gekämpft – gezeichnet – gesegnet | Predigt zu 1. Mose 32,23-32 von Anne-Kathrin Kruse
32,23-32

Im Gedenken an Dorothee Sölle, der großen Kämpferin, zum 20. Todestag am 27.4.2023

(Lesung der Perikope im Gottesdienst)

Im Dunkel der Nacht

Tief ist die Schlucht des Jabbok, finster und einsam die Nacht.
Der Fluss durchschneidet die jordanischen Berge und fließt in den Jordan.
An der Wasserscheide, wo sich Jakobs Zukunft entscheiden soll,
kauert er sich in der Dunkelheit zusammen.
Wartet auf den Morgen.
Nichts regt sich.
Nur das Rauschen des Flusses ist zu hören.
Was tut Jakob?
Liegt er auf der Lauer
und bohrt seine Augen in die Finsternis?
Er denkt nach, lässt sein Leben vor seinem inneren Auge vorüberziehen.

Schon als Kind hat er mit seinem älteren Zwillingsbruder Esau konkurriert,
schon im Mutterleib ging das los.
Als „Mamas Liebling“ hat er seinen Vater Isaak betrogen
und Esau als Erstgeborenen den väterlichen Segen
und damit das väterliche Erbe abgeluchst.

Zwanzig lange Jahre sind seitdem vergangen.
Wirtschaftlich hat er es zu Wohlstand gebracht.
Aber seine familiären Beziehungen sind kaputt.
Seitdem ist er auf der Flucht vor dem Zorn von Esau,
der ihm nach dem Leben trachtet.
Zwanzig Jahre zwischen Betrug und der Hoffnung auf Versöhnung.
Zwanzig Jahre und eine Nacht voller Angst und verzweifeltem Mut.
Müde ist er geworden.
Nach Hause will er, ins Land seiner Väter.
Und reinen Tisch machen.

Mir kommt das alles sehr bekannt vor – dieses krumme Leben von Jakob.
Und Ihnen vielleicht auch!
Diese Brüche im Leben, bei denen wir Flüsse durchqueren müssen,
die Rivalitäten mit den Geschwistern, wer das Lieblingskind der Eltern sei,
Kämpfe mit den Eltern.
Und die Sehnsucht, mit all dem Frieden machen zu können – wie Jakob.
Damit aus dem Geschwisterkonflikt kein Geschwisterkrieg wird.
Jakob hat sich gut vorbereitet, nichts dem Zufall überlassen.
Hat sich Worte zurechtgelegt. Geschenke vorbereitet.
Hat in der Dämmerung eine Furt durch den Jabbok gefunden
und sie alle, die Frauen, die Kinder und das Vieh, sicher hinübergebracht.
Ist wieder zurück in die Einsamkeit.

Nur diese eine Nacht noch

Nur diese eine Nacht noch, Jakob, dann wirst du wissen,
ob Esau dir mit seinen 400 Mann und seinem Schwert
oder mit offenen Armen entgegeneilt.
Bis dahin bleibt dir nichts als Warten, einsam, schutzlos und voller Angst.
Und beten (1. Mose 32,11-13): Ich bin zu gering.
Flehen und ringen mit Gott: Errette mich von der Hand meines Bruders…
denn ich fürchte mich vor ihm!

Ihn an seine Verheißungen erinnern: Du hast gesagt; Ich will dir wohltun…
Mit allem hast du gerechnet in dieser Nacht, Jakob –
nur mit diesem einen nicht.
Einem unberechenbaren Unbekannten,
der dich plötzlich aus dem Dunkel hinterrücks überfällt.

Kampf um Leben und Tod

Zwei Männer ringen miteinander, stöhnend, keuchend verhaken sie sich,
drücken sich die Luft ab, zerren an Armen und Beinen,
rammen die Fäuste in die empfindlichen Stellen,
um den anderen kampfunfähig zu machen.
Kämpfen schweißnass und mit offenen Wunden
die ganze Nacht, auf Leben und Tod
bis zur totalen Erschöpfung.
Schließlich kugelt der Unbekannte Jakob brutal und schmerzhaft das Hüftgelenk aus,
sodass er von nun an durchs Leben hinkt.

Der hinterhältige Überfall erinnert mich an Klaus,
von dem ich unendlich viel Wertvolles gelernt habe.
Klaus, das Energiebündel!
Und eine Kämpfernatur.
Ein Leben lang hat er mit Gott und den Menschen gekämpft –
und strotzte dabei nur so vor Lebensfreude.
Aber dann wurde er überfallen, aus dem Dunkel hinterrücks,
von einer Krebserkrankung.
Ein Angriff auf Leben und Tod mit unerträglichen Schmerzen
eine Bedrohung, die einem die Luft abdrückt und die letzten Kräfte raubt.
Aber Klaus ist nicht ausgewichen.
Gekämpft hat er – bis zuletzt.

Der Unbekannte

Aber mit wem?
Wer ist der große Unbekannte, den Klaus nicht einfach gelassen hat?
Ein nächtlicher Besucher, ein lichtscheuer Dämon, ein Engel?
Gar der Satan? Oder Gott?
Wer überfällt und wer segnet?
Und ist es überhaupt denkbar,
dass er dem über ihn hereinstürzenden Unglück so standhält,
ihm so viel Liebe zum Leben entgegensetzen kann, dass es sich verwandelt?

So viele Fragen, die ohne Antwort bleiben.
„Denen, die Gott lieben“, schreibt Paulus,
„müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ (Röm 8,28)
Wirklich alles? Auch die Krankheit, auch die Vernichtung?
Jakob muss so etwas geglaubt haben.
Sonst hätte er nicht diese Stärke haben können,
mit all seiner Macht dem Unbekannten standzuhalten.
Als die Morgenröte anbricht, ist Jakob nicht einfach froh,
diesen Dämon loszuwerden
und trotz verrenkter Hüfte gerade noch davonzukommen.
Er atmet nicht einfach erleichtert auf
und lässt diesen Ungeist ziehen.
Jakob will mehr.
Wenn dieser Ungeist Gott ist, dann will er ihn anders haben.
Denn: Jakob liebt Gott!
Er sagt nicht: So ist das da eben mit diesem Gott, den kannst du vergessen!
Er ringt mit ihm, bedrängt ihn, dass er nicht nur seine dunkle Seite zeigt,
sondern sein barmherziges liebendes Angesicht.
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Und Gott segnet und rettet ihn – vor dem Zorn seines Bruders Esau:
Als dieser seinen Bruder sieht, wie der ihm mühsam und schutzlos entgegenhinkt,
packt ihn das Erbarmen und sie fallen sich weinend in die Arme.
Jakobs Schwäche rettet ihm das Leben.

Leider funktioniert das nicht immer:
Die Schwäche der Ukraine gegenüber einer Großmacht wie Russland
macht sie nur umso begehrlicher.
Ohne die Völkergemeinschaft wäre sie längst verloren.
Trotz aller Konfliktforschung und Friedenspädagogik
erleben wir unser Scheitern.

Wer ist der Gott Jakobs, der Gott Israels?
Wer überfällt und wer segnet?
Die Antwort liegt in dem Ringen, das wir Beten nennen.
Mit Gott ringen, damit Gott Gott ist – das ist eine Antwort auf die Frage.
Beten heißt:
mit dem dunklen Gott um das Leben eines geliebten Menschen ringen.
Gott das Leiden der Menschen in der Ukraine vorhalten.
Ihn an die erinnern,
die nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien alles verloren haben
und allen Grund haben, sich von Gott und den Menschen verlassen zu fühlen.
Je mehr wir lieben, desto mehr beten wir – und kommen ins Tun.
Beten und kämpfen gehören zusammen.
Uns Gott in den Weg stellen und ihn festhalten:
„Sag, dass du Liebe bist und nicht Terror“! (D. Sölle, s. Anm. unten S.81)

Gott von Angesicht zu Angesicht

Dieser eigentümliche Gott Jakobs und Israels –
er ist kein anderer als der Gott Jesu, eines Sohnes Israels.
Kein anderer als der Vater Jesu Christi,
der all das selbst durchkämpft und durchlitten hat,
was Jakob zu kämpfen und zu leiden hatte.

Tief ist die Schlucht des Jabbok, finster und einsam die Nacht.
Klaus hat gekämpft.
Damit Gott Gott ist und sein wahres Gesicht zeigt.
Hat mit Gott gerungen und ihn nicht losgelassen.
Und ist gestorben.
Jakobs Kampf am Jabbok war seine Lieblings- und Lebensgeschichte.
Sein Beerdigungsspruch stand lange fest
und hat ihn auch im Sterben nicht verlassen.
Als er an Pnuel vorüberkam, da ging ihm die Sonne auf.
Pnuel heißt „Angesicht Gottes“.
Als Klaus an Pnuel vorüberkam, da hat er Gott gesehen –
von Angesicht zu Angesicht,
im gleißendem Licht der Sonne.

Von Gott gezeichnet, verwundet, errettet, gesegnet.
Unsere Namen in seine Hand geschrieben.
Wir dürfen ihn sehen –
von Angesicht zu Angesicht.
Quasi wie neugeboren.
Amen.
 

Gebet

Jede von uns hat einen engel
lass uns ihn erkennen
auch wenn er als blutgieriger dämon kommt
jeder von uns hat einen engel
der auf uns wartet
lass uns nicht vorbeirasen am jabbok
und die Furt versäumen

Auf uns wartet ein engel

Jeder von uns kämpft mit gott
lass uns dazu stehen
auch wenn wir geschlagen werden
und verrenkt
jede von uns kämpft um gott
der darauf wartet
gebraucht zu werden

Auf uns wartet ein kampf

Jeder von uns wird gesegnet
lass uns daran glauben
auch wenn wir aufgeben wollen
gib uns die Dreistigkeit mehr zu verlangen
mach uns hungrig nach dir
lehr uns beten: ich lass dich nicht
das kann doch nicht alles sein

Auf uns wartet ein segen

Jeder von uns hat einen geheimen namen
er ist in gottes hände geschrieben
die uns lieben lesen ihn
eines Tages wird man uns nennen
land der Versöhnung
bank die ihren Schuldnern vergibt
brunnenbauerin in der wüste

Auf uns wartet gottes name

Aus: Zum Gedenken an Dorothee Sölle, Hrsg. Wolfgang Grünberg und Wolfram Weifle
(Hamburger Universitätsreden Neue Folge 8. Hrsg: Der Präsident der Universität Hamburg S. 82f
PDF-Ansicht der Datei HamburgUP_HUR08_Soelle_Kampf.pdf (uni-hamburg.de) Abgerufen am 13.3.2023

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mit der neuen Perikopenordnung ist Gen 32 in den Osterfestkreis gelangt und fordert damit die Frage heraus, wie christologisch dieser Text gepredigt werden kann und darf. Voller dunkler Rätsel wirft er Fragen nach Gott auf, auf die es keine leichtfertigen Antworten gibt. Immerhin gibt er Anhaltspunkte für Jesu Ringen mit Gott, dafür, wie leiblich-körperlich Auferstehung gedacht werden kann, und dass Ostern alles andere ist als ein Happy End.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Gedenken an Kämpfernaturen wie Dorothee Sölle und Klaus hat mich dahin geführt, den Kampf mit dem eigenen Gottesbild im Gebet ins Zentrum zu stellen. Gegen die Tendenz, die dunklen Seiten Gottes auszublenden, erklärt Gen 32 alle einfachen Erklärungen für obsolet und nimmt damit Menschen in der Krise ernst. Damit sehe ich den Überfall weder als vorhersehbare Strafe für Jakobs Vergehen, noch als ausschließlich psychisches Geschehen. Inspiriert hat mich die Predigt D. Sölles zum Text (s. Anm.)

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Häufig sind aggressive Stellen in biblischen Texten nicht nur abstoßend, sondern auch besonders interessant, weil sie Aufschluss geben über Verdrängtes.
Reizvoll wäre auch, entsprechend der jüdischen Auslegung zu Jakob und Esau als Israel und die Völker zu predigen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Besonders wertvoll war – neben klugen Hinweisen auf mögliche Straffungen –, die Wahrnehmung des Textes durch das Coaching abzugleichen – auch wenn es bei dieser Komplexität des Textes durchaus auch zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt.

Perikope
16.04.2023
32,23-32