Getragen bist du - Predigt zu Mk 2,1-12 von Heinz Behrends
2,1-12

„Steh auf, Christian, du bist gesund“, sagt der Professor in der Kinderklinik. Und er steht auf. Mutter und Vater nehmen ihn fest in den Arm. Mit wankenden Knien, erleichtert verlassen seine Eltern mit ihm die Klinik. Erhofft haben sie es, aber nicht geglaubt. Eine schwere Last fällt von den Schultern der Familie. Zwei Jahre Behandlung hat er mit seinen 6 Jahren hinter sich. Leukämie. Mit blauen Flecken nach dem Fußballspiel in der Pampersliga hatte es angefangen. 2 Jahre Chemo, Erbrechen, Haarausfall. Bange Sorge um sein Leben. Erschöpft fallen sie nach der guten Nachricht abends ins Bett.
Doch der Vater bleibt lange wach. Die Erinnerung begleitet ihn durch die nächsten Tage. Wie er nach der Diagnose an Christians Bett sitzt und ihm alles durch den Kopf geht. Was haben wir getan, dass unser Sohn vom Tod bedroht ist?
Was hat er getan? Nichts. Was soll er auch mit seinen 5 Jahren getan haben, dass er solch eine Strafe verdient? Sind wir schuld? Bin ich es?
Er schaut zu den anderen Eltern auf der Station herüber. Die Mutter ist mit ihrem kleinen Sohn extra aus Griechenland angereist, weil sie von dem guten Ruf der Klinik gehört hat. Alles um jeden Preis für ihn tun. Ein Vater gibt seiner Tochter ein Gummibärchen. Sie sind alle von dem Gefühl bedrängt, ihren Kindern was schuldig geblieben zu sein. Nun wollen sie was gut machen. Wer könnte als Vater und Mutter das nicht nachvollziehen? Immer meint man, man habe etwas an den Kindern versäumt und hätte mehr tun können.

Wenn uns etwas Unbegreifliches überkommt, ist die erste Frage: Warum? Was habe ich getan? Womit hab‘ ich das verdient? Keine Sünde kann so groß sein, dass ich elend dahinsieche, dass es anderen besser ergeht als mir. Die Frage, ob wir gut genug sind, ob wir genügen, schlummert in uns. Die Frage nach der Gerechtigkeit, nach Liebe. Darum sind wir hellwach, wo schlimmes passiert und fragen: „Warum?“ „Soll das eine Strafe sein?“ Was könnte größere Strafe sein als der Verlust der Unversehrtheit, der Gesundheit?

Jesus lehnt diesen Zusammenhang entschieden ab. Die vier, die den Gelähmten zu ihm tragen, beschäftigen sich mit dieser Frage erst gar nicht. Für sie scheint es ziemlich einfach zu sein: Unser Freund ist krank, der soll wieder gesund werden. Sie packen an und tragen ihn dorthin, wo Jesus gerade predigt. Sie überwinden die Barriere der Menschenmenge, lassen ihn durchs Dach und legen ihm ihren Freund vor die Füße. Ihr fester Wille hat einen Weg gefunden. Doch was dann geschieht, verblüfft sie. Jesus sagt: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben.“ Was soll denn das nun?
Also doch Krankheit als Strafe für die Sünde, die erst geklärt werden muß?

Nehmen wir die Lähmung des jungen Mannes einmal sehr weit. Da ist ein Mensch, der ist besetzt von dem Gefühl, ich kann nichts, ich tauge nichts, ich bin nichts wert. Aus Angst wird er zu nichts fähig sein. Alles wird ihm misslingen, er wird sich scheu zurückziehen und das Leben nicht wagen. Auch Gott wird er nicht auf Augenhöhe begegnen können. Er ist völlig gelähmt.
Zu diesem sagt Jesus: „Was hat man dir getan?“

Jeder Mensch hat seine Geschichte und ist verwoben in die Geschichte seiner Väter und Mütter. Jeder hat seinen Grund für das, was er tut, sei es noch so schräg und dumm. Wir kriegen alle was mit. Nicht, was hast du getan, sondern, was hat man dir getan?
Und das ist ja wahr: Wenn man längere Zeit krank darnieder liegt, dann kommt die ganze Geschichte des Lebens oft hoch. Um heil zu werden, muss die Beziehung, die Vergangenheit geklärt werden. Die Sünde ist nicht Ursache meiner Krankheit, aber meine Geschichte muß geklärt werden, damit ich mehr als gesund werde. Alle Pläne und Gedanken wollen neu sortiert werden. Und Jesus spricht ihn an: „Mein Kind, dir sind deine Sünden vergeben“.

„Mein Kind“.
Er sagt zu einem erwachsenen Mann, der vielleicht so alt ist wie er selbst: „Mein Kind“.
„Mein Sohn“, übersetzt Luther. Jesus öffnet einen Raum zur Heilung. Du bist schutzbedürftig wie ein Kind. Und ich trage dich wie ein Kind. Du wirst geheilt sein und unbefangen, befreit wieder anfangen können wie ein Kind.
Der Meister der Sprache des Ersten Testaments und ihr genialer Übersetzer Martin Buber sagt, dass es das Wort, was bei uns Vergebung heißt, in der Bibel gar nicht gebe. Dort heißt es genau übersetzt: „tragen“. Ich, Christus, trage deine Sünde, deine Geschichte und bringe dich in Beziehung zu dir, dass du gesund und heil wirst.

Und dann sind da ja auch noch die vier. Denn als sie ihn heruntergelassen und Jesus vor die Füße gelegt haben, heißt es: „Als Jesus ihren Glauben sah.“ Nicht den Glauben des Gelähmten, sondern den Glauben der vier Freunde. Ist das nicht klasse! Es bedarf nicht des festen Glaubens des Kranken, sondern der Familie, der Freunde.
Es gibt keinen stellvertretenden Glauben, aber es gibt einen Glauben, der mir vorangeht, wenn ich selber nicht mehr kann. Was ist das viel wert, wenn der Arzt, die Schwestern, die Familie, die Freunde mich in der Krankheit umgeben und von diesem Glauben getragen sind. „Als er ihren Glauben sah.“
Wenn man einmal ernsthaft erkrankt, ist der Glaube erschüttert, da muß man sich ja mit vielen Reaktionen auseinandersetzen. Du liegst, er steht. Ohne es zu wollen, sieht er auf dich herab. Das kann demütigend sein. Menschen ziehen sich zurück, weil sie unsicher werden, wie sie mit mir umgehen sollen. Oder sie sagen: „Wenn du mich brauchst, rufe doch einfach mal an“. Oder sie rücken Dir auf den Pelz, sitzen ratlos am Bett, Du findest keine Ruhe. Oder sie haben große Erklärungen: „Du darfst nicht ‚Warum‘ fragen, sondern ‚Wozu‘?“ „Ach ja, weiß ich doch. Aber jetzt frage ich mich ‚Warum‘?“ Sie gehen mit Dir um als seist Du wieder ein Kind, tätscheln auf Deinen Händen rum. Ihr Bedauern raubt Dir die letzte Würde in einer Situation, in der Du um Dein Selbstbewusstsein kämpfst.
Nichts von all dem tun die vier Freunde, sie sind von einem großen Vertrauen getragen. Es ist zum Greifen nahe und Jesus sieht es sofort an ihrer Körperhaltung, in ihren Augen. Ich denke an Dich, ich bete für dich, ich besuche dich, ich lasse dir den Raum, den du brauchst, ich benutze deine Krankheit nicht, um meine Probleme und Ängste abzuarbeiten. Der Gelähmte hat sich in ihr Vertrauen legen lassen. Und sie haben ihn förmlich aufgehoben und nicht auf ihn herabgeschaut.

„Als er ihren Glauben sah, sprach er: Mein Sohn, steh auf, nimm dein Bett und gehe heim.“ Und er steht auf. Er nimmt seine Bahre und geht heim. Die Lähmung hat ihn verlassen. Was ihn getragen hat, kann er jetzt selber tragen. Seine Beziehungen sind klar. Du bist mein Kind, hat Christus ihm gesagt. Die Freunde sind bis zur Heilung und darüber hinaus an seiner Seite. Nun kann er wieder selbst gehen. Er ist gesund und geheilt.

Als Christians Familie die gute Nachricht erhalten hat, schreiben die Freunde aus der englischen Partnergemeinde: „Wir haben jeden Abend in unserem even song für Christian gebetet.“ Da verlässt die große Anspannung von zwei Jahren seinen Vater. Es ist der einzige Augenblick, in dem er seine Tränen nicht mehr aufhält und weint.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Superintendent i.R. Heinz Behrends

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin Kurprediger auf der ostfriesischen Insel Langeoog. Der Gottesdienst um 11 Uhr wird von ca 120 Menschen besucht, Gäste, Touristen, vor allem Paare zwischen 50 und 75, dazu einige jüngere Eltern mit Kindern. Der Kirchraum wirkt dadurch gut gefüllt. Das Gefühl einer geleerten Kirche nach Corona bleibt ihnen erspart. Die Besucher*innen machen Urlaub, suchen Erholung. Sie haben Zeit, hören zu und sind offen für Fragen ihres Lebens.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Eigene Erfahrungen und langes Nachdenken über Beziehung von Krankheit und Schuld. Ich bin persönlich krebs-erkrankt gewesen und habe drei weitere Personen im engstem Familienkreis, deren Krebs-Erkrankung geheilt wurde. Dazu kommen Erfahrungen aus der Krankenhaus-Seelsorge. Gemeinsam mit der Ehefrau habe ich die letzten 6 Jahre 14tägig Gottesdienst in der Klinik-Kapelle gehalten.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Glaube der anderen trägt, wenn ich selbst nicht kann. Das Feld von Schuld und Krankheit bleibt ein weites. Einheit von Körper und Seele. Meine Fragen werden nicht beantwortet werden. Sie werden vermehrt auf mich zukommen. Ich bin 74. Und bereite mich vor. Auch durch Predigtarbeit wie dieser. „Warum“ zu fragen ist sinnlos, am Ende gilt nur das Vertrauen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Coaching war ausgezeichnet, sehr detailliert, konkret. Ich konnte jeden Vorschlag übernehmen. Sie hat Überlängen gestrichen. Auf irritierenden Perspektivwechsel hingewiesen. Behutsame sprachliche Veränderungen vorgeschlagen. Auf die Wirkung der Ein-Wort-Sätze hingewiesen. Auf die Verwendung von „Jesus“ und „Christus“. Und gesagt, dass sie sich über die Predigt freut.

Perikope
23.10.2022
2,1-12