Gott ist eine Zumutung - Predigt zu 5. Mose 7, 6-12 von Eberhard Schwarz
77,6

Gott ist eine Zumutung - Predigt zu 5. Mose 7, 6-12 von Eberhard Schwarz

6 Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.
7 Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern -,
8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.
9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten,
10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.
11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.
12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.
Liebe Gemeinde,
‚An Gott als erste Ursache können wir nicht heran, aber als den Ursprung aller Zweifel‘ hat der in Wien geborene und heute in Jerusalem lebende ausgebildete Rabbiner und Lyriker Elazar Benyoëtz in seinen Aphorismen notiert. Im selben Zusammenhang fügt er hinzu: Auserwähltheit, das sei kein Vorrecht, sondern eine  Verantwortung. Sie bedeute in Wahrheit, „der Ungnade ausgesetzt“ zu sein.
Heute lesen wir im 5. Buch Mose. Heute sind wir als Lesende selbst ‚der Ungnade ausgesetzt‘. Unser Predigttext ist eine der Schlüsselstellen für das Verständnis von Erwählung in der Bibel. Wer der Erzählung folgt, sieht den greisen Moses auf der Schwelle in das verheißene Land. Er wird dort nicht mehr wohnen dürfen. Das Verheißene kann er nur von Ferne schauen. Aber die Kinder Israels, die er geführt hat, sie werden dort hinziehen. In diesem spannungsvollen Moment seines eigenen Weges und des Weges Israels, hören wir ihn reden.
Es ist eine der großen Stunden Israels. Mose blickt weit zurück. Er erinnert an die Treue Gottes zu den Vätern: Abraham und Isaak und Jakob. Noch einmal erinnert er die Geschichte vom Auszug aus der Sklaverei Ägyptens, vom Weg durch die Fluten des Schilfmeers, von dem Gesetz, das Gott dem Volk in die Hände und in die Herzen legt. Er erzählt von den Wundern der Gottestreue auf dem steinigen Wüstenweg. Und: als ob es gelte, nun die Essenz all dessen in einen einzigen Gedanken zu fassen, folgen diese Sätze: ‚Du bist ein heiliges Volk für den HERRN, deinen Gott. Dich hat er erwählt. ... Nicht weil du größer und bedeutender wärst als alle anderen Völker -  du bist das kleinste unter ihnen.‘
Erwählung – was ist das? Da gibt es die Anekdote von dem Vater, dessen Söhne in einer der vielen Auseinandersetzungen mit den Nachbarn Israels an der Front stehen. Am Jom Kippur, am Versöhnungstag, begibt er sich in die Synagoge und betet. 'Lieber Gott, ich weiß, wir sind das auserwählte Volk. Ich bin dir auch dankbar für alles - aber könntest du mir nicht einmal einen Gefallen tun und statt unseres Volkes ein anderes auserwählen?"
Was ist Erwähltheit? Weiß Gott, man hätte Israel, man hätte dem jüdischen Volk etwas weniger davon wünschen mögen, wenn man hineinsieht in seine Geschichte. Nur:  Israel wäre nicht Israel und das heutige Judentum wäre nicht das heutige Judentum, und Jesus wäre nicht Jesus und wir Christen wären nicht Christen ohne diesen fundamentalen Gedanken von der Erwählung, der hier, in unserem Predigttext zum ersten Mal in aller Deutlichkeit und zugleich in aller schrecklichen Spannung und Widerständigkeit ausgesprochen wird.
Dieser Gedanke heißt: Gottes Beziehung zu diesem kleinen, oft so widerborstigen Volk Israel – sie liegt in der Grundlosigkeit und Freiheit der göttlichen Liebe. Wer will das verstehen?
Liebe Gemeinde,
vielleicht ist das, was wir aus dem Mund des Mose hören, eine erste theologische Synthese der Geschichte Israels überhaupt. Entstanden kurz nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil im 6. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert. Die ganze Geschichte Israels bis zu diesem Zeitpunkt fließt hinein in Mose Worte: Glück und Scheitern, Machterfahrungen und tiefste Ohnmacht. Menschen sind es, die dies niederschreiben, die selber eben erst herausgetreten sind aus der Ohnmacht des Exils.
„Unser Gott, unserer Väter Gott, ein verborgener Gott ist er, und erst in der Tiefe des Leidens werden wir seiner gewahr “ ... hat der Jude Stefan Zweig in den Jahren des Ersten Weltkrieges geschrieben. „Weltwanderschaft ist unser Zelt, Mühsal unser Acker und Gott unsere Heimat in der Zeit“ ... „ So steh auf, du Volk, aus deiner Klage; wie einen Stab nimm deinen Glauben, und du wirst schreiten aus deinen Nöten ... Denn zur Dauer sind wir erwählt durch das Leid und zur Ewigkeit durch die Erneuerung ...“.
Wie eine Zusammenfassung der Moseworte anderthalb Jahrtausende später wirken diese Sätze. Das, was Israel über seinen Gott zu sagen vermag, ist in Wahrheit nicht viel mehr als das Staunen über das Gottesrätsel. ‚Gottes gewahr werden‘, das heißt, ihn gerade in dieser Rätselhaftigkeit wahrnehmen: seine Treue in den Höhen und Tiefen des Daseins; aber auch seine Härte und seine Unverständlichkeit, die über dem Gottesnamen für uns wie ein Schleier liegen.
Denn da steht ja neben dem grundlos liebenden auch ein vergeltender und furchterweckender Gott. Neben dem Angenommensein sola gratia,  steht ein fordernder und anspruchsvoller Gott, der „vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um“ ... Wie geht das zusammen?
Die erste große theologische Zusammenschau am Abschluss der Mosebücher bleibt stehen in dieser Spannung. Die Suche und Sichtung, wer denn der Gott ist, der mit Israel auf dem Weg ist, sie mündet in eine doppelte Aussage, die durch nichts aufgelöst wird. Auf der einen Seite: Gott ist treu und erwählt gerade das Schwache allein aus Gnaden. Und auf der anderen Seite: Gott ist gerecht und fordert ein und straft noch durch die Generationen hindurch. So ist es geschrieben. In dieser Spannung geht der biblische Gottesglaube seinen Weg. Gott als der Ursprung aller Zweifel?
Liebe Gemeinde,
das ist nicht nur Israels Erfahrung und Einsicht. Sie gehört zu jedem Menschenleben, das nachzusinnen beginnt über die Zusammenhänge seines Weges. Was, wenn wir unsere eigenen Wegebedenken? Auch in uns  wohnt diese Ahnung von der grundlosen Güte Gottes, die uns bis hierher gebracht hat – oft gegen unser Wollen und trotz unserer Irrtümer und Blindheit. Und auch in uns ist zugleich das Erschrecken über die Härte Gottes und die Einsicht, dass das, was wir tun, eben doch nicht ohne Folgen bleibt. 
Die ganze Bibel ist ein Zeugnis dieser Spannung: Das jesajanische „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst“ – es steht gleichrangig neben den Worten Elihus im Buche Hiob: „Gott vergilt dem Menschen, wonach er verdient hat, und trifft einen jeglichen nach seinem Tun.“
Aber ist es nicht auch so: Wo diese Spannung aufgehoben wird, da wird es in ganz anderer Weise gefährlich. Wo Menschen oder Nationen ausschließlich leben aus dem Gefühl, sie seien die Erwählten Gottes - ist da nicht höchste Wachsamkeit am Platz? Schon hier, im 5. Buch Mose wird deutlich, wie der Gedanke der Erwählung zu einer Entwertung und zu einer Abgrenzung der umliegenden Völker führt und wie Gewalt in diesen Vorstellungen wohnt. Unsere eigene Geschichte ist ein Paradebeispiel  für die schrecklichen Folgen dieses Denkens. Und die Bluttat in Norwegen scheint es ebenso zu sein.
'Lieber Gott, ich weiß, wir sind das auserwählte Volk. Ich bin dir auch dankbar für alles - aber könntest du mir nicht einmal einen Gefallen tun und statt unseres Volkes ein anderes auserwählen?’
Gott gibt es nicht ohne diese Spannung. Nur: wer kann sie aushalten? Wer hält einen Gott aus, der da ist und seine Güte spüren lässt und der zugleich in einer Härte begegnet, die die Luft zum Atmen nimmt? Ist dieser Gott nicht eine Zumutung? Er ist es! Gott ist eine Zumutung. Er ist zugleich der Ursprung aller Zweifel.  Durch die ganze Geschichte des Glaubens hindurch wird Gott als diese Zumutung erfahrbar. Und diese Zumutung hat ihre geschichtliche Verankerung in unserem Leben darin, dass wir sterblich sind.  
Elie Wiesel hat gemeint, man müsse gegen diesen Gott protestieren oder man müsse um ihn weinen. Und der jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Levinas hat daraus die Konsequenz gezogen, die Tora mehr zu lieben als Gott. „Aimer la Torah plus que Dieu.“ Also sich gar nicht einzulassen auf diese Spannung, sondern sich an das halten, was Halt und Orientierung gibt. Eben das Gesetz.
Ein Jude, liebe Gemeinde, ein Jude, so glauben wir, hat diese Spannung uns zugute ausgehalten. Wir Christen glauben, dass der Jude Jesus von Nazareth sie für uns durch den Tod hindurch getragen hat. Wie kein Anderer hat er aus dem Gedanken des Erwähltseins gelebt. Wie kein anderer hat er sich selber der Ungnade ausgesetzt. Er, der Gott seinen Vater nannte. Er, der lebte in dem Bewusstsein eines Auftrages von Gott her.
Wie kein anderer hat er zugleich das Vertrauen in die Grundlosigkeit und Freiheit der göttlichen Liebe verkörpert und ausgehalten und gelebt. Gerade die, die zu den Nicht-Erwählten, zu den Verlorenen, Ausgestoßenen, Sündern, zu den Heiden gehörten  –  er hat sie in seiner eigenen Person hinein genommen in den Erwählungszusammenhang des Gottes Israels. Das ist die Geburtsstunde des Christentums, in der eine Dimension von Erwählung in Erscheinung tritt, die alle Grenzen überschreitet.
Ihren rätselhaftesten und größten Moment hat sie am Ostermorgen. Und ihre Verankerung in unserem Leben – das ist die Taufe! Darum: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen uns Sinne in Christus Jesus. Amen.