Genaues Hinsehen birgt Überraschungen - Predigt zu Lk 10,25-37 von Andreas Schwarz
10,25-37

25 Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

 

Vier Jahre ist es her, da sprach Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von einer ernsthaften Bedrohung unserer Innenstädte:
Horden junger ausländischer Männer.
Die Botschaft kam an und wurde unterstützt oder heftig kritisiert.
Sie hat Spuren hinterlassen.
Wenn ich durch die Innenstadt gehe, sehe ich sie auf einmal deutlicher als vorher.
Ich spüre ein Unwohlsein, an ihnen vorbeizugehen, wenn sie am Eingang eines Einkaufszentrums stehen.
Miteinander in einer fremden Sprache reden, lachen.
Wie leicht könnte das umkippen?
Wozu sind sie als Gruppe fähig?
Was müssen Frauen denken und fühlen, wenn sie allein in deren Nähe kommen?
Welche Blicke.
Welche Sprüche.
Welche Angst.

Was ich nie wollte, ist geschehen.
Ein Satz hat sich eingeprägt und Spuren hinterlassen.
Ich denke und sehe Menschen mit mehr Vorurteilen.
Leicht fallen mir Beobachtungen auf, die diese Vorurteile unterstützen.
Dann braucht es andere, also gute Erfahrungen, die das wieder aufwiegen und in ein besseres Licht stellen.

Ich saß am Bahnsteig und wartete auf den Zug, der mich wieder nachhause bringen sollte.
Schönes Wetter, ein bisschen Wind.
Ich saß auf einer Bank und las in dem Buch, das ich mir für die Zugfahrt und die Wartezeit mitgebracht hatte.
Mein Lesezeichen war ein kleines Briefchen meiner Tochter, eine persönliche Geburtstagswidmung. Schon ein paar Jahre alt und leicht eingerissen.
Aber für mich mit großer Bedeutung.
Ein kleiner Moment Unachtsamkeit, da wehte der Wind das Briefchen weg, es landete im Gleisbett.
Ich ging sofort hinterher und sah es zwischen den Schienen liegen.
Aber das war mir zu tief – so sportlich, dann schnell wieder hochzukommen, bin ich nicht. Verboten ist es ja ohnehin.
Da verabschiedete ich mich innerlich schweren Herzens von diesem kleinen Zettel.
Am anderen Bahnsteig gegenüber saß eine Horde junger ausländischer Männer. Sie redeten und lachten miteinander. Aber einer von ihnen hatte mein Missgeschick sehr genau wahrgenommen.
Auch, dass ich wieder vom Bahnsteig zurück zur Sitzbank gegangen war, den Zettel also aufgegeben hatte.
Wir sahen uns über die ziemlich große Distanz kurz an.
Plötzlich stand er auf, sprang runter in das Gleisbett, ging zu dem Zettel, der da immer noch lag, sprang auf meiner Seite wieder hoch, kam zu mir und gab mir mit einem Lächeln im Gesicht den Zettel.
Ich konnte nur von Herzen ‚Danke‘ sagen, da war er schon wieder weg auf dem Weg zum Rest der ausländischen Horde junger Männer.
Ich habe mich so gefreut, dass ich diese persönliche Erinnerung wieder hatte und immer noch habe.
Und habe mich geschämt.
Für meine Vorurteile.
Und den unangenehmen Erfolg dieses einen Satzes von den Horden junger ausländischer Männer.

Wenn Jesus ein Gleichnis von einem barmherzigen Menschen erzählt, warum muss das ein Fremder sein, ein Ausländer?
Nichts sagt Jesus unbedacht.
Es ist Absicht und nicht Zufall.
Auch wenn die Formulierung das nahelegen könnte: Es traf sich aber. Die römisch-katholische Einheitsübersetzung sagt da tatsächlich: zufällig.
Aber dass Jesus so erzählt, dass ein Samariter barmherzig ist, ist alles andere als Zufall.
Jesus sagt und tut, was Menschen überrascht.
Ihre Erwartungen werden durcheinander gebracht.
Sie machen neue Erfahrungen, die bisherige Urteile und Vorurteile überwinden.
Spannend ist, ob Menschen sich dazu bewegen lassen.
Sich verändern zu lassen.
Neu zu denken und zu empfinden.
Anders zu handeln.

Menschen neigen dazu, sich in dem wohlzufühlen, was sie schon immer kennen; wie sie erzogen und aufgewachsen sind.
Sie lernen Bibelworte auswendig, nehmen das Bekenntnis an und haben ein Korsett, in dem das Leben und der Glaube an Gott gesichert scheinen.
Klare Regeln, einfache und schnelle Antworten auf alle Probleme.
Wie komme ich in den Himmel?
Ganz einfach: Gott und den Nächsten lieben.
Kein Problem. Mach ich. Noch was? Oder war das alles?
Das Leben ist einfach, wenn man für jede Frage die passende Antwort hat, auswendig gelernt, immer parat und zur Rechtfertigung bereit.
Aber das Leben ist konkret etwas anderes als kluge Antworten zu geben.
Nächstenliebe?
Finde ich gut.
Barmherzigkeit?
Ich bin dafür.
Aber wem denn? Wann denn? Wie denn?
Keine Ahnung.
Ich weiß nicht, wie ich die Leute finden soll, die ich lieben könnte, denen gegenüber ich barmherzig sein könnte.
Wo sind die?

Der Gesetzeslehrer will Jesus versuchen, hereinlegen, in eine Falle locken.
Er will am Ende über ihn urteilen, ob er es mit den Geboten Gottes wirklich ernst meint.
Aber plötzlich ändert sich die Richtung im Gespräch.
Es geht nicht mehr um Jesus und wie er denkt und handelt. Sondern um den Gesetzeslehrer.
Um seinen Blick auf das Leben geht es.
Um seinen Glauben, um seine Liebe zu den Menschen.
Jesus schenkt eine neue Erfahrung.
Die hilft, bisherige Urteile und Vorteile zu überwinden.
Ob der Gesetzeslehrer sich darauf einlässt, bleibt offen und damit spannend. Lukas erzählt nicht, wie er darauf reagiert, als Jesus zu ihm sagt: So geh hin und tu desgleichen.

Das Gleichnis ist am Ende offen.
Für den Gesetzeslehrer.
Und für jeden, der es hört oder liest.
Als Reaktion auf die Frage:
Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Die Antwort könnte tatsächlich ganz einfach sein: mit offenen Augen und offenem Herzen durchs Leben gehen.
Niemand muss jemanden suchen, damit er ihm gegenüber barmherzig ist und sich so den Himmel verdient.
Da sein, wo du bist.
Da gehen, wo du gehst.
Die Menschen sehen, die da sind und spüren, wo gerade du gebraucht wirst, mit dem, was du kannst.

Einer konnte halt gut in ein Gleisbett springen und hatte dabei auch den Mut, etwas Verbotenes zu tun.
Weil er etwas gesehen und etwas gespürt hat.
Er hat den kleinen Zettel gesehen, ohne zu wissen, was er mir bedeutet. Er hat gespürt, dass er mir wichtig war und ich nicht in der Lage, ihn mir selbst zu holen.
Er hat getan, was er konnte.
Für einen Fremden, den er nie wieder sehen wird, vermutlich.
Kleines und banales Beispiel für das Große, das Jesus erzählt.
Es muss auch gar nicht um Leben oder Tod gehen.
Sondern darum, dass jemand leidet und eine andere sieht es, fühlt mit und tut dagegen, was sie kann.

Es ist Jesus, der das Gleichnis erzählt. Und dann ist er in der Geschichte selbst auch drin.
Er hat die Menschen gesehen, mit all dem, was sie beschäftigt und worunter sie leiden.
Besonders die, die gerne übersehen wurden, weil sie unwichtig und unwürdig waren, weil man sie übersehen wollte. Er hat sich mit seiner Liebe zu ihnen selbst in Gefahr gebracht.
Ich stelle mir vor, wie dankbar der Überfallene war, weil ihm jemand geholfen hat. Egal, wo der herkam. Bemerkenswert, dass es ein ungeliebter Ausländer war.
So kommt zum Dank die Überraschung.
Nächstenliebe ist grenzenlos.
Weil Jesus grenzenlos liebt.
Darum gibt es das unter uns, offene Augen und offene Herzen füreinander.
Dass Menschen sehen, was andere brauchen, was ihnen fehlt und was sie geben können – an Zeit, an Kraft, an Gebet, an praktischer Hilfe.
Weil sie erlebt haben, dass Jesus sie liebt – ohne zu fragen, ob sie es verdient haben und woher sie kommen.
Manchmal muss ich das wieder neu lernen, weil ich mich so eingerichtet habe in dem, was mir bekannt und vertraut ist. Manchmal braucht es jemanden aus einer Horde junger ausländischer Männer, damit ich Vorurteile über Bord werfen und grenzenlos Liebe annehmen kann.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Andreas Schwarz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine auch durch Corona kleiner gewordene Gottesdienstgemeinde; Menschen, die seit vielen Jahren sehr treu da sind und die zentralen biblischen Texte wie eben diesen kennen. Darum habe ich den Schwerpunkt nicht auf die naheliegende und oft gesagte Nächstenliebe gesetzt. Sondern auf das Stichwort ‚Samariter‘, verbunden mit ‚fremd‘, ‚Ausländer‘, ‚Vorurteile‘. In einer Stadt mit deutlich über 40% Migration und einer Gemeinde über 50% Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist das durchaus ein Thema.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Diese kleine Begegnung, an sich nicht wirklich bedeutend, hat mich aber persönlich so tief berührt, dass sie Spuren hinterlassen hat.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, egal, was Statistik und Mehrheitsempfinden ausdrücken. Jesus Christus öffnet Augen und Ohren für Fremdes, macht sensibel für Menschen, die leicht verurteilt oder übersehen werden.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir sehr geholfen, die Struktur meiner Predigt besser zu sehen und zu korrigieren. Sie hat mit einfachen Fragen Brüche in meinen Konstruktionen erkennbar gemacht. Unangebrachte Verbindungswörter konnten so gestrichen werden, weil Anschlüsse sachlich einfach falsch waren.

Perikope
11.09.2022
10,25-37