Gerecht ist anders, oder?
Erzähl uns mehr, Jesus! Wie wird es sein, wenn wir dir nachfolgen? Wie wird es sein, wenn wir mit dir aufbrechen? Erzähl uns - nur eine Geschichte. Wir lieben deine Geschichten. Eine Geschichte vom Himmelreich - und dann werden wir verstehen, wie der Himmel sein wird. Nur eine Geschichte noch, damit wir begreifen, worauf wir achten müssen; damit wir ahnen, wo wir hingehören. Erzähl uns, Jesus – wir hören dir zu.
„Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der sich früh am Morgen aufmachte, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. 2 Er fand etliche und einigte sich mit ihnen auf den üblichen Tageslohn von einem Denar. Dann schickte er sie in seinen Weinberg. 3 Gegen neun Uhr ging er wieder auf den Marktplatz und sah dort noch andere untätig herumstehen. 4 ›Geht auch ihr in meinem Weinberg arbeiten!‹, sagte er zu ihnen. ›Ich werde euch dafür geben, was recht ist.‹ 5 Da gingen sie an die Arbeit. Um die Mittagszeit und dann noch einmal gegen drei Uhr ging der Mann wieder hin und stellte Arbeiter ein. 6 Als er gegen fünf Uhr ein letztes Mal zum Marktplatz ging, fand er immer noch einige, die dort herumstanden. ›Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?‹, fragte er sie. 7 ›Es hat uns eben niemand eingestellt‹, antworteten sie. Da sagte er zu ihnen: ›Geht auch ihr noch in meinem Weinberg arbeiten!‹
8 Am Abend sagte der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: ›Ruf die Arbeiter zusammen und zahl ihnen den Lohn aus! Fang bei den Letzten an und hör bei den Ersten auf.‹ 9 Die Männer, die erst gegen fünf Uhr angefangen hatten, traten vor und erhielten jeder einen Denar. 10 Als nun die Ersten an der Reihe waren, dachten sie, sie würden mehr bekommen; aber auch sie erhielten jeder einen Denar. 11 Da begehrten sie gegen den Gutsbesitzer auf. 12 ›Diese hier‹, sagten sie, ›die zuletzt gekommen sind, haben nur eine Stunde gearbeitet, und du gibst ihnen genauso viel wie uns. Dabei haben wir doch den ganzen Tag über schwer gearbeitet und die Hitze ertragen!‹ 13 Da sagte der Gutsbesitzer zu einem von ihnen: ›Mein Freund, ich tue dir kein Unrecht. Hattest du dich mit mir nicht auf einen Denar geeinigt? 14 Nimm dein Geld und geh! Ich will nun einmal dem Letzten hier genauso viel geben wie dir. 15 Darf ich denn mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich so gütig bin? ‹
16 So wird es kommen, dass die Letzten die Ersten sind und die Ersten die Letzten.“
(Neue Genfer Übersetzung)
Nein, Jesus! Das ist keine Himmelsgeschichte. Das passt nicht zu Gott. Gott ist gerecht, Gott ist gut. Und im Himmel geht es gerecht zu. Im Himmel, bei Gott, gibt es wirkliche Gerechtigkeit. Im Himmel muss sich niemand mehr beschweren. Im Himmel fühlt sich niemand übervorteilt. Im Himmel wird niemand betrogen und ungerecht behandelt. So ist der Himmel nicht. Nein, Jesus! Erzähl uns, wie es wirklich im Himmel ist.
Und mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der sich früh am Morgen aufmachte, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen...
Jesus! So etwas gibt es nicht, auch nicht in einer Himmelsgeschichte. Welcher Gutsbesitzer geht denn früh morgens los und stellt selbst die Arbeiter ein. Kein Gutsbesitzer geht mit dem Sonnenaufgang los und sucht sich seine Arbeiter eigenhändig zusammen. Nein Jesus – wenn das der Himmel ist, dann ist das sehr ungewöhnlich. Ein Gutsbesitzer hat seine Leute, seinen Personalchef, der diesen ganzen leidigen Papierkram mit den Bewerbungen, Referenzen, Arbeitszeugnissen und Gehaltsverhandlungen erledigt. Wenn Gott wie dieser Gutsbesitzer ist, dann hieße das doch, dass Gott sich nicht auf irgendwelche Personalchefs oder Diener verlässt, sondern sein Personal direkt rekrutiert. Davon merken wir nur in glücklichen Momenten etwas.
Schon eher nach Himmel klingt freilich, dass der Denar ein ziemlich üppiger Tageslohn ist. Mit einem Denar hat man mehr als doppelt so viel, wie eine Kleinfamilie zum Leben für einen Tag braucht. Geizig ist Gott also nicht – er will mehr als den Mindestlohn zahlen. Aber mal ehrlich Jesus - das ist ohnehin klar: Gott ist kein Ausbeuter, Menschenschinder, kein Lohndrücker. Das reicht so noch nicht für eine Himmelsgeschichte, Jesus. Für eine wirkliche Himmelsgeschichte ist mehr nötig als nur die Aussicht auf mehr als den Mindestlohn.
Und mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der gegen neun Uhr und zur Mittagszeit und um drei Uhr und sogar um fünf Uhr noch einmal losgeht, um neue Arbeiter einzustellen.
Jesus! Der Gutsbesitzer hat keinen Plan. Soll das eine Himmelsgeschichte sein? Gott hat keinen Plan? Das kannst Du nicht gemeint haben, Jesus. Gott soll so fern von den Realitäten sein? Am Morgen weiß man doch, wie viele Leute man braucht. Außerdem gibt es keinen erkennbaren Grund in deiner Himmelsgeschichte, warum der Gutsbesitzer nach drei, sechs, neun und elf Stunden noch einmal neue Arbeiter anheuert. Du hast nichts davon berichtet, dass der Gutsbesitzer den Fortschritt der Arbeit auf dem Weinberg zwischenzeitlich begutachtet hätte. An neuen Aufgaben im Weinberg kann es demnach nicht gelegen haben. Dass die Arbeit im Weinberg unendlich zu sein scheint, wusste der Gutsbesitzer schon vorher.
Das kann nicht das Himmlische an deiner Himmelsgeschichte sein – dass Gott losgeht und immer wieder losgeht und noch einmal losgeht. Oder doch?
Immerhin findet er jedes Mal neue Arbeiter. Männer, die untätig auf dem Parkplatz oder neben der Tankstelle herum stehen, kennen wir auch. Aber die suchen nicht unbedingt nach Arbeit. Wer am Morgen in der Jobvermittlung nichts abbekommen hat, geht wieder nach Hause oder in die Kneipe, aber wartet nicht weiter. Ist das das Himmlische an deiner Geschichte, Jesus? Braucht der Himmel die nicht versiegende Sehnsucht, ausgewählt zu werden? Ist das der Himmel, wenn man in der Hoffnung ausgewählt zu werden, nicht enttäuscht wird? Öffnet das den Himmel, wenn man nicht aufgibt und weiter darauf hofft, beim nächsten, übernächsten oder überübernächstem Mal doch noch dazu zu gehören? Die Männer und Frauen, die kurz vor Sonnenuntergang angestellt werden, stehen zwar den langen Tag untätig herum, bevor Gott sie anspricht. Aber sie geben nicht auf, weil sie die Hoffnung haben, dass da noch was kommt. Sie warten, weil das Leben so nicht alles gewesen sein kann. So gesehen, Jesus, passt das zu Gott und die Geschichte klingt tatsächlich ein wenig nach Himmel.
Aber was du dann erzählst, Jesus, das passt einfach nicht zu Gott. Wieso soll das der Himmel sein?
Die Letzten mögen sich wie im Himmel gefühlt haben. Sie haben mit einer Stunde Arbeit mehr als genug zum Leben verdient. Diese Glückspilze! Die Stunden der Sehnsucht, die verzweifelte Angst einen vergeblichen Tag hinter sich bringen zu müssen, der verzweifelte Versuch, wenigstens etwas Vorzeigbares zu erreichen – alles wurde der Arbeit im Weinberg gleichgestellt und genauso bezahlt. Als ob ihre Schmerzen über ihr untätiges Warten honoriert wurden. Die Wiederherstellung der Würde durch einen Denar. Das ist der Himmel, das ist Gott.
Aber die ersten? So kann Gott doch nicht mit ihnen umgehen? Ist das die himmlische Gerechtigkeit? Wir hätten uns auch beschwert, Jesus. Das ist einfach ungerecht, das ist unfair. Auch wenn der Gutsbesitzer sich mit allem Grund auf die Abmachung vom frühen Morgen berufen kann. Auch wenn der Tarif abgemacht war und der Gutsbesitzer sich korrekt und vertragstreu verhalten hat - das ist doch nicht in Ordnung! So ist Gott nicht! Das ist nicht Gott!
Ist das die Lehre aus deiner Himmelsgeschichte: im Himmel geht es zwar korrekt, aber letztlich ungerecht zu? Willst du uns mit dieser Himmelsgeschichte den Glauben an Gott vermiesen, Jesus?
Paulus hilf du uns doch, du hast Jesus doch immer so gut verstanden? Paulus, schaffst du es, die Meckernden und Murrenden zu besänftigen? Kannst Du uns Jesus erklären?
Du, Paulus meinst, dass es Jesus in dieser Geschichte gar nicht um die Gerechtigkeit geht, sondern darum, dass Gott uns selbst will. Dich und mich, so wie wir hier sitzen. Du meinst: Jesus erzählt uns mit seiner Himmelsgeschichte, dass wir Gott nicht mit unserer Hände Arbeit und mit unseren frommen Gedanken und Gebeten beeindruck können. Du meinst, dass Gott anders rechnet. Du meinst, dass bis kurz vor Schluss die Tore zum Himmel offen bleiben und am Ende werden alle gleichberechtigt sein. Es geht also nicht um Gerechtigkeit, sondern um Gleichberechtigung. Die, die schon immer zu Gott gehalten haben, sitzen im Himmel nicht auf bequemeren Plätzen, trinken keinen köstlicheren Wein, hören keine bessere Musik, haben keine schöneren Stimmen zum Lobgesang, tragen keine strahlenderen Kleider? Im Himmel ist diese elende Hierarchie aufgehoben, die uns schon von Kindesbeinen an in den Wettkampf um die besten Startplätze zum guten Leben schickt. Im Himmel zählt nur noch, da zu sein und bei Gott zu sein. Noch in letzter Minute geht Gott los und engagiert, wer auch immer voller Sehnsucht ist. Es geht nicht um die Arbeit, um die Last der Mittagshitze und die Schufterei unter glühender Sonne. Tatsächlich ist es doch auf andere Art unerträglich schwer und mühsam, untätig herumzustehen und zu warten, sich vor Sorge zu zermartern, zu grübeln, wo das tägliche Brot für morgen herkommen soll, zu berechnen, wie lange die Vorräte reichen und ob jemand im Notfall das Geld für die Apotheke leihen kann, wenn das Kind krank wird. Die Mühen und Plagen des Tages unterscheiden sich von außen, von innen ist die Sehnsucht nach der Schönheit des Himmels das Entscheidende. Und die wird sich erfüllen, genau dann, wenn der Gutsbesitzer-Gott vorbei kommt und sagt: „Los, steh nicht weiter untätig rum, da ist der Weinberg, mache dich auf. Du wirst satt werden, du wirst mehr als genug bekommen, du wirst das Leben finden. Du wirst bei mir sein und alles andere wird unwichtig. Nichts kann dich mehr von meiner Liebe trennen.“ Egal zu welcher Stunde Gott das sagt, es passt zu Gott. Das klingt doch nach Gott!
Wir lieben deine Geschichten, Jesus. Aber am nächsten Sonntag erzähle uns eine Geschichte vom Himmelreich, die wir schneller verstehen werden, bei der wir nicht erst murren und meckern, bevor wir verstehen, wie der Himmel sein wird. Erzähle weiter, damit wir begreifen, worauf wir achten müssen; damit wir ahnen, wo wir hingehören.
Amen.
Gerecht ist anders, oder? - Predigt zu Matthäus 20,1-16 von Katharina Wiefel-Jenner
20,1-16
Perikope