Gott ein Gesicht geben - Predigt zu Jesaja 49,13-16 von Stefan Henrich
49,13-16

13 Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.
14 Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.
15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.
16 Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.

Liebe Gemeinde,

der ungarische Schriftsteller Sándor Márai hat Anfang 1945 in seinen Tagebuchnotizen einen Eintrag hinterlassen, in dem er davon spricht, „Gott keinerlei Gesicht geben zu können.“ Er wisse, „dass es Gott gibt“, er „nehme ihn in allem wahr wie das Leben“, aber, so Márai weiter: „Zu ihm sprechen kann ich nur mit ganz einfachen Worten wie zu einem Tier oder einem Kind; wenige Worte genügen ihm, um zu verstehen.“ (Sándor Márai, Unzeitgemäße Gedanken, Tagebücher 2, München 2009, S. 66)

Die Situation, in der Sándor Márai schreibt ist Folgende: Ende 1944 hat er in der Nähe von Budapest in einem Dorf  Zuflucht gefunden. Budapest ist hart umkämpft. Die Stadt wird in großen Teilen zerstört und doch befreit von der Deutschen Besatzung.
In der Zuflucht von Sándor Márai haben sechzehn russische Soldaten Quartier genommen.
Einer der Soldaten, Hassan, ein Usbeke aus Taschkent, kocht aus einem Ochsenschädel Sülze und erzählt während des Kochens ausführlich und verträumt von seiner Heimat. Während er berichtet, entsteht vor Sandor Marais geistigen Auge ein paradiesisches Bild: „Taschkent sei am schönsten, sagt Hassan, weil dort Licht brenne, es in den Häusern im Sommer sehr warm sei und in der Nähe seiner Wohnung warmes Wasser aus der Erde hervorquelle.“ „Ich“, schreibt Sándor Márai, „mache  Hassan darauf aufmerksam, dass all das im letzten Sommer auch für Budapest noch zutraf; er blinzelt jedoch zweifelnd.“  (S.66)
      
Liebe Gemeinde,
warum diese ungarische Erinnerung aus dem Krieg so kurz nach Weihnachten in diesem Gottesdienst zu diesem Predigttext aus dem Propheten Jesaja? Weil die Situation  ganz anders ist und doch ähnlich.

Jesaja kommt mit Bildern und Sätzen, die Gott im Gefüge der Welt in Frage stellen und doch universell preisen für alle seine Taten der Erlösung.
Da ist einerseits der wirklich grenzenlose Jubel über die Befreiung des Volkes Israel aus der Babylonischen Gefangenschaft und andrerseits heult die Klage Zions auf: „Du, Gott, hast mich verlassen und vergessen.“
Zion ist Jerusalem, Jerusalem ist zerstört, die Mauern sind geschleift, aber da ist doch Zukunft und Wiederaufbau möglich, die Risse werden dicht gemauert und die Wunden geheilt werden. Deshalb sollen die Himmel jauchzen und die Erde soll sich freuen, Berge sollen jubeln, in verwüsteten Gärten und auf schlaglöchrigen Straßen soll Frohlocken erklingen. Warum? Weil Gott sein Volk getröstet hat und sich seiner Elenden erbarmt, so sagt es Jesaja.
Ach rede du nur, sagen die in den Bruchtrümmern der eigenen Existenz Sitzenden. Verlassen und vergessen hast du mich, du hast dein eigenes Zelt zerwühlt wie einen Garten, in Zion hast du, Gott, das Heiligtum entweiht, und die Mauern der Paläste in des Feindes Hand gegeben. (vgl. Klagelieder 2, 6ff.)
So scharf können die Bewohner Jerusalems klagen. Gut ist, dass Wut und Zorn raus kommen. Im Gebet findet die Klage nicht nur ihr Ventil sondern auch ihren Adressaten. Gott antwortet, in einem Argumentationsbild, dass zeitlos ist, jetzt und damals und immer.

Gott bekommt ein Gesicht, das Gesicht einer Mutter.

Kann eine Mutter vergessen das Kind ihres Leibes?
Nein, so lautet doch die erste Antwort und dann erst beim zweiten Gedanken fallen Szenen ein von den Kindern, deren Eltern in meist allergrößter Notlage sich nicht mehr kümmern konnten um sie, die sie doch lieben wollten und das nicht konnten. Doch, das gibt es, dass Mutter oder Vater die Kinder verlassen, aber ob sie ihrer vergessen können?
Und wenn es doch so wäre, dass Eltern ihre Kinder vergessen, so will ich, sagt Gott, dich Zion nicht vergessen. Ich habe dich wie mit Henna in meine Hände gezeichnet, habe dich in mein Herz geschrieben und auf meine Haut tätowiert. Deinen Mauern sollen mir Schutzzeichen sein, felsenfest unverbrüchlich gilt meine Liebe dir wie die Liebe der Mutter, die ihr Kind nie und nimmer vergisst.

Poetisches Zwischenspiel:
Sarah Kirsch, die in diesem Jahr verstorbene wunderbare Dichterin, hat ganz untypisch für sie in einem Mutterbild einer nachhause leuchtend hoffenden Liebe das Wort gegeben:

Seestück

Ich bin die
Mutter der auf dem
Meer segelnden
Söhne warte am
Strand mit den
Zündhölzern in der
Schürzentasche.

(aus: Sarah Kirsch, Bodenlos: Gedichte
Stuttgart 1996, S.13)

Zugrunde liegt die Geschichte der Seemannsfrauen, die oft monatelang auf die Heimkehr der Männer und Söhne warteten und in Ermangelung des Leuchturms an heimischen Stranden das Licht in die Nacht setzten einem Leuchtfeuer gleich. Und gleichzeitig erinnern die Zündhölzer und die Schürzentasche an das 1845 in Flensburg geschriebene Andersen-Märchen von dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern, das aus eben einer Schürze holend Licht um Licht entzündet, um der Kälte dieser Welt zu entkommen.

Doppelbödig ist nicht nur die Bibel, zur Tiefe des Himmels hin offen ist auch die Poesie.

Wie hieß es zu Weihnachten noch?
Das Volk, das im Finstern wandelt...

Zurück zu Sándor Márai, und zu der Eingangsäußerung von ihm, die er schreibt Anfang 1945:
„Ich weiß, dass es Gott gibt, ich kann ihm jedoch keinerlei Gesicht geben.(...) Zu ihm sprechen kann ich nur mit ganz einfachen Worten wie zu einem Tier oder einem Kind.“
Ich bin geneigt zu ergänzen: Oder wie zu einer Mutter, denn wenige Worte genügen auch und vor allem ihr, um zu verstehen.

Das Kind, die Tiere, die Mutter... Ohne dass es Absicht war, sind wir in weihnachtliche Fahrwasser geraten. Es scheint, als leuchte die Stallszene auf in schönster Tiefe mit Bildern für Gott, die Tiefenschichten erreichen. Glaube an Gott, der sich in der Nachfolge bewährt, der gekreuzigte Christus als Kind, und Gottvater ganz mütterlich, welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes!

Zum Schluss:
In der Vorbereitung auf Weihnachten hatten wir im Haus auch den Kalender vom „Anderen Advent“.
An einem Tag war eine Erinnerung des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief unter dem Titel Weihnachtsfreude zu lesen:

„Aber dann sind mehrere schöne Dinge passiert. Es fing an am ersten Feiertag, da hatte ich ein wunderbares Erlebnis mit meiner Mutter. Nach dem Frühstück musste ich plötzlich mit den Tränen kämpfen. Da fragt sie, die kaum aus dem Rollstuhl kommt: ‚Soll ich rüberkommen? Ich komm rüber, warte, warte.‘ Da bin ich natürlich aufgestanden, zu ihr auf die andere Seite des Tisches gegangen, habe mich neben sie gesetzt und den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Als sie dann meine Hand nahm, konnte ich die Tränen laufen lassen. Aber vor allem konnte ich endlich all die Dinge aussprechen, die mir eine solche Last waren. Ich konnte ihr erzählen, dass ich all die Jahre so viel Kraft gelassen habe, erzählen, wie anstrengend das für mich war, immer wieder Optimismus und Lebensfreude verbreiten zu wollen, dafür sorgen zu wollen, dass die Dinge schön sind. All das sagen zu können, endlich auch sagen zu können, dass ich das so nicht mehr will, hat so gutgetan, ich kann‘s gar nicht beschreiben. Es setzte ein großes Gefühl der Entspannung ein. Meine Mutter wusste zwar irgendwann gar nicht mehr, worüber wir gesprochen hatten, aber für mich war dieses Gespräch mit ihr ein Weihnachtswunder.“
(in: Der andere Advent 2013/14, Andere Zeiten e.V. Hamburg, zum 04. Dezember)
 
Amen

Lieder: Vor der Predigt EG 47: Freu dich Erd und Sternenzelt, danach: Es ist ein Ros entsprungen EG 30, dazu EG 39, 1-5, EG 37, 1-4,  EG 35 und EG 44

 

Perikope
29.12.2013
49,13-16