- Hilfe-Netz
Vor einem Jahr gab es ihn plötzlich in fast jeder deutschen Stadt: den Gabenzaun.
Ein Zaun, der nicht trennt, sondern verbindet. Er verbindet Menschen, die Hilfe brauchen, mit Menschen, die helfen können. Wollen welche etwas spenden – Socken, Hundefutter, Pullis oder Zahnpasta etwa –, dann verpacken sie die Dinge in durchsichtige Plastiktüten und beschriften diese. "Pulli, Größe 52" beispielsweise. Die Tüten befestigen sie am Gabenzaun. Und die anderen, die, die Hilfe brauchen, holen sich dann so eine Tüte. Die arbeitslose Mutter von vier Kindern. Der alte Mann, dessen Rente vorne und hinten nicht reicht. Die junge Straßenmusikerin, die nicht weiß, wie sie ihren Hund versorgen soll. Und oft bleiben Passanten stehen und finden das Projekt so toll, dass sie selbst zu Spendern werden. Interessanterweise spenden gerade die Menschen, die selbst nicht so viel haben und sich am Zaun ab und zu etwas nehmen, dann auch selber wieder.
2. Löcher im Netz
Von heute auf morgen ist alles dicht gewesen. Im ersten Lockdown. Und da fiel es auf: unser soziales Netz ist viel zu löchrig. Menschen fallen durch die Maschen. Wer kauft ein für die, die nicht mehr vor die Tür dürfen? Wer gibt der Straßenmusikerin jetzt noch Geld, wenn die Läden zu sind? Zu viel Abstand. Zu wenig Nähe. Also knüpfte man neue Netze und band die Tüten daran an.
3. Matthäus 26, 17 - 20
Aber am ersten Tag der Ungesäuerten Brote traten die Jünger zu Jesus und sprachen: Wo willst du, dass wir dir das Passalamm zum Essen bereiten? Er sprach: Geht hin in die Stadt zu einem und sprecht zu ihm: Der Meister lässt dir sagen: Meine Zeit ist nahe; ich will bei dir das Passamahl halten mit meinen Jüngern. Und die Jünger taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und bereiteten das Passalamm. Und am Abend setzte er sich zu Tisch mit den Zwölfen.
4. Ein Netz aus Erinnerungen
Jesus hat ein Netz geknüpft. Mit großen und kleinen Maschen. Er und seine Freunde und Freundinnen sind eng miteinander verbunden. Gehen durch dick und dünn. Tag und Nacht zusammen. Gemeinsam ziehen sie durch die Dörfer und Felder Palästinas.
Das Netz hält auch, als sie in Jerusalem ankommen. Man kennt jemanden, der jemanden kennt, und der stellt einen Raum zur Verfügung - fürs Passamahl. Das Mahl der Erinnerung. Vergangenheit wird mit der Gegenwart verknüpft. Lieder und heilige Worte vermischen sich mit dem Duft von Lammbraten und Wein. Ein Netz aus Mazzen und Fruchtmus und Stimmengewirr. Wenn es nach Thymian und Salbei riecht, kommen die Erinnerungsbilder: wie die Israeliten damals in Ägypten plötzlich ihre Sachen packen müssen. Die Botschaft springt von Haus zu Haus: Los. Es geht los. Schnell. Nur das Nötigste! Der Pharao lässt uns frei. Aufbrechen, gefährliches Wasser. Schaffen wir es hinüber? Die Ägyptischen Soldaten im Nacken. Mirjam schlägt die Pauke und macht Mut. Moses zeigt den Weg. Und endlich auf der anderen Seite. Puh, geschafft! Doch nun müssen wir weiter wandern. Immer weiter. Und aushalten. Kalte Nächte in der Wüste, heiße Sonne, unbekannte Wege, hoffnungsvolle Zukunft. Endlich frei. Endlich leben. Und irgendwann ankommen. Hier ankommen.
5. Matthäus 26, 20 - 25
Am Abend setzte Jesus sich zu Tisch mit den Zwölfen. Und als sie aßen, sprach er:
Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Und sie wurden sehr betrübt und fingen an, jeder einzeln zu ihm zu sagen: Herr, bin ich’s? Er antwortete und sprach: Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten. Der Menschensohn geht zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht; doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach: Bin ich’s, Rabbi? Er sprach zu ihm: Du sagst es.
6. Das Netz reißt
Jesus hat ein Netz geknüpft. Zusammen mit den Fischern vom See. Sie sind geübt darin, Netze zu knüpfen. Dafür arbeiten sie Hand in Hand, verlassen sich aufeinander, wissen, wo die Knoten sitzen und dass die Fäden stabil genug sind.
Jesus hat weitergeknüpft. Und nun reißt es. Haben sie Fäden übersehen, manche nicht fest genug geknotet? Jedenfalls: das Netz hält nicht mehr. Der Enttäuschte fällt durch die Maschen. Judas. Er ist so enttäuscht, dass er alles auf eine Karte setzt. Will wissen, ob er sich wirklich so getäuscht hat in ihm, seinem Meister. Fordert ihn heraus. Wehr dich, Jesus. Mach endlich ernst mit der neuen Welt. Aber Jesus geht einen anderen Weg. Hätte er nicht besser auf ihn aufpassen können?
Mir fallen die Menschen ein, die ich enttäusche. Sie warten auf meinen Anruf oder auf eine Antwort, die ich ihnen schuldig bleibe. Ich will ihre Enttäuschung nicht wahrhaben, weil sie mich überfordert. Drücke mich davor, ihnen zu sagen: sorry, ich kann das nicht. Ob das bei Jesus auch so war? Jedenfalls scheint er zu wissen: ich kann nicht mehr alle halten.
7. Matthäus 26, 26 - 29
Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.
8. Neu verknüpft
Das gerissene Netz wird neu geknüpft. Nicht nur geflickt, hier und da, sondern neu. Mit Brot und Kelch. Mit Mazzen und Lamm und Wein. Es verknüpft den Verräter mit dem Versöhner. Den Enttäuschten mit der Hoffnung. Die Toten mit den Lebenden. Gemeinsam sitzen sie am Tisch. Weit auseinander und doch ganz nah.
Und eigentlich weiß niemand, wie es weitergehen wird. Wie bei den Israeliten ist jetzt Wüstenzeit. Zwischen Gestern und Morgen. Der Moment zählt. Genau dieser, wenn Jesus sein Brot bricht und den Kelch reicht. Dieser Moment, wenn Brot und Thymian und Wein sich vermischen. Wenn sie ein Netz weben, das Menschen zusammenbringt, die nicht wissen, wohin sie gehören. Und sie verknoten ihre Liebe und ihre Hoffnung, ihre Erinnerung und ihre Zukunft an das Brot wie die Tüten am Gabenzaun.
10. Matthäus 26, 30
Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.
11. Weiterknüpfen am Netz
Das Netz ist neu geknüpft. Darum können sie aufbrechen. Aufbrechen in das bedrohliche Jerusalem. Den Tod im Nacken. Dunkel ist es. Unbekannte Wege vor sich. Wird das neue Netz halten? Das Netz aus Brot und Liebe und Erinnerung?
Jesus bleibt mit Judas verknüpft. Und mit den anderen auch. Mit denen, die vor Erschöpfung einschlafen. Mit Petrus, der feige ist und am Ende in Tränen ausbricht. Und mit Maria, die todtraurig ist.
Mit ihnen hat Jesus sein Netz neu geknüpft. Und mit dir. Und mit der arbeitslosen Mutter von vier Kindern und dem alten Mann und der Straßenmusikerin. Mit Brot und Wein, am Tisch und am Gabenzaun. Jesus bringt uns zusammen. Egal, wo wir sind. Egal, wie wir sind. Und egal, ob wir an einem Tisch sitzen oder an vielen. Jesus verknüpft uns mit seinem Volk, das durch die Wüste zog, knüpft neue Fäden mit Judas und Petrus und Maria. Verknüpft uns mit denen, die hoffen, und denen, die zweifeln. Und wir - wir knoten unsere Hoffnungen an sein Netz. Mit Socken, Hundefutter, und Pulli, Größe 52.
Das neue Netz hält uns aus.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Viele Gemeinden werden dieses Jahr wegen der Pandemie keine analogen Abendmahls-feiern anbieten können. Diese Frage beschäftigt mich (und ich vermute auch die Ge-meinden) in Bezug auf die sehr analoge Situation des letzten Mahles Jesu. Wie kann die-se Spannung aufgenommen werden? Und welche Lösung bietet sich an? Ein einfaches „genauso wie damals müssen wir es heute tun“ ist es jedenfalls nicht. Deshalb kam mir der Gedanke der Vernetzung und Verknüpfung der Feiernden und Erinnernden….
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gabenzaun gegenüber von der Pforzheimer Stadtkirche vom vergangenen Jahr. Er ist auch Bestandteil einer Plakatserie zu Ostern, wo ein Foto vom Gabenzaun mit der Abendmahlsszene von DaVinci kontrastiert wird.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Herausforderung, dass dieses Jahr (wieder) für viele kein Abendmahl im „klassi-schen“ Sinn möglich sein wird, sondern eine Verbindung und Vernetzung auf andere Weise geschieht. Vielleicht ist das ja nicht nur eine Notlösung, sondern bringt auch et-was vom zentralen Gedanken des letzten Mahles zum Ausdruck? Jedenfalls hat gerade das Bild vom Netz mir geholfen, die verschiedenen Aspekte, die sich vielleicht sogar widersprechen könnten, zusammenzusinken.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Predigtcoach Peter Meyer hat mir sehr hilfreiche und weiterführende Fragen ge-stellt. Z.B. danach, bei welchem Abschnitt mein Herz schlägt oder auch wo ich be-stimmte Gedanken noch stärker konkretisieren bzw. ausmalen könnte. Er hat mich ermutigt, sprachlich noch mehr Variationen einzubauen, den positiven Aspekt vom Netz mehr nach vorne zu holen, einen Abschnitt zu verschieben und den Schluss zu überarbeiten. Dank seiner Anregungen und Beobachtungen hat die Predigt klar an Stringenz und Farbe gewonnen.