau umgekehrt: Der Herr lernt gehorchen. So wie im Benediktinerkloster: der Vorgesetze gehorcht seinen Untergebenen. Das ist die verkehrte Welt der Herrschaft Gottes. Nach den Regeln dieser verkehrten Welt handelt Jesus. Und davon erzählt er in Gleichnissen: Im Reich Gottes ist es so: Wenn der Sklave müde von der Feldarbeit nach Hause kommt, bindet der Herr sich die Schürze um und bedient seinen Sklaven am bereits für ihn gedeckten Tisch (Lk 17,7-9; 12,37b). Und damit gibt er den Seinen „ein Beispiel“.

Es ist nicht nur ein Beispiel, das Jesus uns gibt. Es ist nicht nur der Mensch Jesus, der große Weisheitslehrer, an dessen Verhalten wir uns ein Beispiel nehmen sollen. Es ist der Sohn Gottes, der lernt. Und wenn Jesus es ist, der für Gott redet und handelt auf Erden, dann steht der Sohn Gottes, Jesus, für einen - Gott, der lernt.
Das war schon in der Antike eine Provokation. Die Regeln der Metaphysik werden durch solches Denken und Reden von Gott zerbrochen. Diese Herausforderung spürt auch die wachsende Zahl der Menschen, deren Glaube auf das „Höhere Wesen“ beschränkt ist, den „Allmächtigen“, den „Himmivatter“.
Ich lasse mich gerne durch dieses Denken und Reden von Gott herausfordern. Ich finde es im Alten und Neuen Testament. Und ohne diese paradoxe Theologie wäre ich längst Atheist.
Wie Jesus, der Repräsentant Gottes, Gehorsam lernt! Wie Jesus z. B. lernt, einer Frau, einer Fremden, einer Andersgläubigen zu gehorchen, deren Wunsch nach Heilung ihrer Tochter er zunächst hartnäckig und hartherzig abgeschlagen hatte. Mir hilft diese Geschichte, meine Erfahrungen mit unerhörten Gebeten zu verarbeiten. Ich füge mich nicht einfach. Ich rechne damit, dass der lebendige Gott, für den Jesus geredet und gehandelt hat, ein lebendiger, ein beweglicher Gott ist.
Mir helfen die Geschichten, die von Gottes Reue erzählen. Wie Gott sich erweichen ließ, das Unheil abzuwenden. Wie Gott sich selbst korrigiert. Wie Gott sich selbst überholt. Solche kühnen Geschichten sind Hoffnungsgeschichten. Medizin gegen die Resignation und Verzweiflung.
Denn viel zu oft machen auch wir die Erfahrung, dass wir „Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den bringen, der aus dem Tod erretten“ kann. Lautes Schreien und Tränen, beides gehört nur gelegentlich zu unseren Gebeten. Und das ist schon schlimm genug. An vielen Orten unserer Erde gehören lautes Schreien und Tränen zur täglichen Erfahrung. Unerhörte Gebete, die Menschen genauso wenig verschmerzen wie Jesus in Gethsemane und am Kreuz.
„Und er ist erhört worden“ fügt der Unbekannte, der den Hebräerbrief geschrieben hat, frech hinzu. Es ist die Frechheit des Osterglaubens. Denn Ostern unterscheidet den einen Sohn Gottes von allen anderen Söhnen und Töchtern Gottes. Für uns ist der Triumph über alles Böse nur Zukunftsmusik. Nur eine Hoffnung. Aber weil der eine seinen Triumph über Tod und Teufel nicht für sich behält, ist unsere Hoffnung begründet.
Der Eine, der auf uns horcht und darum uns und dem, was wir wirklich brauchen, gehorcht, wird so zum „Urheber aller Seligkeit“. Auch in unseren Niederlagen gibt er uns teil an seinem Sieg.

Gehorsam will gelernt sein. Gehorchen ist eine Lernaufgabe. Für Jesus und für uns. Die Kunst des Gehorchens gelingt desto besser, je mehr Erfahrungen wir machen. Der Gehorsam des Abtes ist die jahrelange Frucht des Lernens als Novize, als Mönch und als Abt.
Zum Lernen gehört der Rollenwechsel. Nicht nur im Kloster. In der Weisheit der Märchen kommt häufig der Wechsel der Rollen vor. Eine Königin verkleidet sich als Bettlerin. Vom Palast in die ärmlichen Hütten. Lange Zeit lebt sie unerkannt in den Beschränkungen und Behinderungen eines Bettellebens. Sie lernt am gewählten Leiden. Das Schicksal der Bettler:innen formuliert Befehle an die Königin. Ohne dass die Bettler:innen zu ihr sprechen, hört sie ihre Befehle, denen sie als mächtige Königin gehorchen kann und muss, wenn sie eine gute Königin sein will. Und sie wird eine gute und kluge Königin. Sie kehrt zurück auf ihren Thron und nutzt ihre Macht, Verhältnisse zu ändern. Am Ende ist kein Mensch in ihrem Reich mehr gezwungen, seinen Lebensunterhalt durch Betteln zu finden.
Gehorchen beginnt mit horchen. Horchen lernen ist das erste. Hören. Zuhören. Gesammelte Aufmerksamkeit schenken. Schauen. Hinschauen. Genau hinschauen. Die eigenen Sinne schärfen. Dass ihnen nichts entgeht. Blinder Gehorsam ist hier nicht gefordert. Blinder Gehorsam ist pervers. Gehorsam mit geschärften Sinnen. Das ist zu lernen.
Lernen durch Rollenwechsel, das gibt’s nicht nur im Märchen. In einer TV-Dokumentation werden wir Zeugen, wie der Chef eines Riesenunternehmens unerkannt in einer seiner Filialen sich um einen kleinen Job bewirbt und ihn mit Mühe bekommt. Und mit Mühe wird er den Anforderungen dieses Jobs gerecht. Er spürt schmerzhaft seine Grenzen. Die Grenzen seiner Fähigkeiten und die Grenzen seiner Arbeitsbedingungen. Wichtige Lernerfahrungen.
Nach vielen Monaten kehrt er zurück in seine Chefetage. Er hat gelernt. Er hat Gehorsam gelernt. Auch ohne dass die Arbeitnehmer:innen dem Arbeitgeber Befehle gegeben hätten, er hat auf sie horchen gelernt. Er hat ihnen gehorchen gelernt. Mit geschärften Sinnen hat er sein Unternehmen aus einem neuen Blickwinkel kennen gelernt. Plötzlich änderte sich in allen Filialen so viel zum Guten. Viele wussten nicht, wie ihnen geschah. Am Ende haben alle gewonnen.
Das ist kein Märchen. Das ist unsere Realität. Punktuell kann unsere Realität besser werden. Wenn wir beginnen zu horchen auf die, denen wir zu sagen haben, die wir zu leiten und zu führen haben. Wenn Eltern ihren Kindern gehorchen, Erzieher:innen, Lehrer:innen ihren Schüler:innen, Pflegende ihren Pflegebedürftigen, die Chefin ihren Angestellten, der General seinen Offizieren, der Präsident seinem Volk. Was für eine Aussicht! Die Aussicht auf die Herrschaft Gottes auf Erden. Amen
 

Anmerkung des Verfassers: Die Predigt fußt auf der Göttinger Predigtmediation für den 26.3.23.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Rainer Stuhlmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Menschen, die Schwierigkeiten haben mit traditionellen theologischen Aussagen, wie „Wir sollen uns Jesus zum Vorbild nehmen, der Gott bis in den Tod hinein gehorsam war“.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass der Text (mal wieder) traditionelle Theologie und kirchliche Praxis auf den Kopf stellt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Horchen auf die, die ich zu leiten habe, und so lernen, ihnen zu gehorchen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Überlegung, aus dem Abt eine Äbtissin, aus dem König eine Königin und/oder aus dem Chef eine Chefin zu machen.

Perikope
26.03.2023
5,7-9