"Gesunde und Kranke" - Predigt über Jakobus 5, 13-16 von Klaus Pantle
5,13
Gesunde und Kranke
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. 14 Ist jemand unter euch krank, der rufe die Ältesten der Gemeinde zu sich. Sie sollen über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn. 15 Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn (vom Krankenlager) aufrichten; und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden. 16 Deshalb bekennt einander die Sünden und betet füreinander, dass ihr geheilt werdet. Viel vermag das beharrliche Flehen eines Gerechten.
1. Kranke: Die Außenperspektive
„Weißt du, dass Rita Brustkrebs hat?“ fragt Selma. „Kein Wunder“, meint Mira, die neben ihr in der Sauna sitzt. „Sie frisst alles in sich hinein. Hat sie mit dir je über ihre Beziehung zu Kai geredet? Da stimmt etwas nicht. Er ist dauernd weg, sie sitzt zu Hause mit den Kindern und lässt sich von denen auf der Nase herum tanzen.“ „Du hast Recht“, sagt Selma. „Wenn sie mal klare Kante gezeigt oder sich wenigstens ausgesprochen hätte. Aber wenn du so wie sie alles in dich hineinfrisst, dann musst du ja Krebs bekommen.“
Nik sitzt im Flugzeug. Um Tabletten einzunehmen, bittet er die Stewardess um ein Glas Wasser. Als die seine Handvoll Tabletten sieht, fragt sie: „Um Himmels Willen, was haben Sie denn alles?“ Nik antwortet so neutral wie möglich: „Ich hatte einen Herzinfarkt.“ „Das kann man alles wieder in den Griff kriegen“, sagt die Stewardess. „Da gibt es so ein Buch, die China-Diät, darin ist das beschrieben. Wenn man sich nur mit rohen Sachen ernährt, wie heißt das?“ „Vegan“, sagt Nik. „Genau, wenn man sich vegan ernährt, dann geht das alles wieder weg: Diabetes, Herzkrankheiten, Rheuma. Das müssen sie mal ausprobieren.“ Die Stewardess lächelt, Nik lächelt zurück und denkt: „Wenn es so einfach wäre. Aber jetzt lass mich um Himmels Willen in Ruhe.“
„Quantified Self“ heißt eine Glaubenslehre, die im Moment aus den USA nach Europa herüber schwappt. Ihre Anhänger erfassen mit hochtechnologischen Instrumenten kontinuierlich die eigenen Herzfrequenzen, Schlafrhythmen, Menstruationszyklen, Blutwerte, Nahrungsaufnahme und Bewegungsprotokolle. Das Selbst wird vermessen in seinem Stoffwechsel und Verhalten, um für falsch befundenes Körperverhalten abzustellen. Dafür gibt es Datenchips, die man schlucken oder sich implantieren lassen kann und Apps für das Smartphone, die die Daten registrieren und über die man sie direkt ins Internet stellt. Dort tauscht man sich in Communities darüber aus und kontrolliert und überwacht sich gegenseitig in seinem Verhalten. So versuchen die Anhänger dieser Glaubenslehre ihre Gesundheit, ihre Fitness und Leistungsfähigkeit zu optimieren und sich mit Hilfe modernster Technik als individueller Mensch zu perfektionieren.
In unserer Gesellschaft scheint sich zunehmend der Glaube durchzusetzen, körperliche Perfektion sei das höchste Gut. Wer nicht gesund ist, lebt nicht richtig. Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann ist der, dessen Körper davon abweicht, daran selber schuld. Er versündigt sich an sich selbst und an der Gemeinschaft. Körperliches und seelisches Leid werden zur Charakterschwäche. Und Charakterschwachen muss der Rest der Gesellschaft keine Solidarität erweisen.
2. Krankheit und Sünde, Heilung und Glaube
Hört man den Text des Jakobus aus der Außenperspektive, als Gesunder mit Blick auf Kranke, dann sagt er: Wenn man krank ist, kann man etwas tun, damit man geheilt wird. Man kann die Ältesten der Gemeinde zu sich rufen, die für einen beten und einen salben, ja die ganze Gemeinde wird idealerweise für die Kranken beten. Und auch die Sündenvergebung kann mit zur Heilung verhelfen.
Es ist merkwürdig. Der Text führt uns in ein antikes Wirklichkeitsverständnis hinein, das wir nicht mehr teilen. Aber die daraus folgende antike Lebenshaltung scheint in unserer Gegenwart noch immer wirksam. Im Alten Testament gibt es kein eindeutiges Beispiel, dass eine Krankheit mit einem erkrankten Organ in Verbindung bringt, wie es die moderne Medizin tut. Die Lebensführung der alten Israeliten war eine sakral geschlossene: Krankheiten mussten etwas mit Schuld und Sünde zu tun haben. Sie wurden verstanden als Folge von individuellem oder kollektivem Vergehen. Eine Krankheit konnte nicht einfach eine Krankheit sein, sie musste von Gott kommen als Strafe, als Vergeltung, als Warnung, als Erziehungsmaßnahme für menschliches Fehlverhalten. Im Neuen Testament hatte man schon ein komplexeres Krankheitsverständnis. Man konnte Kranke auch als unter dem Einfluss von Dämonen stehend begreifen. Voraussetzung für eine Heilung war Glauben im Sinne von Bitten und Beten um Heilung, von Sündenvergebung und Umkehr oder von Dämonenaustreibung durch machtvolle Menschen wie Jesus.
Immerhin relativiert Jakobus den Zusammenhang von Krankheit und Sünde. Es kann eine Verbindung bestehen, aber es muss nicht sein. Jesus ignorierte Ursachenerklärungen und Schuldzuweisungen für Krankheiten und wandte sich den Kranken vorbehaltlos persönlich zu. Damit provozierte er die Frommen, denn Kranke galten als unrein, was sie kult- und gemeinschaftsunfähig machte. Jesus führte die Kranken aus dieser Isolation heraus und half ihnen, ihre sozialen Beziehungen neu zu gestalten.
Wir heute wissen oder könnten wissen: „Dinge passieren, weil sie passieren, der Kosmos handelt nicht mit Schuld.“ (Ludwig Hasler). Wir wissen oder könnten wissen, dass Krankheiten durch Bakterien, Viren, genetische Dispositionen und unerklärliche biologische Entwicklungen und Schicksale verursacht werden. „Eine Krankheit ist einfach eine Krankheit“ (Susan Sontag). Eine Krebserkrankung, eine HIV-Infektion, ein Herzinfarkt sind einfach Krankheiten – ernste Krankheiten, aber eben Krankheiten. Weder sind sie Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Sie sind Krankheiten ohne „Bedeutung“. Und sie sind sinnlos. Keine Krankheit hat einen Sinn. Keine Krankheit hat etwas Gutes. Man kann sie deshalb auch nicht im christlichen Sinn als Chance deuten, etwas Gutes im Leben zu begreifen. Menschliche Sünde ist nicht die unmittelbare Ursache von Krankheit. Und die Erfahrung von Vergebung und Glaube führt nicht unmittelbar zur Heilung. Dass jemand, der an einer ernsthaften oder gar lebensbedrohlichen Krankheit leidet, durch Gebet und Salbung geheilt wird, ist bei uns ausgesprochen selten zu erleben. Auch die oft wissenschaftlich verbrämte Behauptung, dass wer glaubt gesünder sei, oder gar dass regelmäßiges Gebet die Gefahr, an Alzheimer zu erkranken, um 50% senke, ist Unsinn. Schlimmer noch, in ihrer unverschämten Frömmigkeit sind solche Behauptungen unfromm, weil sie in der vorläufigen Gesundheit von Menschen zwingend Früchte des rechten Glaubens zu ernten meint. Damit unterscheidet sich diese Art Frömmigkeit in nichts von der Haltung der eingangs vorgestellten Laienpsychosomatikerinnen aus der Sauna, der Ganzheitlichkeitsträumerin aus dem Flugzeug und den (überwiegend männlichen) Jüngern der „Quantified Self“-Bewegung, die Gesundheit zu ihrem Gott erheben.
3. Kranke: Die Innenperspektive
„O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir … bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels ... gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussezen, o wie hart wurde ich dur[ch] die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehör’s dann zurückgestoßen, und doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub, … doppelt Wehe thut mir mein unglück, indem ich dabey verkannt werden muß, für mich darf Erholung in Menschlicher Gesellschaft, feinere unterredungen, Wechselseitige Ergießungen nicht statt haben, … wie ein Verbannter muß ich leben, nahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße Ängstlichkeit, indem ich befürchte in Gefahr gesezt zu werden, meine[n] Zustand merken zu laßen … solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben … – Gottheit du siehst herab auf mein inneres, du kennst es, du weist, dasß menschenliebe und neigung zum Wohlthun drin Hausen … - mit freuden eil ich dem Tode entgegen – … befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden Zustande“?
Anschaulich und bewegend schildert Ludwig van Beethoven die Einsamkeit des Schwerhörigen und seine Ängstlichkeit und Unsicherheit. Die Angst, sein Leiden könne entdeckt werden, treibt ihn in immer tiefere Isolation und Depression. Wie ein Strudel ziehen ihn die Folgen in den Abgrund. Einsamkeit, Nichtverstehen, Unverstandensein sind die größte Last jeden Leidens. Die sind mindestens so schlimm wie körperliche Beeinträchtigung und physischer Schmerz. Zu verstummen, sprachlos zu sein im Leiden, das ist die tiefgreifendste Infragestellung des Menschen und seines Lebenssinnes.
4. Gebet, Solidarität und Körperlichkeit
Hört man den Text des Jakobus aus der Innenperspektive eines Kranken, dann kann er auch heilsame Perspektiven eröffnen. Heilung ist unverfügbar. Man kann mit Sachverstand dafür arbeiten und darum kämpfen. Dazu sind Ärztinnen und Therapeuten da. Seelsorgende haben die Aufgabe, Kranke in der Krankheit zu stützen und im Heilungsprozess zu begleiten. Aber Heilungsprozesse sind offen und nicht jede Heilung führt zu völliger Gesundheit. Manche Krankheit führt zum Tod. Heilung ist ein relativer Prozess.
Seelsorgende sind dafür da, um den Kranken Räume offen zu halten, in denen sie klagen können. Klage überwindet die Sprachlosigkeit und das ist der erste Schritt zur Besserung. Jede Klage hat ihr Recht, weil in der Krankheit etwas am Wirken ist, das sich Gott entgegen stellt. Gott will, dass wir leben. Und auch wenn keine Krankheit aus Gottes Hand kommt, kann man mit Luther darauf bestehen, dass man trotzdem mit seiner Klage darüber Gott die Ohren reiben darf, dass sie rot werden. Die Klage des Einzelnen, das Fürbittgebet der Freundin, die stellvertretende Fürbitte der Gemeinde im Gottesdienst sind Ausdruck der Hoffnung in den getreuen und Leben schaffenden Gott. Paulus sagt, dass sich in solcher Klage sogar der Geist Gottes selbst bemerkbar macht, der dann, wenn wir nicht einmal mehr klagen können, das für uns übernimmt (Römer 8,26).
Jesus, Jakobus und den ersten Christen geht es aber nicht nur um Fürbitten, sondern auch um tätige Solidarität. Gemeindeleitende, ja die ganze Gemeinde ist damit beauftragt. Und tatsächlich ist diakonische Fürsorge für Kranke von Beginn an ein Markenzeichen des Christentums. Nicht nur das Beispiel Beethovens zeigt, dass Krankheit entfernt. Jeder Langzeitkranke kennt die Erfahrung: Zuerst gibt es viel praktisches Mitgefühl, danach ebbt es ab und je länger die Krankheit dauert, desto mehr zieht sich das Umfeld zurück. Aber niemand kann alleine mit dem Schmerz leben. Fürsorge ist der christliche Umgang mit Kranken, egal welche Krankheit sie haben. Fürsorge ist die unmittelbare Umsetzung des Liebesgebotes Jesu. Selbst dann, wenn der Mensch nicht mehr gesund werden kann, erfährt der Kranke durch die Unterstützung seiner Mitmenschen so etwas wie Heilung inmitten der Krankheit: Liebe eben, die auch körperlich spürbar ist.
Für Kranke, für die in der Krankensalbung die Verleiblichung der Heilszusage und der Heilsgegenwart Christi erfahrbar wird, ist dieses Ritual hilfreich. Aber nicht jeder Kranke kann etwas mit den Salbungsritualen anfangen, die heute in der evangelischen Kirche Wiederauferstehung feiern. Aus der Perspektive eines Kranken gehört, kann man Jakobus Hinweis auf die Salbung auch als Hinweis verstehen auf eine ganz elementare Erfahrung, die jede chronisch Kranke und jeder Schwerkranke kennt: Kranke haben einen Körper und sie brauchen Körperkontakt. Kranke brauchen andere mit einer Haut. Auch krebskranke, leukämiekranke, HIV-positive, auch hinfällige und demente Menschen leben von einem vollgültigen körperlichen Erkennen Anderer und vom körperlichen Erkanntwerden durch andere Menschen.
Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal: „Jede christliche Gemeinschaft muss wissen, dass nicht nur die Schwachen die Starken brauchen, sondern dass auch die Starken nicht ohne die Schwachen sein können. Die Ausschaltung der Schwachen ist der Tod der Gemeinschaft.“ Er verweist damit auf einen urchristlichen Kernsatz: Kranke und Gesunde, Lebende und Tote sind und bleiben in Ewigkeit Teil der von Gott vorbehaltlos gewährten heilvollen Gemeinschaft, die wir Kirche nennen.
Unter diesen Voraussetzungen können auch unheilbar Kranke und bedingt Gesunde ein heilvolles Leben führen. Im Idealfall finden sie von der Klage wieder zum Lobpreis. Der kann sich in einer Lebenshaltung ausdrücken, wie sie Otto Tausig gefunden hat. Otto Tausig, Wiener Jude, Schauspieler und Regisseur, Spezialist für tragikkomische Rollen, der im vergangenen Jahr mit 89 Jahren starb, meinte in einem Interview anderthalb Jahre vor seinem Tod: „Ich hatte einen Herzinfarkt, meine Hüfte ist repariert, ich krieg vielleicht einen Herzschrittmacher, aber es ist doch ein sehr guter Zustand, dass man auf der Welt noch was zu tun hat.“ Amen.
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. 14 Ist jemand unter euch krank, der rufe die Ältesten der Gemeinde zu sich. Sie sollen über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn. 15 Und das Gebet des Glaubens wird den Kranken retten, und der Herr wird ihn (vom Krankenlager) aufrichten; und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden. 16 Deshalb bekennt einander die Sünden und betet füreinander, dass ihr geheilt werdet. Viel vermag das beharrliche Flehen eines Gerechten.
1. Kranke: Die Außenperspektive
„Weißt du, dass Rita Brustkrebs hat?“ fragt Selma. „Kein Wunder“, meint Mira, die neben ihr in der Sauna sitzt. „Sie frisst alles in sich hinein. Hat sie mit dir je über ihre Beziehung zu Kai geredet? Da stimmt etwas nicht. Er ist dauernd weg, sie sitzt zu Hause mit den Kindern und lässt sich von denen auf der Nase herum tanzen.“ „Du hast Recht“, sagt Selma. „Wenn sie mal klare Kante gezeigt oder sich wenigstens ausgesprochen hätte. Aber wenn du so wie sie alles in dich hineinfrisst, dann musst du ja Krebs bekommen.“
Nik sitzt im Flugzeug. Um Tabletten einzunehmen, bittet er die Stewardess um ein Glas Wasser. Als die seine Handvoll Tabletten sieht, fragt sie: „Um Himmels Willen, was haben Sie denn alles?“ Nik antwortet so neutral wie möglich: „Ich hatte einen Herzinfarkt.“ „Das kann man alles wieder in den Griff kriegen“, sagt die Stewardess. „Da gibt es so ein Buch, die China-Diät, darin ist das beschrieben. Wenn man sich nur mit rohen Sachen ernährt, wie heißt das?“ „Vegan“, sagt Nik. „Genau, wenn man sich vegan ernährt, dann geht das alles wieder weg: Diabetes, Herzkrankheiten, Rheuma. Das müssen sie mal ausprobieren.“ Die Stewardess lächelt, Nik lächelt zurück und denkt: „Wenn es so einfach wäre. Aber jetzt lass mich um Himmels Willen in Ruhe.“
„Quantified Self“ heißt eine Glaubenslehre, die im Moment aus den USA nach Europa herüber schwappt. Ihre Anhänger erfassen mit hochtechnologischen Instrumenten kontinuierlich die eigenen Herzfrequenzen, Schlafrhythmen, Menstruationszyklen, Blutwerte, Nahrungsaufnahme und Bewegungsprotokolle. Das Selbst wird vermessen in seinem Stoffwechsel und Verhalten, um für falsch befundenes Körperverhalten abzustellen. Dafür gibt es Datenchips, die man schlucken oder sich implantieren lassen kann und Apps für das Smartphone, die die Daten registrieren und über die man sie direkt ins Internet stellt. Dort tauscht man sich in Communities darüber aus und kontrolliert und überwacht sich gegenseitig in seinem Verhalten. So versuchen die Anhänger dieser Glaubenslehre ihre Gesundheit, ihre Fitness und Leistungsfähigkeit zu optimieren und sich mit Hilfe modernster Technik als individueller Mensch zu perfektionieren.
In unserer Gesellschaft scheint sich zunehmend der Glaube durchzusetzen, körperliche Perfektion sei das höchste Gut. Wer nicht gesund ist, lebt nicht richtig. Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann ist der, dessen Körper davon abweicht, daran selber schuld. Er versündigt sich an sich selbst und an der Gemeinschaft. Körperliches und seelisches Leid werden zur Charakterschwäche. Und Charakterschwachen muss der Rest der Gesellschaft keine Solidarität erweisen.
2. Krankheit und Sünde, Heilung und Glaube
Hört man den Text des Jakobus aus der Außenperspektive, als Gesunder mit Blick auf Kranke, dann sagt er: Wenn man krank ist, kann man etwas tun, damit man geheilt wird. Man kann die Ältesten der Gemeinde zu sich rufen, die für einen beten und einen salben, ja die ganze Gemeinde wird idealerweise für die Kranken beten. Und auch die Sündenvergebung kann mit zur Heilung verhelfen.
Es ist merkwürdig. Der Text führt uns in ein antikes Wirklichkeitsverständnis hinein, das wir nicht mehr teilen. Aber die daraus folgende antike Lebenshaltung scheint in unserer Gegenwart noch immer wirksam. Im Alten Testament gibt es kein eindeutiges Beispiel, dass eine Krankheit mit einem erkrankten Organ in Verbindung bringt, wie es die moderne Medizin tut. Die Lebensführung der alten Israeliten war eine sakral geschlossene: Krankheiten mussten etwas mit Schuld und Sünde zu tun haben. Sie wurden verstanden als Folge von individuellem oder kollektivem Vergehen. Eine Krankheit konnte nicht einfach eine Krankheit sein, sie musste von Gott kommen als Strafe, als Vergeltung, als Warnung, als Erziehungsmaßnahme für menschliches Fehlverhalten. Im Neuen Testament hatte man schon ein komplexeres Krankheitsverständnis. Man konnte Kranke auch als unter dem Einfluss von Dämonen stehend begreifen. Voraussetzung für eine Heilung war Glauben im Sinne von Bitten und Beten um Heilung, von Sündenvergebung und Umkehr oder von Dämonenaustreibung durch machtvolle Menschen wie Jesus.
Immerhin relativiert Jakobus den Zusammenhang von Krankheit und Sünde. Es kann eine Verbindung bestehen, aber es muss nicht sein. Jesus ignorierte Ursachenerklärungen und Schuldzuweisungen für Krankheiten und wandte sich den Kranken vorbehaltlos persönlich zu. Damit provozierte er die Frommen, denn Kranke galten als unrein, was sie kult- und gemeinschaftsunfähig machte. Jesus führte die Kranken aus dieser Isolation heraus und half ihnen, ihre sozialen Beziehungen neu zu gestalten.
Wir heute wissen oder könnten wissen: „Dinge passieren, weil sie passieren, der Kosmos handelt nicht mit Schuld.“ (Ludwig Hasler). Wir wissen oder könnten wissen, dass Krankheiten durch Bakterien, Viren, genetische Dispositionen und unerklärliche biologische Entwicklungen und Schicksale verursacht werden. „Eine Krankheit ist einfach eine Krankheit“ (Susan Sontag). Eine Krebserkrankung, eine HIV-Infektion, ein Herzinfarkt sind einfach Krankheiten – ernste Krankheiten, aber eben Krankheiten. Weder sind sie Fluch noch Strafe noch Peinlichkeit. Sie sind Krankheiten ohne „Bedeutung“. Und sie sind sinnlos. Keine Krankheit hat einen Sinn. Keine Krankheit hat etwas Gutes. Man kann sie deshalb auch nicht im christlichen Sinn als Chance deuten, etwas Gutes im Leben zu begreifen. Menschliche Sünde ist nicht die unmittelbare Ursache von Krankheit. Und die Erfahrung von Vergebung und Glaube führt nicht unmittelbar zur Heilung. Dass jemand, der an einer ernsthaften oder gar lebensbedrohlichen Krankheit leidet, durch Gebet und Salbung geheilt wird, ist bei uns ausgesprochen selten zu erleben. Auch die oft wissenschaftlich verbrämte Behauptung, dass wer glaubt gesünder sei, oder gar dass regelmäßiges Gebet die Gefahr, an Alzheimer zu erkranken, um 50% senke, ist Unsinn. Schlimmer noch, in ihrer unverschämten Frömmigkeit sind solche Behauptungen unfromm, weil sie in der vorläufigen Gesundheit von Menschen zwingend Früchte des rechten Glaubens zu ernten meint. Damit unterscheidet sich diese Art Frömmigkeit in nichts von der Haltung der eingangs vorgestellten Laienpsychosomatikerinnen aus der Sauna, der Ganzheitlichkeitsträumerin aus dem Flugzeug und den (überwiegend männlichen) Jüngern der „Quantified Self“-Bewegung, die Gesundheit zu ihrem Gott erheben.
3. Kranke: Die Innenperspektive
„O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir … bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels ... gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussezen, o wie hart wurde ich dur[ch] die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehör’s dann zurückgestoßen, und doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub, … doppelt Wehe thut mir mein unglück, indem ich dabey verkannt werden muß, für mich darf Erholung in Menschlicher Gesellschaft, feinere unterredungen, Wechselseitige Ergießungen nicht statt haben, … wie ein Verbannter muß ich leben, nahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße Ängstlichkeit, indem ich befürchte in Gefahr gesezt zu werden, meine[n] Zustand merken zu laßen … solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben … – Gottheit du siehst herab auf mein inneres, du kennst es, du weist, dasß menschenliebe und neigung zum Wohlthun drin Hausen … - mit freuden eil ich dem Tode entgegen – … befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden Zustande“?
Anschaulich und bewegend schildert Ludwig van Beethoven die Einsamkeit des Schwerhörigen und seine Ängstlichkeit und Unsicherheit. Die Angst, sein Leiden könne entdeckt werden, treibt ihn in immer tiefere Isolation und Depression. Wie ein Strudel ziehen ihn die Folgen in den Abgrund. Einsamkeit, Nichtverstehen, Unverstandensein sind die größte Last jeden Leidens. Die sind mindestens so schlimm wie körperliche Beeinträchtigung und physischer Schmerz. Zu verstummen, sprachlos zu sein im Leiden, das ist die tiefgreifendste Infragestellung des Menschen und seines Lebenssinnes.
4. Gebet, Solidarität und Körperlichkeit
Hört man den Text des Jakobus aus der Innenperspektive eines Kranken, dann kann er auch heilsame Perspektiven eröffnen. Heilung ist unverfügbar. Man kann mit Sachverstand dafür arbeiten und darum kämpfen. Dazu sind Ärztinnen und Therapeuten da. Seelsorgende haben die Aufgabe, Kranke in der Krankheit zu stützen und im Heilungsprozess zu begleiten. Aber Heilungsprozesse sind offen und nicht jede Heilung führt zu völliger Gesundheit. Manche Krankheit führt zum Tod. Heilung ist ein relativer Prozess.
Seelsorgende sind dafür da, um den Kranken Räume offen zu halten, in denen sie klagen können. Klage überwindet die Sprachlosigkeit und das ist der erste Schritt zur Besserung. Jede Klage hat ihr Recht, weil in der Krankheit etwas am Wirken ist, das sich Gott entgegen stellt. Gott will, dass wir leben. Und auch wenn keine Krankheit aus Gottes Hand kommt, kann man mit Luther darauf bestehen, dass man trotzdem mit seiner Klage darüber Gott die Ohren reiben darf, dass sie rot werden. Die Klage des Einzelnen, das Fürbittgebet der Freundin, die stellvertretende Fürbitte der Gemeinde im Gottesdienst sind Ausdruck der Hoffnung in den getreuen und Leben schaffenden Gott. Paulus sagt, dass sich in solcher Klage sogar der Geist Gottes selbst bemerkbar macht, der dann, wenn wir nicht einmal mehr klagen können, das für uns übernimmt (Römer 8,26).
Jesus, Jakobus und den ersten Christen geht es aber nicht nur um Fürbitten, sondern auch um tätige Solidarität. Gemeindeleitende, ja die ganze Gemeinde ist damit beauftragt. Und tatsächlich ist diakonische Fürsorge für Kranke von Beginn an ein Markenzeichen des Christentums. Nicht nur das Beispiel Beethovens zeigt, dass Krankheit entfernt. Jeder Langzeitkranke kennt die Erfahrung: Zuerst gibt es viel praktisches Mitgefühl, danach ebbt es ab und je länger die Krankheit dauert, desto mehr zieht sich das Umfeld zurück. Aber niemand kann alleine mit dem Schmerz leben. Fürsorge ist der christliche Umgang mit Kranken, egal welche Krankheit sie haben. Fürsorge ist die unmittelbare Umsetzung des Liebesgebotes Jesu. Selbst dann, wenn der Mensch nicht mehr gesund werden kann, erfährt der Kranke durch die Unterstützung seiner Mitmenschen so etwas wie Heilung inmitten der Krankheit: Liebe eben, die auch körperlich spürbar ist.
Für Kranke, für die in der Krankensalbung die Verleiblichung der Heilszusage und der Heilsgegenwart Christi erfahrbar wird, ist dieses Ritual hilfreich. Aber nicht jeder Kranke kann etwas mit den Salbungsritualen anfangen, die heute in der evangelischen Kirche Wiederauferstehung feiern. Aus der Perspektive eines Kranken gehört, kann man Jakobus Hinweis auf die Salbung auch als Hinweis verstehen auf eine ganz elementare Erfahrung, die jede chronisch Kranke und jeder Schwerkranke kennt: Kranke haben einen Körper und sie brauchen Körperkontakt. Kranke brauchen andere mit einer Haut. Auch krebskranke, leukämiekranke, HIV-positive, auch hinfällige und demente Menschen leben von einem vollgültigen körperlichen Erkennen Anderer und vom körperlichen Erkanntwerden durch andere Menschen.
Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal: „Jede christliche Gemeinschaft muss wissen, dass nicht nur die Schwachen die Starken brauchen, sondern dass auch die Starken nicht ohne die Schwachen sein können. Die Ausschaltung der Schwachen ist der Tod der Gemeinschaft.“ Er verweist damit auf einen urchristlichen Kernsatz: Kranke und Gesunde, Lebende und Tote sind und bleiben in Ewigkeit Teil der von Gott vorbehaltlos gewährten heilvollen Gemeinschaft, die wir Kirche nennen.
Unter diesen Voraussetzungen können auch unheilbar Kranke und bedingt Gesunde ein heilvolles Leben führen. Im Idealfall finden sie von der Klage wieder zum Lobpreis. Der kann sich in einer Lebenshaltung ausdrücken, wie sie Otto Tausig gefunden hat. Otto Tausig, Wiener Jude, Schauspieler und Regisseur, Spezialist für tragikkomische Rollen, der im vergangenen Jahr mit 89 Jahren starb, meinte in einem Interview anderthalb Jahre vor seinem Tod: „Ich hatte einen Herzinfarkt, meine Hüfte ist repariert, ich krieg vielleicht einen Herzschrittmacher, aber es ist doch ein sehr guter Zustand, dass man auf der Welt noch was zu tun hat.“ Amen.
Perikope