Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Am Zweiten Weihnachtstag ist Weihnachten anders. Wir betrachten es heute sozusagen bei Licht, nicht mehr in Kerzenschein und stimmungsvolle Dunkelheit getaucht. Wir können das Fest nüchterner und überlegter angehen, die Gefühle sind nicht mehr so stark wie am Heiligen Abend – jedenfalls geht es den meisten so. Einen großen Teil von Weihnachten haben wir schon hinter uns. Wie ist es diesmal gewesen: Schön und erfüllend? War jemand enttäuscht? Gab es Streit oder Spannungen, die uns noch nachhängen? Sind wir traurig, dass der Besuch nun wieder weg ist? Oder gehen wir nach diesem Gottesdienst noch zu jemandem, den wir besuchen wollen? Vielleicht richtet sich der Blick auch schon auf die nächsten Tage, die hoffentlich ruhiger werden. Das Jahr geht bald zu Ende, vielleicht sind wir auch schon dabei, es in Gedanken abzuschließen und Bilanz zu ziehen.
Heute am Zweiten Weihnachtstag können wir das Christfest bei Licht betrachten und uns fragen: Was bleibt von Weihnachten? Dazu will uns der heutige Predigttext anregen, der am Anfang des Johannesevangeliums steht. Dort heißt es:
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.
Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hieß Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.
Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
(Joh. 1,1-14)
Die Bibelverse klingen. Sie sind ein Lied, ein Gedicht. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.“ „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ Die Verse klingen in mir, in uns nach und lassen Bilder in uns aufsteigen. Sie erinnern an die Schöpfungsgeschichte, als Gott sprach: „Es werde Licht“ – und es wird Licht (Gen.1,3). Sie erinnern auch an Goethes Faust, der mit der Übersetzung des „Wortes“ kämpft, was im griechischen Urtext Logos heißt: Über der Wiedergabe mit „Sinn“ landet Dr. Faustus schließlich bei der „Tat“. Das hat allerdings nichts mehr mit dem eigentlich gemeinten „Wort“ zu tun!
Die Verse fassen das in Worte, was zu Weihnachten geschieht, dass Gott zu uns Menschen kommt. Das sind nicht die vertrauten Worte aus der Weihnachtsgeschichte des Lukas, aber sie wollen dasselbe ausdrücken, was Lukas mit der Geschichte vom Stall und von den Hirten erzählt: Gott wird einer von uns.
Wenn ich diesen Anfang des Johannesevangeliums lese oder höre, erscheint es mir rund und vollständig. Ein Glied greift wie bei einer Kette ins andere, egal wo wir anfangen oder aufhören. Es ist perfekt. Wir können diese Verse auch mit einem Kiesel vergleichen, den das Wasser glatt geschliffen hat. Er hat keine Ecken und Kanten mehr, keine Brüche. Der Kiesel liegt rund und glatt in der Hand – so wie diese Bibelverse.
Wo können wir ansetzen, um tiefer in sie einzudringen, um sie uns zu eigen zu machen? Die Verse sind um bestimmte Worte gewachsen, die Urworte des Glaubens sind. Ich nenne einige davon: Wort, Gott, Licht, Finsternis, Welt, Herrlichkeit. Diese Worte bleiben im Ohr und spannen den Horizont auf, innerhalb dessen wir uns bewegen. Wort, Gott, Licht, Finsternis, Welt, Herrlichkeit, das sind die tragenden Worte dieses großen Liedes vom Anfang.
Das Wort ist zu Beginn bei Gott, so heißt es. Mit dem Wort ist Jesus Christus gemeint. Er kommt zu Weihnachten in die Welt hinein, er kommt auf die Erde, und wird ein Mensch. Der Sohn Gottes bleibt nicht im Himmel, sondern hat einen Körper so wie wir, er ist aus Fleisch und Blut. Damit gibt Gott seine Hoheit auf und wird einer von uns. Jesus wird wie jeder Mensch von einer Frau geboren, die nach neuen Monaten unter Schmerzen das Kind in die Welt hinaus bringt. Das Neugeborene trinkt die Milch seiner Mutter wie jedes Kind, es wächst und wird größer, es lernt laufen und fällt dabei hin, es lernt allmählich das Sprechen, später lesen und schreiben. So wird das Kind zum Jugendlichen und dann erwachsen; am Schluss stirbt es einen zu frühen Tod. Im Großen und Ganzen ein normaler Lebenslauf.
Aber dieses Kind, dieser Mann ist etwas besonderes, weil er Gottes Sohn ist, so glauben wir. In ihm kommt Gott in unsere Welt. Gott gibt den Abstand auf, den er immer zu uns Menschen gehalten hat. In den frühen Texten der Bibel heißt es: Wer das Angesicht Gottes sieht, muss sterben. Das ist jetzt anders geworden. In Jesus zeigt sich Gott und die Menschen, mit denen er umgeht, können ihn sehen, ohne Schaden zu nehmen. Sie sehen und fassen ihn an, und er sieht sie an und berührt sie, wenn er ihnen die Hände auflegt, um sie zu heilen. Gott ist nicht mehr verborgen und weit weg, sondern mittendrin. Er ist sich nicht zu schade, Menschen anzurühren, die krank sind, oder mit denen zu essen, die sonst jeder meidet, weil sie Außenseiter sind.
In Jesus lässt Gott sich sogar auf unsere Sterblichkeit ein. Jesus erlebt, was Todesangst ist und zittert vor dem Tod wie wir. Er leidet körperliche Schmerzen, als er von den Soldaten geschlagen und gefoltert wird. Er wird ausgelacht und lächerlich gemacht. Am Schluss quält er sich, bis er endlich sterben kann, und kein Engel kommt, um ihn zu retten. - Schmerzen und Tod erleben wir auch. Die meisten von uns nicht so schrecklich wie Jesus, aber wir wissen, wie viele Menschen auf der Welt gefoltert werden und gewaltsam sterben – denen ausgeliefert, die Macht über sie haben. Gott erspart Jesus nichts, er erspart sich selbst nichts.
So können wir uns an Gott wenden und bei ihm Zuflucht suchen, wenn wir Angst haben, wenn wir Schmerzen leiden oder es ans Sterben geht. Gott geht da mit. Wir sind nicht auf uns allein gestellt in diesen extremen Augenblicken und Zeiten, weil Gott an unserer Seite ist. Er kennt all das, was uns schmerzt und ängstigt, und lässt uns dabei nicht allein.
Gott kommt in Bewegung und macht sich auf in unsere Welt. So geschehen in einer Heiligen Nacht vor über 2.000 Jahren, und das wird jedes Jahr wieder von neuem aktuell. Das mag und soll für uns ein Anstoß sein, uns auch zu bewegen. Hinzugehen zu anderen und das, was sie umtreibt, mit ihnen zu teilen. Das können Menschen in der Familie und im Freundeskreis sein, aber auch Menschen, die wir noch gar nicht kennen.
Ich möchte Ihnen von einer Bekannten erzählen, die sich für das nächste Jahr ein besonderes Engagement vorgenommen hat. Sie steigt aus ihrem Beruf aus und bezieht in einem Dorf ein großes altes Haus mit Garten, in dem sie Flüchtlinge aufnehmen will. Sie tut das nicht alleine, sondern zusammen mit einem Verein. Das Haus soll eine Herberge werden für Menschen, die keine Papiere haben oder Kirchenasyl suchen. Sie will mit ihnen gemeinsam leben, den Garten bebauen und ihnen dabei helfen, unsere Sprache und unsere Lebensgewohnheiten zu lernen.
Ich finde dieses Projekt mutig und wegweisend. Nicht jeder von uns kann sein Leben so verändern, dafür braucht es den richtigen Zeitpunkt, die richtigen Menschen, die mit einem gehen, und eine konkrete Aufgabe. Wie gut, dass es Menschen gibt, die so etwas anfassen und sich engagieren! Sie tragen dazu bei, Flüchtlingen hier in Deutschland ein Zuhause zu schaffen und sie aufzunehmen. Ich meine, sie brauchen und verdienen Unterstützung von anderen, sei es durch das Bereitstellen von Dingen des täglichen Lebens wie Bettwäsche und Geschirr, durch Mithilfe in Haus und Garten oder durch Geldspenden. So kommt etwas in Bewegung in der Beziehung zwischen Menschen, die einander bisher fremd waren.
„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit“, heißt es in unserem Bibeltext. Gottes Herrlichkeit sehen wir in den Engeln, die uns jetzt zu Weihnachten so oft begegnen; sie sind von Licht umflossen, ihr Glanz lässt uns eine andere Welt ahnen. Herrlich ist es auch, wenn Menschen sich begegnen und einander verstehen jenseits aller Sprachbarrieren. Wenn sie zusammen singen, essen, spielen und tanzen.
So wünsche ich Ihnen, dass Sie in diesen weihnachtlichen Tagen Spuren von Gottes Herrlichkeit entdecken. Amen.