„Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden; und er wird verspottet und geschmähet und verspeiet werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er wieder auferstehen. Sie aber verstanden der [Worte] keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das Gesagte war.“ (Jubiläumsbibel 1912)
Liebe Gemeinde,
wir befinden uns unmittelbar vor dem Beginn der Passionszeit. Die Geschichte von Leiden und Sterben Jesu werden uns in den kommenden Wochen beschäftigen. Darauf stellen wir uns heute ein, und wir tun das, indem wir uns, unserem Text aus dem Lukas-Evangelium folgend, den sogenannten „Leidensankündigungen“ Jesu zuwenden.
Nun ist es eine der Rätselfragen der Passionszeit, weshalb in den Schilderungen der Evangelien dem Leiden Jesu diese Ankündigungen vorangestellt werden. Welche Bedeutung haben sie? Sie müssen doch etwas bestimmtes aussagen wollen. Manche Ausleger meinen, dass es zum Leiden Jesu hinzugehört, wenn ihm die Vorhersage vorangeht – und vielleicht ist ja an dieser Auffassung auch wirklich etwas dran. Oder aber es ließe sich an einen Heilsplan denken, der dem allen irgendwie zugrunde liegt, dem alles anschließende Geschehen folgt und auf den mit den Ankündigungen verwiesen werden soll. Das Geschehen, also Leiden und Tod Jesu, wären dann ihrerseits eine Art Erfüllung von etwas, was bereits von Beginn an vorgesehen worden wäre.
Man kann versuchen, jene „Rätselfrage“ auf diese oder eine ähnliche Weise anzugehen und aufzulösen. Es ist ja auch in der langen Geschichte des christlichen Glaubens und des Nachdenkens über ihn immer wieder so gemacht worden. Und dennoch: Ich kann mich mit Auslegungen dieser Art nicht zufrieden geben. Mein Einwand lautet: Wenn es so wäre, wenn alles so kommen musste, weil es von vornherein schon – von Gott – so geordnet worden ist, dann kommt es auf Jesu Ankündigung selbst an. Anschließend wird er dann tatsächlich verspottet, geschmäht, gegeißelt – aber das hat nur noch die Funktion, zu bestätigen, wovon er zuvor bereits gesprochen hat. Die Ereignisse, die ihnen als ihre Erfüllung folgen, wären nur noch dazu da, das Angekündigte zu bestätigen.
Noch ein zweites möchte ich bemerken: Es würde, wollte ich dieser Sichtweise folgen, auf eine vollständige Umkehrung all meiner Vorstellungen von der Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes in der Welt hinauslaufen. Soll ich im Leiden und Tod Jesu eine Art „Heil“ oder „Heilstatsache“ erkennen? Vielmehr ist doch das Geschehen der Passion ein schreckliches Unheil und nichts anderes. Überhaupt dürfen wir uns doch wohl fragen: Was soll das ganze Thema „Die Leiden Jesu“ eigentlich? Man kann doch auch ganz gut klarkommen, wenn man schlicht und einfach alles Vertrauen auf Gott setzt; damit hat man ja schon genug zu tun. Das Nachdenken über die Bedeutung der Passion und mehr noch über diese Ankündigungen der Passion überlässt man dann ruhigen Herzens anderen.
So könnten wir es uns denn heute recht einfach machen. Aber das Einfach-Machen hat auch seine Kehrseite. Es gibt eben nun einmal Vorhandenes aus der Geschichte unseres Glaubens oder dann auch Sachverhalte, die in den biblischen Texten eine wichtige Rolle spielen. Sie sind dort offenkundig von erheblicher Bedeutung; das lässt sich nicht einfach ausblenden, und deshalb kann man sie auch nicht einfach übergehen. Und man kann es auch nicht für unerheblich erklären, dass diese Dinge oftmals zu angestrengtem Nachdenken und engagierten Erläuterungen geführt haben. Besonders letzteres sehen wir am Beispiel dieser Leidensankündigungen sehr deutlich.
Der Reformator Johannes Calvin etwa hat sich ihnen mit großer Sorgfalt gewidmet. Er war der Ansicht: In ihnen komme die besondere und einzigartige messianische Würde Jesu auf besondere und einzigartige zum Ausdruck. Jesus sei mit der unbesiegbaren Kraft des Heiligen Geistes ausgestattet gewesen, um sich im Wissen um sein gewaltvolles Schicksal nach Jerusalem zu begeben. Er tat dies, gerade „damit er von ihnen angespuckt, gelästert, beschimpft, ausgepeitscht und schließlich vor die Folter des Kreuzes gezogen wird“. Weil nun aber seine Jünger erschraken, hat Jesus, Calvin zufolge, die Ankündigung des Leidens mit Recht mehrmals wiederholt. Damit ermutigte er sie, und zwar auf zweierlei Weise: Zum einen gab er ihnen mit seinem Vorauswissen ein Zeichen seiner Göttlichkeit; zum anderen bot er ihnen Kraft und Sicherheit, indem er erklärte, „am dritten Tage wird er wieder auferstehen“. Dass Jesus nun aber seine Mitteilungen auf den Kreis der zwölf Jünger begrenzte, hat laut Calvin nicht die Bedeutung, sie vor allen anderen herauszuheben, sondern es geschieht, um sie als zukünftige Zeugen einzusetzen.1
Wie dem nun auch sei. Ich führe diesen Reformator an, weil seine Überlegungen zeigen, wie man auch jenseits aller Ideen von „Heilsplan“ und „Erfüllung“ den Leidensankündigungen einen Sinn abgewinnen kann. Ich selber allerdings muss einen anderen Weg gehen. Meiner Ansicht nach haben bei Calvin die Schlussworte unseres Abschnittes nicht das erforderliche Gewicht. Dort heißt es ja nun einmal in aller Unmissverständlichkeit: „Sie aber verstanden der Worte keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das Gesagte war.“
Diese Verständnislosigkeit der Jünger macht unsere Frage um so dringlicher: Weshalb gibt es diese Leidensankündigungen? So schwer es nun scheint, darauf eine klare und einleuchtende Antwort zu geben, so entschieden möchte ich doch betonen, dass es diese Aussagen nun einmal gibt. Sie stehen der Passionsschilderung voran, und das sogar in dreifacher Ausführung. Sie bilden offensichtlich einen zugehörigen Bestandteil der Passionsgeschichte.
Worum es meiner Ansicht nach nicht geht, das ist ein Vorauswissen Jesu, das man dann als Jünger oder Glaubender einfach so hinnehmen müsste. Vielmehr verhält es sich so: Indem Jesus das ihm bevorstehende Leiden ankündigt, gibt er zu erkennen, dass er entschlossen ist, es auf sich zu nehmen. Er nimmt auf sich, was ihm bevorsteht, und er tut es aus freiem Willen. Dieser Wille ist, wenn man denn schon so sprechen möchte, der eigentliche heilvolle Sachverhalt, die „Heilstatsache“. Im Willen Jesu verwirklicht sich Gottes gütiges Wollen (Eph 1,11; Hbr 6,17). Mehr möchte ich zu dieser Sache heute nicht sagen.
Worum es mir geht, das sind nun eben die Worte am Ende unseres Textes, jene stark betonte Mitteilung des Evangelisten, dass die Jünger nichts verstanden haben, buchstäblich kein Wort, dass ihnen der Sinn der Rede „verborgen“ war und sie nicht „wußten, was das Gesagte war“. Die Jünger konnten nicht auffassen, was Jesus ihnen sagte; der Sinn seiner Rede blieb ihnen verschlossen; und es blieb ihnen verborgen, was er ihnen mitteilen wollte, weil seine Rede sie nicht erreichte. Sie werden vom Klang her gehört haben, was er sagte, doch war es ihnen unmöglich zu erfassen, welche Bedeutung seine Worte hatten.
Es geht hier offensichtlich um ein ganz grundsätzliches Nichtbegreifen. Die Jünger haben keinen Zugang zu den Worten Jesu, und zwar deshalb nicht, weil sie sie „von außen“ hören. Dieser Zugang „von außen“ ist derjenige des Verstehens. Sie können nicht verstehen, und werden es auch in Zukunft nicht können, weil es auf diese Weise, auf die Weise des verständigen Begreifens, keinen Zugang gibt. Verurteilen werden wir sie deshalb nicht, wissen wir doch, dass es schließlich erst die Auferstehung Jesu und die Gabe des Heiligen Geistes waren, die die Herzen der Jünger aufgeschlossen und verändert haben (Luk 24, 32). Es ist eine elementare Blindheit, mit der diejenigen geschlagen sind, die Jesu Worte von dem bevorstehenden Leiden „verstehen“ wollen.
Die Jünger verstehen angesichts der Leidensankündigungen auch nicht irgend etwas anderes. Sie missverstehen Jesus also nicht etwa, sondern sie fassen überhaupt gar nicht auf, was er sagt. Und so ist es auch heute, wie überhaupt zu allen Zeiten. Das Tun Jesu, das sich hier anbahnt und im Wort schon vorweggenommen wird, entzieht sich dem Ordnungsmuster, mit dem wir die Dinge der Welt wahrnehmen und uns zuhanden machen. Dieses Nichtverstehen wird erst am Ende der Zeit aufgehoben werden; es gehört vielmehr in die Ordnung der Welt hinein, bildet ihr Gefüge ab und lässt sich aus ihr selbst heraus nicht überwinden.
Der Glaube spricht eine andere Sprache. Zu seinem Glauben gekommen ist man, wenn man von ihm sprechen kann. Das setzt voraus, dass man sich in ihm einwohnt. Sich „einzuwohnen“ ist ein Vorgang, der dauern kann. Man bildet sich selbst hinein in die Dinge des Glaubens, seine Formen, sein Vokabular und seine Inhalte. Dies bedeutet aber, dass man sie sich zueignet. Gefühle und Ahnungen, Vorstellungen, Geschichten und Bilder sind hier am wichtigsten. Wir könnten geradezu sagen: Man bildet sich seinen Glauben ein, in dem Sinne, dass man das, was man vorfindet – was an einen „überliefert“ wird –, sich zueignet. Einwohnung heißt, der Glaube wird zu einem heimischen, guten Ort, und anders kann es gar nicht sein, wenn der Glaube wirklich aus dem Innersten meiner selbst erwächst. In diesen Bildern und Geschichten lebt der Glaube. In ihnen lebe ich mit meinem Glauben.
Zu solchen Inhalten des Glaubens gehört auch der ganze Komplex des Leidens und Sterbens Jesu. Hier gilt nun ganz besonders, was für alle Glaubensvorstellungen und Glaubensformen gilt: Was sich herstellen muss, ist die Kraft, aus eigener Überzeugung heraus zu sprechen. Und das ist nur möglich, wenn man nicht mehr unselbständig ist. Wenn einer weiß, weshalb er das Zeugnis gibt, und es in diesem Bewusstsein auch geben will, dann erst ist es sein Glaube.
Mit anderen Worten: Die Passionszeit, vor der wir nun wieder stehen, handelt von Dingen, die den Kern unseres Glaubens betreffen. Inwiefern diese Dinge uns umtreiben und welche Einstellung wir zu ihnen einnehmen, welche Gefühle und Vorstellungen sie bei uns auslösen, all das gibt Auskunft über die Gestalt unseres Glaubens. Inwiefern sie das tun, wie wir selbst sie für uns auffassen und uns also zum Heil werden lassen, das eben ist genau das, worum es im Glauben geht. Und zwar im Glauben schlechthin und in jeder seiner Bestimmungen.
Zu einer wirklichen Teilhabe an der Wirklichkeit des Glaubens kommt erst, wer damit beginnt, eigene Schritte zu tun. Wir lassen an uns heran und setzen uns dem aus, was hier als Geschehen berichtet wird. Vor allem geht es darum, eine eigene Haltung dazu einzunehmen. Das kann auf die verschiedenste Weise geschehen; jeder wird dabei seinen eigenen Weg finden, sei es mehr im Nachempfinden, im schlichten Hören, im Mitfühlen und Dabeisein oder auch im Nachdenken und Überlegen. Dieser Weg, wie immer er im einzelnen aussieht, ist der Weg des Glaubens, und ihn zu beschreiten bleiben wir, wie auch die Jünger in jener Situation, bis zum Ende unserer Tage aufgefordert.
Amen.
1 I Nach François Bovon: Das Evangelium nach Lukas. Dritter Teilband (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band III/3), Düsseldorf und Zürich / Neukirchen-Vluyn 2001, S. 252 (dort auch das Zitat).
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist in einen „normalen“ Sonntagsgottesdienst mit traditionellem liturgischem Ablauf und kirchenjahreszeitlicher Besonderung eingebettet, zu dem sechzig bis achtzig Teilnehmer (darunter auch Konfirmanden) erwartet werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
„Beflügelt“ (zu einem konsequent eigenen Gedankengang ermutigt) hat mich, dass mir von Anfang an klar war: Es geht nicht um einer Erklärung der „Heilsbedeutung“ von Leben und Sterben Jesu.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In ihren Unzulänglichkeiten, ihren Sorgen, Nöten und Ausflüchten fühle ich mich den Jüngern nahe. Diese „Entdeckung“ ist zwar schon älter, aber jetzt noch mal bestätigt worden.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die diversen Hinweise waren hilfreich und sind von mir nahezu sämtlich akzeptiert worden. Die Predigt wurde dadurch länger, aber im ganzen wohl auch zugänglicher.