Liebe Gemeinde,
die kleine Mona liegt im Bett und will nicht einschlafen. Sie schluchzt, obwohl ihre Mutter bei ihr am Bett sitzt und ihr gute Nacht sagt. „Mama, wo ist Buffi?“, fragt Mona jämmerlich und ist todunglücklich. Buffi ist Monas Teddybär, ohne Buffi im Arm kann sie nicht einschlafen. „Ja, wo ist Buffi denn nur“, überlegt ihre Mutter und guckt sich im Kinderzimmer um. Ihr Blick wandert über das Regal, auf dem die Spielsachen ihrer Tochter aufbewahrt sind. Sorgfältig gleiten ihre Augen suchend über jedes einzelne Bord. Der Teddybär ist nicht dabei. „Warte ein klein wenig“, tröstet sie ihre kleine Tochter „Mama findet Buffi“. Sie erhebt sich vom Bettrand, geht suchend im Kinderzimmer umher. Im Regal ist der Teddy nicht, vielleicht in der Kommode oder im Schrank? Sie zieht die Schubladen der Kommode auf, durchstöbert den Schrank. Der Teddy bleibt verschwunden. Mona liegt still und friedlich in ihrem Bettchen, vertraut vollkommen der Mutter. Die Mutter wird ihren Buffi schon finden. Die Mutter sucht weiter, nimmt die Kissen auf der Kinderbank hoch. Auch hier ist der Teddy nicht. Vielleicht hat sie Buffi mit Monas T-Shirt und der Hose bedeckt, als sie ihre Tochter für die Nacht fertig gemacht hat. Sie sieht unter der Kleidung nach. Nein, auch hier ist Buffi nicht zu finden. Mona wird unruhig. „Mama, wo ist Buffi?“ fragt sie kläglich. „Ich weiß es nicht, mein Schatz, Mama muss weitersuchen“. Endlich entdeckt sie den verlorenen Teddy. Er lugt hinter dem Vorhang am Fenster hervor. „Hier ist dein Buffi“, sagt die Mutter freudestrahlend, greift nach dem Teddy und legt ihn ihrer Tochter in den Arm. Mona lächelt überglücklich. Liebevoll streicht ihre Mutter ihr über den Kopf „Schlaf gut, mein Liebling“ und verlässt das Kinderzimmer. Glücklich und zufrieden schläft Mona ein.
„Vom Suchen, finden und sich freuen“ erzählen die beiden Gleichnisse, die Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten vor Augen stellt. Es hat sich herumgesprochen, dass Jesus Sünder annimmt und mit ihnen isst. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die zu ihm gekommen sind, dulden das nicht. Ihrer Meinung nach verstößt Jesus mit seinem Verhalten gegen die Gesetze der Tora. Jesus stellt die Tora nicht in Frage, er hinterfragt das Bild, das sie von Gott haben.
Im ersten Gleichnis geht es um einen Hirten, der eines von seinen hundert Schafen verloren hat. Der Hirte macht sich auf die Suche, scheut keine Mühe und sucht solange, bis er es findet. Als er es gefunden hat, nimmt er es auf die Schulter und trägt es nach Hause zu den anderen neunundneunzig Schafen. Die Herde ist wieder komplett. Die Freude des Hirten ist groß. Erfreut läuft er zu seinen Freunden und Nachbarn. Sie sollen sich mit ihm freuen, dass er sein verlorenes Schaf wieder gefunden hat.
Im zweiten Gleichnis erzählt Jesus von einer Frau, die eine Drachme verloren hat. Eifrig sucht sie das Geldstück. Als sie es in ihrem dunklen fensterlosen Haus nicht finden kann, zündet sie ein Licht an, leuchtet jede dunkle Stelle aus, nimmt einen Besen zur Hand und fegt in allen Ecken. Endlich hört sie ein Klirren, die Münze kommt zum Vorschein. Beglückt nimmt sie die wieder gefundene Drachme in die Hand, teilt ihre Freude mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen.
Wer etwas wiederfindet, hat zuvor etwas verloren. Dem Finden geht ein Verlust voraus. Der Hirte hat ein Schaf verloren, die Frau eine Drachme. Das Schaf ist dem Hirten wichtig. Er lässt für das eine Schaf neunundneunzig andere zurück. Die Drachme ist der Frau wertvoll, sie setzt viel Energie dafür ein, dass sie diese eine Drachme wiederfindet. Warum ist dem Hirten das eine Schaf so wichtig? Warum der Frau die eine Drachme?
Das eine Schaf vermehrt kaum den Gesamtwert der Herde. Vielleicht möchte der Hirte nicht, dass ihm auch nur eines fehlt. Vielleicht gehört er noch zu den Hirten, die jedes einzelne Schaf kennen und eine Beziehung zu ihren Tieren haben. Solch ein Hirte ist unglücklich, wenn auch nur eines verloren geht. Solch ein Hirte ist in Sorge. Was kann dem Tier nicht alles passieren? Getrennt von der Herde wird es nicht überleben. Wilde Tiere werden es reißen, wenn er es nicht rechtzeitig findet. Womöglich hängt es in einer Felsspalte fest, kann sich aus eigener Kraft nicht befreien. Ein guter Hirte leidet mit, wenn auch nur einem einzigen Tier etwas zustößt.
Und wie ist es mit der einen Drachme? Der materielle Wert einer Drachme schwankte in der Antike. Stand die Drachme gut, ließ sich mit fünf Drachmen ein Ochse erwerben. Drohte eine Inflation, verlor die Drachme an Wert. Im alten Orient kann eine Drachme auch ein Teil der Mitgift oder des Brautschmuckes einer Frau sein. Der Frau ist die eine Drachme wichtig, sonst würde sie nicht so akribisch mit großem Aufwand suchen. Selbst wenn der materielle Wert der Drachme gering sein sollte, hat er ideelle Bedeutung. Das ist wie mit dem Teddybär des kleinen Mädchens, das ohne sein Kuscheltier nicht einschlafen mag. Der Teddybär hat keine Bedeutung, weil er materiell einen großen Wert darstellt. Der Teddybär hat Bedeutung, weil er dem Kind am Herzen liegt.
Wer auf die Suche geht, hat etwas verloren. Es gibt Verluste, die sind nicht schwerwiegend, sie sind einfach nur ärgerlich. Es gibt aber auch Verluste, die lösen großen Schmerz aus. Da ist Brigitte, eine Frau aus unseren Tagen. Brigitte hat ihren Mann verloren. Nicht, dass er gestorben ist, nein, er hat sie verlassen. Sie hat es lange Zeit nicht glauben wollen. Nach fast dreißigjähriger Ehe möchte Manfred die Ehe mit ihr nicht mehr führen. Sie ist fassungslos und verletzt. Es reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie und Manfred haben sich gemeinsam ihr Leben aufgebaut, haben Kinder, haben sich etwas geschaffen. Wie werden die Kinder die Nachricht aufnehmen? Was soll sie ihrer Schwester sagen, was ihren Arbeitskolleginnen und Kollegen, was ihren Verwandten und ihrem Bekanntenkreis? Brigitte ist verstört und völlig aus der Bahn geworfen. Es zerreißt ihr das Herz. Manfred will sie verlassen. Ihre Gedanken überschlagen sich, lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Wovon soll sie leben? Ihr kleines Gehalt wird nicht ausreichen. Was wird mit dem Haus? Muss sie jetzt ausziehen? Wo soll sie wohnen? Sie fühlt sich wie abgeschnitten von ihren Wurzeln. Wo soll sie hin? Brigitte hätte nie geglaubt, dass sie je in eine solche Situation kommen könnte. Ihre Ehe ist ihr ein stabiles Fundament gewesen. Es hat die eine oder andere Schwierigkeit gegeben, das will sie nicht leugnen. Aber sie hat selbst nie das Gefühl gehabt, dass ihre Ehe gefährdet ist. „Hat er eine andere?“, ist ihr erster Gedanke gewesen, als Manfred ihr gesagt hat, dass er mit ihr nicht mehr zusammen sein will. „Nein, ich habe keine andere“, hat er ihr glaubhaft versichert. Schlagartig sei ihm klar geworden, dass er nicht so weiter leben wolle wie bisher. Er bräuchte einen Neuanfang. Neuanfang, das kann Brigitte nachvollziehen, das will sie auch. Wenn sie zurück denkt, so muss sie sich eingestehen, dass die letzten Jahre nicht harmonisch waren. Sie möchte auch einen Neuanfang, aber mit ihm und nicht ohne ihn.
Brigitte wendet ihre ganze Kraft auf, um ihren Mann zu bewegen, sich auf einen gemeinsamen Neuanfang einzulassen. „Es gibt immer Möglichkeiten“, versucht sie ihn zu überzeugen: „du musst nur wollen.“ „Nein“, hat Manfred gesagt „ich sehe keinen Sinn darin.“ Brigitte kennt ihren Mann. Er ist konsequent. Bei ihr kann es sein, dass sie es sich bei genauerer Betrachtung noch einmal etwas anders überlegt. Aber Manfred macht das nicht. Mit der Zeit merkt Brigitte, dass sie verloren hat. Ihre Bemühungen sind gescheitert. Sie hat ihn nicht zurück gewinnen können. Brigitte fühlt sich verlassen und allein. Sie fühlt sich wie das verloren gegangene Schaf oder wie die Drachme, die auf dem Boden liegt.
Es gibt Geschichten vom Verloren-Haben und vom Verloren-Sein. Nicht jeder Kraftaufwand führt zum Erfolg. Nicht immer ist am Ende Freude über Verlorenes, das wieder gefunden worden ist. Nicht immer wird am Ende alles gut. In den beiden Gleichnissen vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme gibt es ein Happy-End. Die beiden Gleichnisse gehen deswegen gut aus, weil Gott selbst der Hirte ist, der die Seinen nicht im Stich lässt. Gott selbst ist die Hausfrau, die unermüdlich sucht und nicht aufgibt, bis sie die Drachme wiederfindet. Worauf sollen wir bauen, wenn unsere Bindungen sich auflösen? Wo sollen wir hin, wenn wir schutzlos umherirren? Wem können wir vertrauen, wenn wir am Boden liegen? Doch wohl auf Gott und seiner Hilfe.
Gott lässt von den Seinen nicht. Wir gehören zu ihm. Wenn wir verloren gehen, geht er uns nach. Er sucht solange, bis er uns findet. Gott gibt uns nicht auf, auch wenn wir uns aufgegeben haben. Wie der Hirte sich das verlorene und womöglich verletzte Schaf auf die Schulter legt und es nach Hause trägt, so trägt Gott uns, wenn wir verletzt sind. Wie die Frau jede Ecke ausleuchtet und die Drachme findet, so überlässt Gott uns nicht der Dunkelheit. Wie die Frau die Drachme aufhebt, so hebt Gott uns auf, wenn wir am Boden liegen. Gott kommt, um das Verlorene zu suchen und das Verletzte zu verbinden, so wie Jesus, der gesagt hat: „Ich bin gekommen, das Verlorene zu suchen und das Verirrte zurück zu bringen.“ (vgl. Lk 19,10)
Manche Pharisäer und Schriftgelehrte verurteilen Jesus. „Er nimmt die Sünder an und isst mit ihnen“ werfen sie ihm vor. Haben sie denn nicht verstanden, dass er ihnen ihre Bemühungen, nach Gottes Geboten zu leben, nicht klein redet? Haben sie nicht verstanden, dass er doch nur möchte, dass sie nicht auf andere Menschen herabblicken, die das nicht so erfolgreich praktizieren wie sie? „Ihr habt es doch gar nicht nötig, euch über andere zu erheben“. Gott hat neunneunzig Gerechte eben so lieb wie einen, der verloren war und wieder gefunden ist. Das eine Schaf bedarf in der Not Gottes besonderer Hilfe, die neunundneunzig kommen im Moment ohne ihn aus. Sie bleiben ja nicht ganz ohne Schutz. Die treuen Hirtenhunde passen auf sie auf.
Mit der Frau im Gleichnis verhält es sich ähnlich. Die verlorene Drachme braucht zwar nicht wie das Schaf ihre Hilfe. Aber wenn sie die eine Drachme nicht findet, könnte sie den Ochsen nicht kaufen oder wäre der Brautschmuck nicht komplett.
Getragen vom guten Hirten, blicken wir getrost auf einen neuen Tag. In der Gewissheit, dass Gott uns sucht, wenn wir verloren gehen, schlafen wir beruhigt am Abend ein, so wie Mona, als sie ihren Teddy im Arm hält. Und auch Brigitte darf sich der Obhut Gottes anvertrauen. Ihr Leben geht weiter. Sie darf sich Gottes Hilfe sicher sein. Gott führt alles zu einem guten Ziel. Am Ende wird Freude sein. Amen.