"Getragen im Leben wie im Sterben" - Predigt über Philipper 1, 21-26 von Thomas Böhmert
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Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi. Ich lese aus dem ersten Kapitel die Verse 21-26. Paulus schreibt:
Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll. Denn es setzt mir beides hart zu: ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um euretwillen. Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben, damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme.
I.
Liebe Gemeinde,
es sind ganz persönliche Gedanken, die Paulus hier seiner Gemeinde in Philippi mitteilt. Er gibt ihnen einen Einblick in sein Innerstes, in seine Sehnsucht, in sein Fühlen und sein Hoffen. Selten nur redet der Apostel in seinen Briefen so offen von sich selbst wie er es hier tut.
Was mag ihn dazu veranlasst haben? Wie geht es ihm in diesem Moment?
Als Paulus diese Zeilen zu Papier bringt, befindet er sich als Häftling im Gefängnis. Man vermutet in der Stadt Ephesus. Seine Zukunft ist für ihn kaum absehbar. Das Urteil, das über ihn gesprochen werden soll, ist noch nicht gefällt. Im schlimmsten Fall könnte ihn das Todesurteil erwarten. Genauso denkbar wäre für Paulus jedoch auch sein Freispruch.
Was wird werden? Leben oder Tod? Wie wird es für ihn weitergehen? Wird es überhaupt weitergehen? Solche Fragen treiben den Apostel um. Und sie quälen ihn.
Mit Blick auf seine Zukunft, auf das, was er sich als Ausgang für seine Lage erhofft, schlagen in seiner Brust zwei Herzen. Welchen Ausgang soll er sich wünschen: Leben oder Tod?
Beides zieht er in Betracht. Und beidem fühlt er sich auf eine bestimmte Weise zugetan, dem Leben wie dem Sterben: Christus ist mein Leben, sagt er, und Sterben ist mein Gewinn. Was soll er wählen? Er ringt innerlich mit sich selbst.
II.
„Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“ – ich vermute, diese Worte werden ganz unterschiedlich auf uns wirken, wenn wir sie heute hören.
„Christus ist mein Leben.“ Da mögen einige von uns heute hier sein, die sagen: Ja, so ist das auch bei mir. Ich brenne für Jesus Christus, er und sein Wort sind mir eine Stütze und Hilfe im Leben.
Da mögen auch andere hier sein, denen es damit anders geht, die das für sich nicht so sagen würden oder können: Christus ist mein Leben. Nein, manche würden hier vielleicht vorsichtiger formulieren.
„Sterben ist mein Gewinn.“ Auch dieser Satz mag ganz unterschiedlich bei uns ankommen.
Der Gedanke, Sterben als einen Gewinn zu betrachten, ist – würde ich meinen – den meisten von uns sehr fremd. Viel mehr empfinden wir es doch wohl eher als einen großen Verlust.
Wenn der Tod, das Sterben ins Leben einbricht, dann schmerzt das. Und es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit ihm abzufinden, und zu lernen, mit ihm umzugehen. Wie schwer das oft ist, wissen viele von uns.
In unserem Alltag hingegen versuchen wir, so gut es geht, die Gedanken an das Sterben zu verdrängen, so zu leben als gäbe es das Sterben nicht.
Es aber als ein wünschenswertes Ereignis, gar als Gewinn zu betrachten, wie Paulus es tut, das steht unserem allgemeinen Empfinden zumeist wohl genau entgegengesetzt.
Aber doch gibt es Lebenslagen, in denen kann der Gedanke daran in unseren Horizont geraten. In schlimmen Krisensituationen, in Leidenszeiten etwa, besonders auch in Zeiten schwerer Trauer um einen Menschen, der uns nah gewesen ist.
Manch ein trauernder Mensch, der einen lieben Menschen verloren hat, mag in diesem Satz des Paulus etwas spüren, das sie oder ihn auf eine bestimmte Weise anspricht.
Der Abschied von einem vertrauten Menschen bedeutet immer eine Krise im Leben. Unser Herz fühlt sich gebrochen an, voller Traurigkeit und Schmerz.
Die Fragen, die sich Paulus wohl in seinem Gefängnis stellt, sie mögen dann auch uns in den Sinn kommen: Was wird werden? Wie wird die Zukunft aussehen? Und manchmal vielleicht sogar: Wird es noch eine Zukunft geben?
Manchmal klingen solche Gedanken an das Sterben an, wenn Trauernde von sich und ihrer Trauer erzählen.
Der bekannte Theologe Jörg Zink hat einmal beschrieben: „Der Wunsch nachzusterben, ist bei vielen Trauernden eine der elementaren Sehnsüchte und manchmal unüberwindlich in der Zeit der Trauer. Das Leben hier scheint sinnlos geworden und alle Lebenskraft verloren.“
Dann mag einer vielleicht so sprechen: Sterben ist mein Gewinn.
Jörg Zink aber fügt seinen Worten sogleich an: Gib diesen Gedanken nie zu lange nach […] Die Kraft des Menschen drückt sich darin aus, dass er bei aller Sehnsucht nach dem Tod doch auf der Erde zu bleiben vermag, bis ihn der Ruf Gottes trifft: Komm!“ (Zitat entnommen: S. Bleymüller (Hg.): Mein kleines Trost- und Trauerbuch, Gütersloh 2010, S. 45.)
III.
Auch Paulus gibt diesem Gedanken nicht zu lange nach.
Aber ringt mit sich: mit seiner Sehnsucht nach dem Sterben und seiner Sehnsucht zu leben. Zwischen beiden ist er, wie es scheint, zunächst wie hin und her gerissen. Beides vermag er sich zu wünschen.
„Sterben ist mein Gewinn“, sagt Paulus. Denn im Hier und Jetzt erlebt er Verfolgung und Leiden: Da ist seine bedrängende Lage in der Gefangenschaft. Viele Gegner verbreiteten ihren Spott über ihn und gehen ihn heftig an. Paulus litt unter einer Krankheit, die ihm das Leben schwer machte. Psychische und physische Schmerzen hatte er zu ertragen.
So wäre für ihn der Ausgang aus dem „Leben im Fleisch“, aus dem irdischen Leben eine Erlösung. Denn Sterben bedeutet für Paulus nicht ein Sich-Auflösen ins Nichts. Nein. Wenn ich sterbe, so sagt er, bin ich bei Christus – bei ihm geborgen, in Frieden und Seligkeit. Nichts Besseres kann es für ihn geben.
Diese Sehnsucht, im Tod bei Christus zu sein, wohnt tief in seinem Herzen, das ist gemeint, wenn er vom Sterben als Gewinn spricht.
Das andere Herz in Paulus aber schlägt kräftig für das Leben. Denn Christus ist mein Leben, sagt er.
Paulus ist ein großer Eiferer für das Evangelium. Ja, sein Leben ist die Verbreitung der guten Nachricht von Jesus Christus. So sehr, dass er sagt: Christus ist mein Leben.
Paulus ist sich seiner Aufgabe und seiner Verantwortung bewusst. Gerade im Blick auf die Philipper, seiner lieben Gemeinde. Er weiß auch um ihre Bedrängnis, darum, dass Irrlehrer versuchen, sie auf ihre Seite zu bringen, darum, dass auch ihnen Verfolgung und Ausgrenzung droht. Er weiß, wie sehr sie ihn und seinen Zuspruch brauchen. Wenn er weiterlebt, dann wird das zur Förderung der Gemeinde dienen und zur Freude im Glauben.
Dieser Zwiespalt zerreißt ihm für einen Moment geradezu das Herz: auf der einen Seite der Wunsch, zu sterben und bei Christus zu sein und auf der anderen Seite der Wunsch zu leben, und Jesus Christus und sein Wort in der Welt zu verbreiten, und vor allem auch bei seiner Gemeinde zu sein.
IV.
Paulus ringt mit sich, aber er findet einen Weg, um zu Klarheit zu gelangen, was er wünschen soll.
Dabei tut er zwei Dinge, die ihn helfen, seinen Zwiespalt, aber auch seine bedrängte Lage, sein Leid zu verarbeiten und zu überwinden. Zwei Dinge, die auch heute noch hilfreich sein können in schlimmen Lebenslagen.
Zum einen: Paulus kleidet seine Gedanken und Sehnsüchte in Worte. Worte, die er aufschreibt.
Ich höre öfters von Menschen, die in einer Krise sind, dass es eine große Hilfe sein kann, seine Gedanken aufzuschreiben. In Worte zu fassen, was einen bewegt. Trauernde machen oft gute Erfahrungen damit, etwas von ihrer Trauer aufzuschreiben. Das entlastet, so sagen manche.
Oder es kann gut sein, sich anderen im Gespräch mitzuteilen.
Auch das tut Paulus. Er behält seine geschriebenen Worte nicht für sich, sondern er teilt sie mit den Menschen, mit denen er sich verbunden fühlt. Er teilt sich ihnen mit und gibt ihnen so Anteil an seiner Situation. Er erzählt frei heraus, was er empfindet, was sein Herz bewegt.
Auch das ist hilfreich und ein guter Weg bei der Verarbeitung von Leid und Seelenschmerz.
Geteiltes Leid ist halbes Leid, so sagen wir es oft umgangssprachlich. Manchmal ist da etwas dran.
Und das zweite, das Paulus tut: Er betrachtet sein Leben, seine gegenwärtige Situation im Licht des Glaubens an Gott, im Licht der Liebe Gottes, die in Jesus Christus zu uns Menschen gekommen ist.(Vgl. Wilhelm Egger: Galaterbrief. Philipperbrief. Philemonbrief. Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Neuen Testament mit der Einheitsübersetzung, Würzburg 19953, S.48.)
Bei allem, was ihn umtreibt, bei aller Zerrissenheit in seiner Krise, findet er hierin eine Orientierung, eine Orientierung bei Gottes Liebe. Sie wird ihm zum Wegweiser.
„…ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um euretwillen. Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde“.
Paulus ist sich sicher: Gott wird es fügen wie es am besten ist. Und das Beste wird das Leben sein. Er weiß, Gott wird ihn dahin leiten, wo er ihn will und braucht – im Leben wie im Sterben, und sei es auch ein Leben unter Schmerzen, Traurigkeit, Verfolgung und Krankheit. Gott wird ihn halten und seine Wege lenken und ihn führen.
Seine Lage in diesem Licht zu betrachten, ist Heilung für sein zerrissenes Herz. Das gibt ihm Mut und Kraft, voller Zuversicht in die Zukunft zu schauen.
V.
Liebe Gemeinde,
auch von anderen Frauen und Männern hören wir von solchem Vertrauen auf Gott in schweren Zeiten. Z. B. von Dietrich Bonhoeffer.
Wir kennen sein berühmtes Gedicht, das in zwei Vertonungen gleich zweimal Eingang in unser Gesangbuch gefunden hat. „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Wie Paulus Philipperbrief vor vielen hundert Jahren, so entstand auch dieses Gedicht zu einem Zeitpunkt, in dem die Zukunft ungewiss war, und es ist ebenfalls in Gefangenschaft geschrieben.
Dietrich Bonhoeffer, der berühmte Pfarrer und Theologe, der sich im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime eingesetzt hatte, saß im Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße ein. Sein Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ entstammt seinem letzten Brief aus der Haft an seine Verlobte.
Er dichtet es zu einem Zeitpunkt, an dem er bereits zwei Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wie Paulus musste auch er damit rechnen, hingerichtet zu werden. Gleichwohl mag noch Hoffnung auf ein Weiterleben da gewesen sein. In dieser schweren Zeit schreibt er dieses Gedicht, das trotz aller Dunkelheit um ihn herum von Hoffnung und Zuversicht spricht.
Heute noch bewegt es viele Menschen und schenkt ihnen Zuversicht. Zuversicht darauf, dass, was immer kommen mag, wir immer in der Liebe Gottes bleiben werden, im Leben wie im Tod. Bonhoeffer selbst war von dieser Hoffnung zutiefst beseelt.
VI.
Liebe Gemeinde,
Paulus oder auch Bonhoeffer oder vielleicht auch andere Menschen aus unseren Tagen, denen solches Vertrauen gegeben ist: ihre Zuversicht, ihr fester Glauben an Gott und an seine Liebe, die uns allezeit umfängt, können auch für uns eine Orientierung sein in Zeiten des Leides, des Abschieds, in Zeiten der Traurigkeit.
Paulus ringt in unserem Predigttext mit seinen Gedanken. Am Ende aber ist er sich der guten Führung Gottes gewiss, und er entscheidet sich gegen seine Sehnsucht zu sterben und für das Leben. Sein Leben im Licht der Güte und Liebe Gottes betrachtet, bringt ihn dazu, es mit dem Leiden aufzunehmen, sich ihm zu stellen, in der Gewissheit, dass er mit Gottes Hilfe diese Zeiten bewältigen wird.
Von dieser Zuversicht hören wir heute am Gedenktag der Verstorbenen in den Worten des Apostels Paulus. Es sind Mut machende Worte, die uns führen und leiten wollen.
Wir denken an die Menschen, die im zurückliegenden Jahr gestorben sind, die Menschen, mit denen wir eng verbunden sind. In der Zuversicht, die auch Paulus getragen hat, dürfen wir sie nun bei Christus wissen. In seiner liebenden Gegenwart getragen und geborgen.
Und so wie Gott die Toten umfängt, so stehen auch wir Lebende in seiner Hand. Gott wird uns durch die dunklen Tage führen und an unserer Seite sein. Er trägt uns und lässt uns nicht zuschanden werden.
Gott erhalte uns und stärke uns in dieser Zuversicht und in diesem Glauben heute und alle Zeit.
Amen.
Perikope
25.11.2012
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