Geschenkt? Der zerbrochene Krug oder Freispruch im Scherbengericht - Predigt zu Römer 9,13-24 von Markus Kreis
9,13-24

Geschenkt? Der zerbrochene Krug oder Freispruch im Scherbengericht

Liebe Gemeinde,

Walt Disney hat eines besser gesehen und ausgedrückt als Jesaja, Jeremia und Paulus zusammen:

Wenn Gott wie ein Töpfer ist, dann sind die Menschen als seine Geschöpfe nicht nur bloße Gefäße, Produkte, Objekte. Dann sind sie wie tanzende Tassen, singende und steppende Saucieren, wie marschierende Marmorterrinen oder kommunizierende Kerzenhalter, wie Krüge, die aus und mit sich Kolossalbauten konstruieren. Ein Porzellanservice aus lauter wertvollen Einzelstücken, das eine Art Revue aufführt. Wie zu sehen im Disney Zeichentrickfilm „Die Schöne und das Biest.“

Ein anderes sieht die Bibel jedoch besser als Walt Disney: Jedes noch so lebendige, tatkräftige Gefäß bekommt irgendwann einen Sprung, mehr noch, entkommt nicht einem Bruch, ja, endet in einem Scherbengericht.

Der Mensch - ein zerbrochener Krug - das hat auch Heinrich von Kleist erkannt und in seiner gleichnamigen Dramödie dargestellt. Nicht zufällig spielt eine Hauptrolle darin ein Richter namens Adam. Der überzeugte übrigens schon bei Paulus mit einem gewichtigen Part. Doch zurück zu Kleists Bühnenstück:

Ein zerbrochener Krug ist Anlass zu einem Gerichtsverfahren, in dem Richter Adam Recht sprechen soll. Und zwar zu einem Vergehen, das er selbst begangen hat.

Er hat eine junge Frau in ihrem Gemach sexuell bedrängt, er hat sie erpresst. Gedroht, ihren Verlobten zum Soldatendienst in den Kolonien zwingen zu können. Und hat damit ihren Widerstand zum Schweigen gebracht. Weil der Verlobte unversehens Einlass begehrte und die abgeschlossene Kammertür aufbrach – die entgegen sonstiger Gepflogenheit verschlossen – musste Richter Adam die Flucht ergreifen. Das gelang ihm unerkannt, jedoch nicht unverletzt. Der Verlobte zieht ihm einen im Zimmer stehenden Tonkrug von hinten über den Schädel.

Der Richter setzt im Prozessverlauf alle möglichen Tricks ein. Er will verhindern, dass sein Unrecht offenbar wird. Umso mehr, als ein Gerichtsrat den Prozess beaufsichtigt. Am Ende jedoch wird Adam entlarvt.

Richter Adam, das sind wir. Diese Rolle ist einem jeden von uns auf den Leib geschrieben. Wir müssen urteilen, aber wir können nicht urteilen. Der Mensch, das ist der durch sein eigenes Urteil schlecht beratene Richter. Uns mangelt es in gewisser Weise am Urteilsvermögen. Und zwar egal, ob wir über uns selbst zu Gericht sitzen oder über andere.

Vielleicht wenden sie ein, und das mit Recht: kein Wunder, dass Adams Urteilsvermögen stiften gegangen ist. Schließlich hatte der Kerl doch ordentlich Dreck am Stecken und Richtstab. Mit einem guten Gewissen kann einem so etwas nicht passieren: dieser unglaubliche Verlust von Urteilsfähigkeit.

Und hier bekommen sie von der Bibel nicht unbedingt Recht. Esau z.B.: er war guter Dinge, hatte auch ein gutes Gewissen und schließlich nur ein Linsengericht. Jakob hingegen gewann das Erbe, wenn auch mit nicht ganz reinem Gewissen.

Vielleicht sind wir uns keiner Schuld bewusst. Oder wie ein Pharao nur sehr Macht bewusst - das heißt jedoch noch längst nicht, dass wir nichts auf uns geladen haben. Blinder Fleck, schuldlose Schuld, Stoff unzähliger Dramen. Von den Griechen über Shakespeare bis zu den Prozessen um Kachelmann und Christian Wulff.  

Auch wenn unsere Lebenserfahrung uns das Gegenteil zu lehren scheint: Uns mangelt es am Urteilsvermögen. Egal ob wir meinen, dass wir uns im Leben etwas zu Schulden haben kommen lassen. Egal, ob wir glauben, dass wir unschuldig sind. Zwar hat Gott uns ein reines Urteilsvermögen als Schöpfungsgabe mitgegeben. Aber irgendetwas damit läuft schief.

Daran können wir nichts ändern. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen. Wir müssen urteilen, ob im Stande eigener Unschuld oder Schuld, ob über uns selbst oder über andere. Und wir wissen: wir können nicht urteilen. Denn uns mangelt es in gewisser Weise am Urteilsvermögen. Dass wir das erkennen - das ertragen wir nicht. Und deshalb tun wir so als ob. Deshalb urteilen wir so, also ob wir es könnten. Dazu schieben wir unser Wissen um unser Unvermögen ab. Hinweg. Fort. Fertig. Aus.

Eine nette kleine Erpressung oder auch nur Drohung, Gefälligkeiten unter Geschäftsfreunden, frisierte Empfehlungen, gefälschte Berichte, da wird schon nichts schief gehen. Uns mangelt es an Voraussicht - oder schlicht an Phantasie.

Wir übersehen wie Richter Adam, dass ein Dritter, der plötzlich hinzukommt, uns einen Strich durch die Rechnung machen kann. Dass wir von einem vierten genau beobachtet und beurteilt werden. Dass fünftens unsere Opfer wider Erwarten wagen, sich zu wehren. Und zum guten Schluss vergessen wir: An die eigene Urteilsunfähigkeit erinnert man sich genau dann, wenn man es vor lauter Rechtfertigungsstress gerade überhaupt nicht brauchen kann. So stehen wir da wie Richter Adam: blamiert, entlarvt, barhäuptig.

Im Internet kursiert ein in dieser Hinsicht illustratives Video: Zwei Hochseeangler haben einen Schwertfisch an Haken und Leine geködert. Sie zwingen ihn damit in Richtung ihres Luxusfischerboots. Plötzlich springt die geköderte Beute an Bord, mitten in den Angelstand hinein. Der Fisch wehrt sich und sticht mit seinem Schwertstachel nach den zwei Herren - und die springen flugs über die Reling ins Meer. Jonas Riesenfisch, nur umgekehrt - statt Mann über Bord zu Wasser und in Fisch, Fisch an Bord und Mann ins Wasser. S.O.S.!  

Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Fast alle Berufe haben mit Beratung zu tun, also mit Wissen, urteilen, Beurteilung, weniger die von Produkten, mehr die von Personen. Der Rat suchende Klient sollte vom Experten in seiner Persönlichkeit beurteilt werden. Und ebenso das, was der Klient sich aneignen will. Und nicht zuletzt sollte auch der Experte mit sich zu Rate gehen.

Jeder hier kann von Experten erzählen, die falsch gelegen oder daneben gegriffen haben. Mancher wohl auch von sich selbst: bei Versicherungs- oder Erziehungsfragen, bei Bauplanungen oder Berufswahl, bei Autokauf oder Aktieninvestition, bei Partnerwahl oder als Personaler bei einer Einstellung.

Zugeben will das keiner, da tut sich jeder schwer: der enttäuschte Klient, weil er nicht als leichtgläubiger Depp dastehen will. Und der gescheiterte Experte, weil er nicht als inkompetent oder Glücksritter gelten will.  

So gesehen gilt: Manches gelungene Urteil ist eine Gnade für den Richter Adam. Sogar dann, wenn der Richter sein Urteil nicht liebt. So wie im Kachelmannprozess der Mannheimer Richter! Aber immer noch gilt: im Zweifel für den Angeklagten, erst recht, wenn an der Wahrheit der Anklage zu zweifeln ist.

Viele gelungene Beratungen sind eine Gnade für den Experten, auch wenn der gegebene Rat Unannehmlichkeiten bereitet und eventuell weniger Geld einbringt.

Manches gelungene Urteil ist eine Gnade für den Richter. Auch wenn es für den Angeklagten dabei nicht ohne Strafe abgeht. Kriminelle müssen verurteilt werden. Ohne das geht es nicht, auch wenn es leider nicht so oft gut geht mit Abschreckung oder Resozialisierung.

Manches gelungene Urteil ist eine Gnade für den Richter Adam. Das gilt gerade auch dann, wenn ein Mensch über sich selbst urteilt, ohne Beurteiler von Beruf zu sein, also ohne Jurist, Lehrer oder Psychologe zu sein. Eingesehene Schuld bringt tätige Reue. Und tätige Reue bringt neues Leben, neue Energie!

Wie viele gelungene Urteile, die wir über uns selbst sprechen, beruhen auf Gnade? Und um nicht nur nach der Anzahl zu fragen, sondern nach den Inhalten, den Urteilsaussagen: Welche gelungenen Urteile, die wir über uns sprechen, beruhen auf Gnade? Sind sie erfreulich? Sind sie niederschmetternd?  

Unsere Urteile über Mitmenschen sind genauso wichtig wie die über uns selbst. Hier kann man ebenfalls nach Anzahl und Aussageinhalt fragen. Wie viele gelungene Urteile, die wir über Mitmenschen fällen, beruhen auf Gnade? Welche gelungenen Urteile, die wir über Mitmenschen fällen, beruhen auf Gnade?

Und nur der Vollständigkeit halber: Wie unsere Mitmenschen über sich selbst und über uns urteilen, das bestimmt gleichfalls gehörig unser Leben. Wie viele gelungene Urteile, die Mitmenschen über uns fällen, beruhen auf Gnade? Welche gelungenen die Urteile, die Mitmenschen über uns sprechen, beruhen auf Gnade? 

Wie viele gelungene Urteile unserer Mitmenschen, die sie selbst betreffen, beruhen auf Gnade? Welche gelungenen Urteile unserer Mitmenschen, die sie selbst betreffen, verdanken sich einer Gnade?

Wer sein Urteile mit und unter Gottes Augen ansieht, der kann nur erschauern. Ein Meer an Ungewissheit wogt vor ihm, mal dümpelnd, mal brandend. Wie gut, dass Gottes Urteil unser Urteilsvermögen vorherbestimmt. 

Gott hat mit Tod und Auferstehung Jesu sein Bestes in unser Urteilsvermögen investiert. Hier wird unser Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen durchkreuzt. Hier ist neues Vertrauen zu Gottes Urteil zu gewinnen. Und das heißt: neues Vertrauen in Gottes gnadenvolle Vorherbestimmung unserer Urteilskraft.

Welcher Startup - Firmenchef, der Risikokapital braucht, beschwert sich bei einem Geldgeber: Warum habe ich nichts bekommen? Oder: Warum habe ich nur so viel bekommen? Würde er das tun, müsste er etwas befürchten: nämlich sich selbst zu enthaupten, sich eigenhändig jeder Chance für eine neue Kapitalspritze zu berauben. Des Risikokapitals bedürftige Chefs wissen: bei aller guten eigenen Vorarbeit und Vorleistung – ich bin gänzlich abhängig vom Urteil des Geldgebers.

Mit unserem gebrochenen Urteilsvermögen sind wir für Gott selten eine sichere Bank und gute Konsorten. Und doch hat er in Jesus in uns investiert, stattet uns immer wieder mit Startkapital aus. Das heißt: er gibt uns Knowhow, Kontakte und Kohle, auch wenn wir unser Leben nur erforschen und erdenken. Er wartet nicht ab, ob bei der Entwicklung überhaupt etwas rechtes heraus springt. Er wartet auch nicht ab, um erst bei den Produkttests einzusteigen. Oder springt gar erst bei einem absehbaren Erfolg auf den bereits fahrenden Zug auf. Im Gegensatz zu den irdischen Risikokapitalgeschäften läuft das himmlische erfolgreich. Es verbreitet sich. Es verdrängt zusehends reine Kosten-Nutzen-Rechnungen.

Gott bringt sich immer wieder von Anfang an in unser Urteil ein. Vertrauen wir darauf. Recht besehen bleibt uns nichts anderes übrig. Denn Gottes Gerechtigkeit ist unergründlich. Jesus spricht unsere Urteile frei im Scherbengericht. So wie Gott den Auferstandenen trotz des Jerusalemer Scherbengerichts im Kreuz frei gesprochen hat. Amen.

Perikope
16.02.2014
9,13-24