Gott hört das Schreien der Erniedrigten - Predigt zu Sirach 35,16-22a von Angelika Volkmann
35,16-22a

Liebe Gemeinde,

„Für mich gibt es keine Chance mehr.“
So brach es aus meinem Gesprächspartner heraus. Ein Physiker, Mitte 50.
„Dabei hatte es so gut begonnen, ich habe studiert, sogar promoviert. Darf man nicht ein Mal scheitern? Unsere Ehe ist zerbrochen. Und dann bin ich krank geworden, und mein Arbeitsvertrag an der Uni wurde nicht verlängert. Neue Arbeit, die ich leisten könnte, habe ich nicht gefunden. Bitter ist das. Ich verhungere nicht. Ich teile mir mein Geld ein. Ich wohne schäbig. Mit unersprießlichen Nachbarn. Ich bin meistens allein. Ich kann nirgends hin. Weil mir das Geld fehlt. Und weil ich mich schäme und mich gar nicht mehr traue, zu einer Veranstaltung zu gehen.  So lebe ich jetzt seit 15 Jahren. Den Gedanken, dass es sich nicht mehr ändern wird, verbiete ich mir. Er ist unerträglich. Und doch ist er wahr.“  

Liebe Gemeinde, wie lange braucht ein Gebet, bis es im Himmel ist?
Kann es sein, dass es unterwegs verhallt?
Starke Worte aus der Bibel werden uns heute gesagt:

Er hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt?  

Gott erhört es. Dieses Gebet, das nicht unbedingt mit einer Anrede beginnt und auch nicht mit Amen endet. Ein Gebet, das man vielmehr an den Tränen erkennt, die über das Gesicht laufen. Das Gebet derer, denen ihr Recht genommen wurde. Derer, die unter schweren Bedingungen leben.

Wie dieser Physiker: „Ich würde so gerne leben. Mit anderen verbunden sein. Etwas geben können, nicht immer nur die nötigste Hilfe bekommen. Ich erlebe es nicht, dass jemand mich sieht, mich kennt. Meine Seele ist so müde. Und von Gott erwarte ich schon lange nichts mehr. Von den Menschen schon, aber das ist auch unrealistisch.“ 

Gott erhört solche Worte, lesen wir. Klipp und klar. Doch bis das Gebet bei ihm ist, bleibt der Mensch ohne Trost. Manchmal dauert es. Das hat auch die bittende Witwe erlebt. (Lukas 18,1-8, Schriftlesung)

„Ich füge mich nicht! Sie haben mich erniedrigt und erwarten jetzt noch, dass ich demütig bin, zurückhaltend. Aber ich bin voller Zorn. Und der ist gesund. Wenn es sein muss, bin ich auch frech. Ich weiß, dass ich im Recht bin und dieser Richter will es mir nicht geben. Ich lasse es mir nicht nehmen! Und wenn ich zehnmal dahin muss! Immer wieder bringe ich die Kraft auf. Ich lasse nicht nach. Ich will nur, was mir zusteht.“ Und der – ungerechte! - Richter gibt ihr schließlich Recht, nicht, weil er davon überzeugt wäre, sondern weil sie ihn nervt. Ein Skandal. So sollt ihr beten! Sagt Jesus. So zornig. Man kann vermuten, Jesus habe diese Zeilen von Jesus Sirach gekannt und sie uns mit der Geschichte von der hartnäckigen Witwe vor Augen gestellt. Als Vorbild, wie man beten soll. 21 Das Gebet eines Erniedrigten dringt durch die Wolken, … und es lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt.

„Von Gott erwarte ich schon lange nichts mehr. Von den Menschen schon, aber das ist auch unrealistisch.“ Sagt der Physiker. Und doch spricht er das alles vor mir aus. Aus tiefster Seele. Ist da nicht doch noch Hoffnung? Wie lange braucht dieses Gebet, bis es im Himmel ist?
Vielen ergeht es so. Der jungen Frau aus dem Osten. Opfer von Menschenhändlern. Nach Deutschland gelockt mit falschen Versprechungen. Oder dem Mädchen, das im eigenen Zuhause nicht sicher ist.  Der dem Tode entronnene Geflüchtete. Und viele andere. Ihr Aufschrei dringt zu Gott. Und es dauert.

Das Gebet lässt nicht nach (V 21). „Ich schreie zum Himmel. Ich dringe durch die Wolken. Ich habe Ausdauer. Ich gebe mich nicht zufrieden mit Unrecht. Ich lasse nicht nach, bis der Höchste sich meiner annimmt. Keiner darf ihnen ihr Leben rauben! Auch wenn sie verzweifelt verstummen, bringe ich ihr Anliegen in Gottes Ohr! Ich weiß: Gott hört. Gott weint und liebt. Gott ist zornig. Auf die, die solche Zustände verantworten. Ich bin die Kraft in den Menschen. Ich halte an ihrer Würde fest. Ich bewege sie hartnäckig, Hilfe zu suchen. Wer unter schweren Bedingungen lebt, braucht andere. Ich suche Unterstützer, suche ihr Herz. Ich suche für die Schreienden jemanden, der sie sieht. Und hilft. Sie sollen ein würdevoll leben.“

22a Gott wird den Gerechten Recht zusprechen und Gericht halten. Die, die ihnen das Recht genommen haben, werden nicht davonkommen.  Welcher Balsam in den Seelen der Opfer. Es ist nicht in Ordnung, was ihnen widerfährt.

Liebe Gemeinde, beten wir mit ihnen? Sind wir Stimme für die Verstummten? Sind wir an Gottes Seite?

Amen.

 

 

Literatur und Inspirationsquellen:

Alexander Deeg und Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte, Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig, 20194,  S. 263-269: 5. Sonntag nach Ostern: Rogate (Reihe III): Sir 35,16-22a

Gerhard Schäberle-Koenigs, Rogate (9.Mai): Jesus Sirach 35,16-22a, Ihre Gebete dringen durch die Wolken, in: Für Arbeit und Besinnung, Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, 6/2021, S.15 – 20

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Angelika Volkmann

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Menschen, denen es gut geht, und Menschen, die unter schweren Bedingungen leben. Was verbindet sie? Wie ist Gemeinschaft möglich?

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Fasziniert hat mich die Entdeckung, dass das Gebet von Menschen, denen ihre Würde genommen wurde, selbst Subjekt ist und aktiv an Gottes Ohr dringt.  

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Es tröstet mich, wenn ich die Nöte derer am Rande mitempfinde, der Flüchtlinge, der Kinder, die Opfer von Gewalt werden, dass Gott sie hört. Euer Seufzen, Schreien, Ver-stummen wird gehört, auch wenn die Hilfe auf sich warten lässt.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die konkreten Hinweise der Coach an meinem Entwurf, an welchen Stellen ich mehr Predigen-In statt Predigen-über anwenden kann, waren für mich sehr hilfreich, eben-falls Ihre Hinweise, anders gliedern zu können. So habe ich den Gedankengang ge-strafft, manches weggelassen. In Württemberg sollen die Gottesdienste unter Corona höchstens 35 Minuten dauern.

 

Perikope
09.05.2021
35,16-22a