Liebe Gemeinde,
der Personalchef des großen Unternehmens setzte sein schönstes Haifischgrinsen auf und sagte zur Bewerberin: „Sehr schön, Ihr Lebenslauf, ganz ausgezeichnetes Profil. Jetzt haben wir viel über Ihre Stärken erfahren. Verraten Sie uns doch bitte zum Schluss noch etwas über Ihre Schwächen.“
Ohne mit der Wimper zu zucken und hoch professionell antwortete die Bewerberin mit einem nicht minder raubtierhaften Lächeln: „Es ist ganz furchtbar mit mir. Ich bin so ungeduldig.“
Die Frage nach den eigenen Stärken und Schwächen ist eine Standardsituation im Bewerbungsgespräch. Vielleicht haben Sie auch schon einmal so geantwortet wie die Bewerberin. Falls ja, ist das wirklich keine Schande. Denn in Bewerbungssituationen werden Konventionen abgefragt. Da geht es um die Frage: Passt derjenige zu uns?
Doch genau das ist ja so spannend. Warum ist die Ungeduld eine so unverfängliche Schwäche? Ja, mehr noch: Eigentlich ist es doch ganz schön kokett, Ungeduld als Schwäche auszugeben. Denn unter der Hand ist allen klar: Ungeduld gilt eigentlich als Stärke. Die Bewerberin ist dynamisch, macht ihr Ding und drängt nach vorne.
Was sagt es über uns als Gesellschaft, wenn Ungeduld eigentlich als Tugend gilt?
Der Mann im Gleichnis, von dem Jesus erzählt, hätte möglicherweise bei unserem Personalchef schlechte Karten gehabt. Jesus lehrte die Menschen in Gleichnissen. In kurzen Geschichten, die Situationen aus dem Alltag aufgreifen, öffnete Jesus den Menschen die Augen dafür, wie Gott unter uns wirkt.
Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da. (Mk 4,26-29)
Der Sämann tut, was seine Aufgabe ist: er sät den Acker ein. Danach schläft er. Er setzt sich also nicht an den Ackerrand und schaut ungeduldig alle zwei Minuten nach, ob der Samen schon aufgegangen ist, sondern er schläft. Der Sämann lebt und wirkt im Rhythmus von Nacht und Tag.
In der Bibel ist oft von Nacht und Tag die Rede. In der Schöpfungsgeschichte wird erzählt: Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. (Gen 1,5) Der Tag beginnt mit dem Abend und der Nacht. Dort, in der Ruhe und im Schlaf, werden die Voraussetzungen für fruchtbares Wirken am Tag geschaffen.
So auch bei dem Sämann im Gleichnis. Er schläft und steht auf im Rhythmus von Nacht und Tag.
Und siehe da, in diesem Rhythmus von Nacht und Tag, in diesem Rhythmus von Tun und Lassen stellt sich der Erfolg seines Handelns ein: Der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. (Mk 4,27b)
Er weiß nicht wie? Der Sämann weiß nicht, wie die Saat wächst?
Natürlich weiß er es. Gerade weil er ein guter Sämann ist, weiß er, dass Wachsen und Gedeihen nicht in seiner Hand liegen. Er muss säen und dann – und das ist nicht weniger wichtig – die Saat in Ruhe lassen. Auf dem Weg vom Samenkorn zur Frucht gibt es eine Fülle von Entwicklungsschritten. Da läuft ein Prozess ab, aus dem der Sämann sich heraushält, wo er die Finger rauslässt und sagt: „Davon will ich gar nichts wissen. Mir reicht, dass ich weiß: Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. (Mk 4,28)“
Der Sämann weiß und respektiert: Es gibt Dinge, die kann ich anstoßen, doch dann laufen sie ohne mein Zutun ab. Von selbst, automatisch, autonom entwickelt sich die Frucht. Der Sämann könnte ihre Entwicklung höchstens stören, wenn er zur falschen Zeit nachschaut, kontrolliert und fördert.
Dazu gehört auch: Der Wachstumsprozess läuft in bestimmten Schritten ab, die weder vertauscht noch verkürzt werden können. Halm, Ähre, Weizen. Es gehört zur Geduld des Sämanns, dass er weiß: Wenn ich heute den Samen in die Erde stecke, dann bekomme ich nicht morgen schon die volle Ähre. Wachstum braucht Zeit.
Finger weg, heißt also das Erfolgsrezept des Sämanns und – genau hinschauen. Denn neben dem Wechsel von Tun und Lassen braucht es auch ein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Timing ist wichtig. Es kommt der Moment, wenn die Frucht reif ist. Und dann gibt der Sämann den Startschuss für die Ernte.
Wer eben noch den Eindruck hatte: Diesen Mann bringt nichts aus der Ruhe in seinem Rhythmus von Nacht und Tag, der reibt sich jetzt verwundert die Augen, denn er schickt „alsbald die Sichel; denn die Ernte ist da.“ (Mk 4,29b)
Zum richtigen Zeitpunkt also verliert der Sämann keine Zeit, sondern handelt entschieden und schnell.
Der Mensch, von dem Jesus im Gleichnis erzählt, weiß also genau, was er tut. Geduld und Augenmaß, Erfahrung und Gelassenheit, Aufmerksamkeit und Entschiedenheit steuern ihn, sein Tun und Lassen, und vor allem die unerschütterliche Hoffnung: Die Saat geht auf. Sie geht auf jeden Fall auf!
Jesus erzählte diese Geschichte vom Sämann als Gleichnis für das Reich Gottes. Er öffnet uns die Augen dafür, wie Gott unter uns wirkt. Immer wieder ist dies geschehen, dass Menschen plötzlich eine Ahnung davon bekommen, wie Gottes Reich unter uns wächst.
Der schwäbische Pfarrer Johann Christoph Blumhardt begleitete Anfang der 1840er Jahre eine junge Frau aus seiner Gemeinde in der Seelsorge. Sie wurde von unerklärlichen Beschwerden geplagt, litt an Krämpfen und hörte Stimmen. Heute würden wir vielleicht sagen: Sie hatte eine psychosomatische Krankheit. An Weihnachten 1843 wurde sie geheilt. Nach einer krisenhaften Zuspitzung, von Blumhardt in seinem Bericht an den Oberkirchenrat in Stuttgart als „Geisterkampf“ bezeichnet, rief die junge Frau aus: „Jesus ist Sieger.“
Die Nachricht von ihrer Heilung verbreitete sich rasch und führte zu einer wahrhaften Erweckungsbewegung in dem kleinen schwäbischen Ort Möttlingen. Blumhardt wurde geradezu überrannt von Hilfesuchenden, die er schon bald nicht mehr alle in seinem Pfarrhaus empfangen konnte. Der Oberkirchenrat in Stuttgart, die zuständige Kirchenleitung, beobachtete sein Wirken ohnehin skeptisch. Blumhardt wurde der Rat erteilt, sich doch bitte mehr um die Predigt zu kümmern und mit diesen Heilungen aufzuhören.
Doch der dachte gar nicht daran, im Gegenteil. Blumhardt zog von Möttlingen nach Bad Boll und kaufte dort das heruntergekommene Kurhaus, das er zum Seelsorgezentrum ausbaute. Dieses Haus zog Gäste aus ganz Europa an und wurde zu einem Ort, an dem Menschen ganzheitlich Hilfe erfuhren.
An der Fassade des Kurhauses stehen bis heute zwei Buchstaben: W und P für Wilhelm I., König von Württemberg, den Gründer des Kurhauses und seine Frau Pauline. Blumhardt selbst übersetzte diese Buchstaben anders: W für warten und P für pressieren, also schwäbisch für ‚sich beeilen‘.
Warten und Pressieren, das entspricht dem, was auch der Sämann tut: Zur rechten Zeit handeln und dann den Dingen wieder ihren Lauf lassen. Blumhardt wusste: Das Reich Gottes hängt nicht von uns ab. Wir können es mit unserem Handeln nicht herbeizwingen. Aber wenn es kommt, wenn Gottes Gegenwart unter uns erkennbar wird, dann ergeben sich Chancen zum Handeln, die es zu nutzen gilt.
Dann können Menschen gesund werden an Leib und Seele und positive Entwicklungen aller Art in Gang gesetzt werden.
Warten und Pressieren, zur rechten Zeit etwas tun und lassen - das ist wie Einatmen und Ausatmen, im Rhythmus bleiben, den Dingen ihren Lauf lassen und dann doch auch den entscheidenden Impuls geben.
Gelassen wirken, das ist eine Lebenskunst, die wir im Reich Gottes lernen können und die sich doch auf alle lebendigen Prozesse übertragen lässt.
Haben Sie beispielsweise schon einmal versucht, ein Kind großzuziehen? Dann werden Sie sicherlich festgestellt haben, dass das gar nicht geht. Sie können an den Armen und den Beinen ziehen, wie Sie wollen, das Kind wächst nicht schneller. Sie könnten es auch auf den Kopf stellen und auf die Schwerkraft hoffen, das einzige, was Sie erreichten, wäre, dass die Kleinen vor lauter Lachen einen Schluckauf bekämen. Aber schneller wachsen tun sie dadurch nicht, großziehen lassen sie sich nämlich nicht.
Wenn Sie irgendwo Verantwortung für Menschen haben, beispielsweise in einem Unternehmen, dann werden Sie wissen: Von Zeit zu Zeit kann es durchaus angemessen sein, sich mal bei den Mitarbeitenden zu erkundigen, was die so machen. Ob es allen gut geht, ob noch alle bei der Arbeit sind, ob die Ziele klar sind. Wenn Sie allerdings alle fünf Minuten auftauchen und kontrollieren, dann setzen Sie allenfalls sehr kreative Prozesse in Gang, mit denen ihre Mitarbeitenden sich der Kontrolle entziehen, aber schneller und besser wird deren Arbeit dadurch ganz sicher nicht.
Und wenn Sie an sich selbst denken, dann fällt Ihnen vielleicht auch so einiges ein, was Sie schon vor langer Zeit ändern wollten. Die Zeit der guten Vorsätze ist Mitte Februar eigentlich schon längst vorbei, aber bestimmte Themen bleiben uns ja trotzdem über das Jahr treu: mehr Bewegung, gesündere Ernährung, weniger Stress.
Auch hier gilt: Nachhaltige Veränderung zum Guten geschieht nicht über Nacht. Auch mit uns selbst brauchen wir vor allem immer wieder Geduld und Achtsamkeit, um dann doch zur rechten einen ersten Schritt in die richtige Richtung zu gehen.
Liebe Gemeinde, was sagt es über uns als Gesellschaft, wenn Ungeduld eigentlich als Tugend gilt?
Wenn ein amerikanischer Präsident von manchen sogar für seine Tatkraft gerühmt wird angesichts einer Flut von Dekreten, von denen die meisten wohl keinen Bestand haben werden?
Mir scheint, wir haben das Leben halbiert. Wir haben aus Nacht und Tag einen immerwährenden Tag gemacht, geben der Aktivität in jeglicher Form einen Vorzug vor Kontemplation und Verweilen.
Damit haben wir manches erreicht und anderes verloren. Verloren haben viele Menschen heute die Fähigkeit, sich wirklich zu erholen. Wirklich einmal herauszutreten aus der inneren Tretmühle und den Kopf freizubekommen für das, was im Leben wirklich zählt und was uns trägt, auch wenn wir einmal keine Spitzenleistung erbringen.
Da kommt die Geschichte vom Menschen, der Samen auf das Land wirft, gerade recht. Von ihm können wir lernen, dass zum Leben beides gehört: Arbeit und Ruhe, Geduld und gelassene Aufmerksamkeit für das, was geschieht. Den Dingen ihren Lauf lassen und eingreifen, damit wir gelassen wirken können!
Vor allem aber brauchen wir die Hoffnung, dass Entscheidendes immer wieder von Gott her geschieht, auch ohne unser Zutun. Dass wir leben dürfen in einer Welt und von einer Welt, die uns freundlich entgegenkommt.
Gott sei Dank! Amen.