Gott bleibt da und trägt alle dunklen Tage mit
„Da hätten wir doch drauf kommen müssen!“
So sagen wir, liebe Gemeinde, wenn uns eine Sache erst im Nachhinein aufgegangen ist oder wenn wir erst später gemerkt haben, wie es sich wirklich verhält.
Eigentlich hätte ich doch wissen müssen, dass ich dieser Person nicht vertrauen kann. Wie sehr habe ich mich doch blenden lassen. Wenn ich heute an manche Gespräche denke. Wie bin ich doch so naiv gewesen?
Eigentlich ist die Klausur gar nicht so schwer gewesen. Aber ich habe einfach zu kompliziert gedacht, bin einfach zu hektisch und zu kurzsichtig geblieben. Jetzt wo ich die Lösung weiß, sehe ich die Aufgabenstellung in einem ganz anderen Licht.
Und eigentlich hätte ich schon längst merken müssen, dass etwas mit meinem Körper nicht stimmt. Aber ich habe die Zeichen einfach ignoriert und gedacht, es ist doch bis jetzt auch alles gut gegangen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass meine Schmerzen richtige Alarmsignale gewesen sind.
Manchmal kommen wir wirklich nicht darauf, weil wir zu sehr in unseren eigenen kleinen Gedanken gefangen sind oder weil wir davon ausgehen, dass es keine andere Sicht der Dinge geben kann als unsere eigene.
„Da hätten wir doch drauf kommen müssen!“
So haben auch Menschen über die Person geredet, von der in diesem alten Text die Rede ist. Als sie so sprechen, da ist es schon einige Zeit her, dass sie an seinem Grab gestanden sind.
Damals haben sie noch gedacht: Wer hat ihn schon ernst genommen? Wer hat seinen aberwitzigen Worten Glauben geschenkt? Wer kann man nur so eine absurde Meinung haben? Niemand!
Und wie er ausgeschaut hat? Keine Erscheinung mit der man Wahlen gewinnt.
Er hat so gar nicht zu uns gehört. Es geschieht ihm ganz recht, dass er sein Grab außerhalb unserer Glaubensgemeinschaft bekommt, draußen bei den Gottlosen.
Aber später ist ihnen nach und nach aufgegangen: Er hatte Recht. Und wie! Wir konnten einfach nicht glauben, dass seine Worte gelten. Wer konnte schon darauf kommen, dass der Sturz der großen Weltmacht Babylon bevorsteht? Und dass Gott mit uns, nach der großen Katastrophe, fern der Heimat, einen neuen Anfang machen möchte?
Und wir hatten unsere ganze Enttäuschung darüber, dass wir unser Hab und Gut verloren haben und wir in der Fremde einfach nicht heimisch werden, an ihm herausgelassen, so wie man sich in der Klasse einen aussucht, an dem man alle Ernüchterung ablädt oder im Ort über den herzieht, der andere Ideen und eine andere Meinung hat.
Wir haben ihm sogar noch so übel mitgespielt, dass er krank geworden ist. Und dabei hat er uns mit seiner Hoffnung, dass Gott auch in allen Umbrüchen und Veränderungen da ist und da bleibt, Mut gemacht, durchzuhalten. Und mit ihm hat ja auch tatsächlich schon etwas von dieser vorausgesagten Zukunft begonnen. Aber wir haben es einfach nicht begriffen.
Jetzt unerklärlich, dass der, der da draußen liegt und dessen Grab man schon gar nicht mehr ausmachen kann, so behandelt, so abgelehnt und so verachtet wurde.
„Da hätten wir doch drauf kommen müssen!“
So haben die ersten Christen gedacht, als sie nach einiger Zeit auf diesen schlimmen Karfreitag zurückgeschaut haben.
Damals haben sie noch nicht verstanden und nur gedacht: Unfassbar. Wir finden einfach keine Worte für das, was passiert ist. Zu welchen Ausmaßen von Gewalt doch Menschen fähig sind. Und keiner schreitet ein, stoppt diesen Wahnsinn.
Weil diese letzten Tage Jesu in Jerusalem so unwirklich gewesen sind, haben sie nach einem Grund gesucht. So wie man heute auch bei Ereignissen, die einfach keinen Sinn ergeben, grübelt, weil man sie einfach nicht so stehen lassen kann und möchte. Und weil man alles Sinnlose nur schwer aushalten kann, sagt man: „Naja, für irgendwas wird es schon gut gewesen sein.“ Aber ein echter Trost ist das nicht.
Auch der Tod Jesu muss doch für etwas gut gewesen sein. Viele haben es nicht ausgehalten, dass es am Ende so schlimm gekommen ist. Das kann doch nicht sein, dass das Leben von dem, der doch so gut gewesen ist und den Menschen so unmittelbar von Gott erzählt hat, so schrecklich geendet hat.
Es ist für die Geschichte des Christentums wegweisend geworden, dass man nach dem Tod Jesu nach möglichen Hinweisen gesucht hat. Und man ist auch auf Antworten gekommen. Eine davon haben sie in diesem alten Text aus dem Buch des Propheten Jesaja gefunden, wo von einer Person ist, von der man eigentlich gar nichts weiß, außer dass sie von diesem Neubeginn Gottes mit seinen Menschen gesprochen und keiner ihr zu deren Lebzeiten Glauben geschenkt hat.
Genau dort, vor mehr als 500 Jahren, ist schon beschrieben, wie sie es jetzt mit Jesus gemacht haben. Schon damals soviel Unrecht an einem, bei dem man kein Unrecht entdecken konnte.
Und eigentlich hätten wir dieses schlimme Ende, das Jesus erlitten hat, verdient, weil wir irgendwie doch auch mitgeholfen haben, dass er nicht mehr bei uns ist. Eigentlich hätte es mit uns so enden müssen, weil wir ihm nicht geglaubt haben, weil wir uns auf und davon gemacht haben, zu feige gewesen sind und weil wir allem schlimmen Treiben nicht Einhalt geboten haben.
Um die Gedankengänge von damals zu verstehen, muss man wissen, dass es zu dieser Zeit gängige Auffassung gewesen ist, dass das Böse durch Blut aus der Welt geschafft wird. Das war bei den alten Griechen nicht anders als bei irgendwelchen Völkern anderer Erdteile. Auch im Alten Bund Israels ist es so gewesen.
Dazu ist jedes Jahr das Volk am "Jom Kippur", am großen Versöhnungstag zusammengekommen. Der Hohepriester hat ein Tier geschlachtet, ist in das Heiligtum gegangen und hat gesagt: "Ja, Gott, das Maß ist wieder voll. Sieh dieses Opfer gnädig an und gib uns einen Neuanfang mit dir zu leben." Und danach hat er einen Ziegenbock genommen, hat ihm die Hand aufgelegt und hat gesprochen: "Alles Böse lege ich auf dich drauf." So hat er ihn zum Sündenbock gemacht und hat ihn hinausgejagt aus der Stadt. Das Böse ist raus aus der menschlichen Gemeinschaft.
Die Menschen haben sich gefragt: Ist es beim Tod Jesu nicht ebenso gewesen? Und heißt es nicht im Buch des Propheten Jesaja: „Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (V.5). Einer leidet und stirbt für andere, nimmt somit alle Schuld auf sich und schafft damit das Böse aus der Welt. Und alles ist wieder gut.
Liebe Gemeinde, alle Erklärungen und Deutungen haben auch ihre Zeit. Und man muss immer wieder neu drauf kommen, wie man heute verantwortlich von dem, was damals am Karfreitag geschehen ist, sprechen kann.
Denn gerade diese Deutung von dem stellvertretenden Leiden und Sterben hat auch eine fatale Wirkungsgeschichte in Gang gesetzt.
Nicht nur das Leiden und Sterben Jesu hat man so verstanden: Jesus musste sterben, weil die anderen so schlecht sind. Man hat auch noch so gesagt: „Du und deine Sünden haben Jesus ans Kreuz gebracht.“ So wurde über Jahrhunderte Konfirmanden und Schüler vorgehalten. Zu Recht fragen sie heute: Warum soll ich für etwas verantwortlich sein, was vor hunderten vor Jahren geschehen ist? Und die von der Kirche sind ja auch nicht besser. Nicht nur die Missbrauchsfälle, die in den vergangenen Jahren aufgedeckt worden sind, machen deutlich, dass wir viel behutsamer und viel feinfühliger mit der Schuldfrage umgehen müssen.
Ich glaube nicht, dass man heute noch so von Gott sprechen kann, dass er - man kann es umschreiben, wie man möchte - in irgendeiner Form mit Blut besänftigt werden muss. Wie soll man in Hospizen oder bei Trauergesprächen, in denen es um einen vorzeitigen Abschied geht, einen Gott nahe bringen, dem die Menschen zwar am Herzen liegen, der aber bewusst und willentlich den Tod seines eigenen Sohnes in Kauf nimmt? Und was würde der Glaube an einen Gott, der zwar die Menschen liebt, aber den eigenen Sohn grausam dahingibt, auch für einen Trost geben? Wer könnte da sicher sein, ob er Gott auch wirklich recht ist oder ob Gott irgendwann doch genug mit einem hat?
Alle, die sagen, dieses Sterben ist ein göttlicher Plan gewesen, vergessen, dass das grausame Sterben am Kreuz Menschen besorgt haben und nicht Gott. Ich bin mir sicher: Gott hätte diesen Tod nicht gebraucht.
Denn Jesus hat schon längst mit seinem Leben gezeigt, dass er auf der Seite der Menschen steht. Mit seiner Zuwendung zu all den Mühseligen und Beladenen, die ohne Hoffnung sind und an ihrem Leben leiden, hat Jesus längst deutlich gemacht: Es ist Gottes großes Bedürfnis, dass Menschen wieder den Mut bekommen, den sie brauchen.
Und die Tatsache, dass Jesus sich mit all den Gestrandeten zusammengesetzt, gegessen und gefeiert hat, macht deutlich, dass es einfach Gottes unabdingbarer Wille ist, Menschen trotz all ihrer Schwächen zu fördern und nicht ständig aufzurechnen oder vorzuhalten, was sie wieder alles nicht geschafft haben und deshalb mit dem dicken Ende zu drohen.
Der Tod Jesu am Kreuz ist die unausweichliche Folge seines Lebens und seiner Zu-wendung zu den Armen und Schwachen gewesen. Dass Jesus auf sie zugegangen ist, war mehr als ein Hinweis, dass sie Gott recht sind.
Man ist auch erst später drauf gekommen, dass Jesus weg musste, weil er die religiös Verantwortlichen einfach gestört hat: Er hat es gewagt den gängigen religiösen Tempelbetrieb in der Hauptstadt Jerusalem zu kritisieren. Und viele haben es nicht ertragen, dass er so unmittelbar von Gott gesprochen hat, dass auch die Armen und die, die immer wieder an den religiösen Forderungen scheitern, sich angenommen fühlen konnten. Nicht mit dem Hinweis auf das Einhalten von Gesetzen und Vorschriften kann man die Menschen ändern, sondern indem man ihnen eine Welt vorlebt, in der man sich wie zu Hause empfinden kann.
Liebe Gemeinde, auf welche Zusammenhänge man kommt oder nicht. Der Karfreitag geht nicht auf. Niemand kommt ganz darauf, warum er damals so und nicht anders abgelaufen ist. Und keiner kann diesen schweren Tag mit einer schlüssigen Logik erschließen. Auf alle Fälle glaube ich nicht daran, dass am Karfreitag ein göttliches Schauspiel inszeniert worden ist, das sagt: Jemand musste sterben werden, damit andere leben.
Wer Bilder von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Kiew oder Kairo im Blick hat, in denen Menschen, die friedlich für bessere Zustände eintreten und dann ins Zielfeuer von Scharfschützen genommen werden, kann nicht damit Hof halten, dass Gott irgendeine Form von stellvertretendem Leiden gut heißen kann.
Was für mich von dem alten Bericht aus dem Buch des Propheten Jesaja, der so viele Kreise gezogen hat und so viele Pfarrerinnen und Pfarrer unterschiedlicher Generationen angeregt hat, bleibt: Gott ist da und er bleibt da, wenn jemand etwas Schlimmes erleiden muss. Er geht alle Wege mit, auch die ganz dunklen und bitteren. Er trägt „unsre Krankheit“ und lädt auf sich „unsre Schmerzen“ (V.4a). Und es ist auch sein Leid, wenn etwas ganz anders verläuft, als gedacht, wenn jemand vorzeitig gehen muss oder wenn etwas passiert, was niemand auf der Rechnung hatte.
Gott ist alle Wege dieser unbekannten Person, von der unser Schriftwort erzählt, mitgegangen, die nicht mehr erleben konnte, wie andere froh geworden sind. Die auch nicht mehr daran teilnehmen konnte, wie sie in ihre Heimat gezogen sind, wie es ein Wiedersehen mit den Familien gegeben hat. Nach all dem, wie sie sich eingesetzt hat und wie sie die Hoffnung aufrecht gehalten hat, hätte sie es verdient gehabt, diesen Neubeginn mitzuerleben.
Gott hat auch diesen schlimmen Karfreitag mitausgehalten und hat sich nicht aus der Welt drängen lassen. Er ist geblieben und hat allem Bösen standgehalten und ein Gegengewicht gesetzt. Erst nach Ostern ist man darauf gekommen.
Und auch all unsere Tage, die uns wie ein Karfreitag vorkommen, sind Zeiten, an denen Gott bei uns ist und bleibt, auch wenn wir vielleicht erst später Spuren seiner Gegenwart erkennen.
Und der Gott, der nicht von unserer Seite weicht, möge all unsere Hoffnungen und alle Zuversicht, die sich gerade an dunklen Tagen durchscheint, bewahren.
Amen.