GEISTLICHE EIERSPEISE
Liebe Gemeinde!
Es gibt Menschen, die haben alles, was man sich nur wünschen kann. Und es gibt andere, denen fehlt es an allem. Menschen, die sich vorkommen müssen, als seien sie nur versehentlich am Leben, als Treibgut an den Stränden der Uferlosigkeit, sinnlos über Bord gegangen, verworfen von einem längst über alle Meere entschwundenen – oder gesunkenen – Schiff. Manchmal leben sie auf demselben Stückchen Erde wie wir. Und wo großes Leid der einen neben großem Glück der anderen wächst – manchmal im selben Beet – da kann natürlich auch das Böse seine Wurzeln ausbreiten.
Es gibt Menschen, die werden 90 Jahre alt ohne ein einziges Mal ernstlich krank gewesen zu sein. Und es gibt Kinder mit Krebs. Manchmal in einer Familie.
Wo Menschen großes Leid erfahren, da erleben sie zugleich auch eine große Sinnlosigkeit. Wer leidet fragt nach dem Sinn. Das Gegenteil der Sinnlosigkeit wäre eine verstehbare Ordnung der Dinge dieser Welt. Doch wer kennt die schon?
Es gibt soviel Leid in der Welt. Warum?
Menschen wollen verstehen. Bedeutet Verstehen das Ende des Leidens?
Warum gibt es das Böse auf dieser Welt? Warum existieren Leid und Trauer neben Glück und Lebensentfaltung? Warum lässt Gott das zu?
In unserem heutigen Predigttext aus Römer 9 (Verse 14-24) versucht Paulus, so scheint es, eine Antwort auf diese so genannte „Theodizee-Frage“, auf die seit jeher drängendste aller Menschheitsfragen, zu geben. Hören Sie die Textstelle aus dem Römerbrief:
Predigttext: Römer 9, 14-24
14) Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! 15) Denn er spricht zu Mose: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
16) So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. 17) Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Welt verkündigt werde.“
18) So erbarmt er sich nun, wessen er will und verstockt, wen er will.
19) Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? 20) Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? 21) Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anders Gefäß zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen? 22) Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, 23) damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit.
24) Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.
Liebe Gemeinde,
Im Blick auf Paulus Argumentation in unserem Predigttext fühle ich mich kurzzeitig geneigt, seine eigene Formulierung vom Anfang auf ihn anzuwenden: „Was sollen wir hierzu sagen? - Ist denn der Apostel noch zu retten?!“ Da wird uns doch ein unsägliches frommes Geeier serviert von Erwählung und Verwerfung, von Verstockung der einen und Erbarmen gegenüber den anderen, vom Zorn und von der Geduld des zornigen Gottes. Da wird uns gesagt, dass es hinsichtlich der Frage, wie wir – im doppelten Sinn des Wortes – „bei Gott ankommen“ können, nicht „an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ liege. Aber wo von Gottes Erbarmen als der nicht selbstverständlichen Ausnahme die Rede ist, da muss man logischerweise auch an seine Unbarmherzigkeit als dem Regelzustand denken. Wo Gnade im Spiel ist, da muss es Verwerfung geben...
Es gibt halt „solche und selle“, wie der Schwabe sagt – „Gefäße zum ehrenvollen und solche zu nicht ehrenvollem Gebrauch“ und Paulus will uns weiß machen, das sei auch alles in Ordnung so...
Aber wehe, wenn einer die persönliche Schlussfolgerung aus all dem ziehen und sich moralisch verteidigen wollte: „Warum beschuldigt Gott uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen?“, dann heißt es plötzlich: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?...“
Hand auf´s Herz, liebe Gemeinde, es ist schon ein abenteuerliches Omelette, was uns der Speisenmeister aus der Gerüchteküche Gottes da zum Schlucken auf den sonntäglichen Frühstücksteller gehauen hat. Und auch wenn uns am Schluss mit der Zusage, dass Gott gerade uns erwählt habe, um seine Herrlichkeit an uns kundzutun, gewissermaßen noch ein versöhnlicher Schuss Tomatenketchup über alles gegossen wird, so kann das doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese ganze geistliche Eierspeise zum Himmel stinkt! Denn wer von uns die Freude über seine eigene Heilsberufung nicht mit Schadenfreude angesichts des Scheiterns der Vielen verwechselt, der muss ja bei diesem moralischen „Welt-Gericht“ den Appetit auf das Reich der Gerechtigkeit Gottes verlieren, stimmt´s?
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir die paulinische Frage: „Ist Gott (etwa) ungerecht?“ schlicht mit „Ja“ beantworten. So gesehen. Denn als sportsmännisch gesinnte Mitteleuropäer gilt für uns die Devise: Jeder soll seine (gerechte) Chance haben! Und davon kann hier ja wohl nicht die Rede sein...
Nein, liebe Gemeinde, Paulus löst unser Problem, die große Lebensfrage der zivilisierten Menschheit auch nicht. Die immer wieder neu anbrandende Frage: warum gibt es das Unheil auf dieser Welt, warum gibt es Menschen, die (ungestraft) Böses tun und solche, die (unschuldig) Böses erleiden müssen?... – XY ungelöst!
Das ist indes nicht verwunderlich, denn die Frage nach dem Warum des Leides und der Ungerechtigkeit in der Welt ist per se nicht beantwortbar, weil sie nach einer logischen Erklärung für etwas verlangt, was mit der Frage bereits als unlogisch gekennzeichnet wurde, indem sie nach dem Sinn des Sinnlosen und dem Guten an der Existenz des Bösen fragt.
Paulus war ein extrem kluger Kopf. Er wusste natürlich um das Paradox der Theodizeefrage. Wenn er uns jetzt mit dieser faulen Eierspeise einer „doppelten Erwählung“ kommt – die einen ins Töpfchen, die andern ins Kröpfchen – dann sicher nicht in der Annahme, dass damit all unsere Fragen beantwortet und alle Zweifel beseitigt wären. Die paulinische Erwählungs-Theologie ist kein weltanschauliches Pauschalangebot für den Gewissensurlaub der Gesunden und Erfolgreichen. Vielmehr gibt uns der Apostel damit den einen entscheidenden Hinweis. Er sagt: Der Töpfer hat Macht, aus demselben Klumpen Ton einen Abendmahlskrug und einen Nachttopf zu machen, ein Gefäß zu ehrenvollem und eines zu unehrenvollem Gebrauch. In seiner Hand liegt es - aber auch in SEINER Verantwortung!
Mit Blick auf unsere Frage nach dem Sinn des Leides und des Bösen in der Welt heißt das: Es ist dies überhaupt nicht unsere Frage, kein Problem, zu dem wir die Lösung finden könnten oder gar müssten. Mit anderen Worten: „Das Leid der Welt“ geht uns nichts an. Es ist Gottes Sache. Sache seines Erbarmens!
Das ist nun allerdings ein entlastender Gedanke, denn unter der Einsicht, dass es nicht unsere Aufgabe als Menschen ist, die Welt als solche in den Status der Gerechtigkeit und des allgemeinen Glücks zu bringen, finden wir uns befreit von der Gefahr, alles zu vermasseln. Wir müssen nicht Gott sein! Uns nicht seinen Kopf zerbrechen!
Oder mit Paulus gesagt: Das Werk darf Werk bleiben, sein Recht als dasjenige, zu dem es bestimmt wurde, ist nicht zu diskutieren. „...Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“
Der Mensch, der da nicht mit Gott rechten soll, ist zugleich auch befreit von der Notwendigkeit, immer Recht kriegen zu müssen. Denn das Recht ist Gottes Sache. Sache seines Erbarmens! „...Denn er spricht zu Mose:“, sagt Paulus, „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. ... So erbarmt er sich nun, wessen er will und verstockt, wen er will.“
Liebe Gemeinde, wir müssen das festhalten: Die Frage von Recht und Unrecht, Glück und Leid auf dieser Welt ist letztlich nicht in unsere Verantwortung gestellt, sondern in Gottes Erbarmen. Wir dürfen sie daher vertrauensvoll aus der Hand geben. - Andererseits stockt uns noch immer der Atem bei dem Gedanken, dass Gott tatsächlich eigenhändig Menschen verstocken soll, um sie anschließend zu verwerfen...(?)
Unsere Empörung ist normal und keineswegs verwerflich. Dennoch sollten wir uns auch vergewissern, was es bedeutet, wenn Paulus das Erbarmen Gottes als Maßstab seiner richterlichen Entscheidungsgewalt nennt.
Im Lichte des göttlichen Erbarmens bedeutet „Verwerfung“ nämlich nicht wie bei uns Menschen, dass einer einfach auf den Müll oder wie überflüssiger Ballast über Bord geworfen, dem Untergang in einem Meer der Sinnlosigkeit preisgegeben wird, sondern tatsächlich das genaue Gegenteil: einen Spezialfall der Erwählung. – Sie erinnern sich: Selbst zu dem verstockten Pharao, zitiert Paulus, sagt die Schrift: „Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Welt verkündigt werde.“
Nicht nur die „Gefäße zu ehrenvollem Gebrauch“ hat der Töpfer erwählt, sondern auch jene zu „unehrenvollem Gebrauch“. Im Ganzen des göttlichen Haushaltes haben auch sie ihren Platz. Was Paulus „Verwerfung“ nennt, ist ein Spezialfall der Erwählung Gottes.
Lassen Sie uns uns also nicht verstockter gebärden als der Pharao... Unsere Aufgabe ist es ja nicht, die Welt von ihren Widersprüchen zu erlösen, sondern sie in ihrer Widersprüchlichkeit zu ertragen! - Keine Widerrede!
Damit rühren wir noch ein letztes Mal an die so genannte Theodizee-Frage. Allerdings in anderer Form. Unser typisch menschliches Problem mit der grundsätzlichen Existenz des Bösen und des Leides in der Welt zeigte sich – wenngleich nicht lösbar, so doch - ab-lösbar von uns: Es ist nicht unser, sondern Gottes Problem. Unsere Aufgabe ist es nicht, die Welt von Unrecht und Leid zu erlösen, sondern sie so wie sie eben ist zu ertragen. Und wohl auch: sie erträglicher zu gestalten! Jeder für sich. Und das ist weiß Gott hart genug. In dieser Welt trägt jeder von uns sein eigenes Lebensbündel. Der eine mehr, der andere weniger.
Erinnern Sie sich: Es gibt Menschen, die haben scheinbar alles, was man sich nur wünschen kann. Und es gibt andere, denen fehlt es an allem. Hungernde Menschen, Unterdrückte, Kriegsgeschädigte, Trauernde, an Leib oder Seele erkrankte Menschen und und und. Manchmal auf dem selben Stückchen Erde. Und sicher auch auf diesem kleinen Stück Kirchenboden.
Jeder dieser Menschen – jeder und jede von Ihnen – stellte sich schon oder stellt sich gerade die Hiobsfrage: „Warum muss Gott gerade mir das antun...?“
So oder ähnlich fragt tatsächlich zunächst jeder von uns, wenn er mit persönlichem Leid konfrontiert wird: „Warum?!“, „Warum mir?...“ Das ist menschlich und legitim. Dennoch ist diese Frage prinzipiell nicht beantwortbar. Weil sie nämlich eigentlich keine Frage ist, sondern eine Anklage. Unser hilfloser Protest gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals: „Erkläre Dich, Gott“, wütet unsereiner wie einst Hiob in der Asche, „womit habe ich verdient, was du mir da angetan hast?“ – Und natürlich antwortet Gott nicht.
„Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so?“- feixt im Hintergrund der Apostel...
Es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ unseres eigenen oder überhaupt des Leides. Gleichzeitig können wir sie aber auch nicht so einfach delegieren an die Theologen oder gar an Gott selbst, welcher ja für uns zuständig ist. Außer vielleicht im Gebet um Erbarmen!
Nein, diese Frage kann nur gelöst werden, indem sie überwunden wird. Und da es eine Frage ist, die aus den Tiefen unserer Seele kommt, heißt das: Wir müssen uns selbst überwinden. Überwinden beispielsweise dazu, die Wut unserer Klage umzuformen in Kraft eben zu einem Gebet um Gottes Erbarmen und unser Ertragen. Dadurch geben wir die Frage – unser fragwürdig gewordenes Leben – an Gott zurück. In seine Hände. Denn für´s Erbarmen ist Gott zuständig.
Aber für´s Ertragen wir selbst! Und das ist schwer...
Manche Menschen, die schweres Leid erlebt haben oder noch erleben, überwinden sich selbst auch dadurch, dass sie sich anderen Menschen in deren Leid zu-wenden. Das scheint mir eine besonders edle Form der Antwort auf die Herausforderungen einer zutiefst ungerechten Welt und unseres widerspruchsvollen Daseins darin zu sein. – Nicht nur ethisch gesehen, sondern auch theologisch und sogar vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet.
„Leben heißt Problemlösen“, so lautet der Titel eines Buches von Karl Popper. In diesem Titel wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es auf der Welt, wie sie nun einmal ist, kein unproblematisches Dasein gibt.
Ja, liebe Gemeinde, wir alle teilen das Schicksal einer gemeinsamen „Erwählung zur Unvollkommenheit“ und die heißt: Menschliches Leben!
Die Mangelhaftigkeit unseres irdischen Daseins, sie ist so etwas wie eine übermenschliche Grundvoraussetzung dafür, dass wir Techniken zur Überwindung des Mangels entwickeln, Strategien der Liebe und der Zuwendung zueinander in unserem jeweiligen Leid usw... Keine kulturelle Entwicklung der Menschheit ohne Leid und Schmerzen! – Und auch: Keine religiöse Entwicklung der Menschen im Geiste der Liebe Gottes ohne die Erfahrung der eigenen Mangelhaftigkeit und des Leides um uns herum...
Die Überwindung der Unvollkommenheit unseres eigenen Lebens besteht nämlich in der Vervollkommnung unserer Mitmenschlichkeit! „...Dazu“, meint Paulus, „hat Er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden!“
Was sollen wir nun hierzu sagen? - Ob da am Ende doch noch so etwas wie eine Antwort auf die alles bewegende Frage - die einzig wahre Hoffnung auf einen „Sinn des Leidens“ – heraufzieht? ...Der Duft einer feinen Eierspeise von apostolischer Hand (?): Als Einzelne schwach und leidend, aber mit- und füreinander stark IM ERBARMEN!
... Zu einem guten Omelette jedenfalls müssen viele Eier zusammenkommen!
Ach, wenn wir unseren Paulus nicht hätten – wie armselig wäre doch der Speisezettel der christlichen Theologie...!
AMEN