Gott sitzt auch auf einem grünen Plastikstuhl - Predigt zu Johannes 3,16-21 von Stephanie Höhner
3,16-21

Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer ihm vertraut, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht vertraut, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. (Joh 3,16-21)

Osama wartet schon seit 7:23. Er kauert sich in den grünen Plastikstuhl. Neben ihm sitzt auch ein junger Mann. Daneben noch einer. Die ganze Reihe der grünen Plastikstühle ist besetzt mit jungen und älteren Männern. Sie alle warten schon seit Stunden hier. Manchmal wird einer aufgerufen, steht auf und verschwindet in einem der Büros.
Osama war auch gestern schon hier. Und vorgestern. Und letzte Woche auch.
Er wartet, dass auch er endlich in einem der Büros verschwinden kann.
Jetzt ist es 15:37. Er hat die Hoffnung aufgegeben. Er wird morgen wieder kommen. Und wieder warten, auf einem grünen Plastikstuhl.

Nur widerwillig packt Pia die Geschenke ein. Und nur widerwillig wird sie eine Stunde später ins Auto steigen und zu ihren Schwiegereltern fahren. Ex-Schwiegereltern, wenn sie es genau nimmt.
Pia weiß jetzt schon, wie es wieder werden wird. Sie werden alle am Tisch sitzen, lachen und reden. Über das Schulkonzert. Über die neuen Nachbarn. Und sie wird dabei sitzen und nichts sagen. Sie gehört nicht mehr dazu, seit sie vor zwei Jahren ausgezogen ist. Sie spürt die Vorwürfe in jedem Blick: „Du bist ja gegangen.“ „Wegen dir ist jetzt alles anders. Alles kompliziert.“
Pia zerknüllt den letzten Rest Papier. Sie wird trotzdem fahren und gute Miene machen.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. (Joh 3,16)

Osama wartet auf ein Urteil. Das Urteil vom Entscheider. Ob sein Antrag auf Asyl genehmigt wird. Ob er sich hier ein neues Leben mit seiner Frau aufbauen kann.
Osama wartet auf das Urteil, ob er einer der „guten Flüchtlinge“ ist. Asylwürdig. Weil er vor den Bomben in seiner Heimatstadt in Syrien flieht.
Nihad wartet auch auf ein Urteil. Auch er hat einen Asylantrag gestellt, zusammen mit seiner Frau. Sie stammt aus dem Kosovo. Nihad aus Bosnien. Zusammen können sie nicht in Bosnien leben. Seine Frau ist dort illegal. Ein gemeinsames Leben nicht möglich. Obwohl sie schon drei Kinder haben.
Nihads Chancen auf Bleiberecht stehen schlecht. Er ist nur „Wirtschaftsflüchtling“ aus einem sicheren Herkunftsland. Vermeidlich sicher.
Das Amt wird entscheiden, wer ein guter oder schlechter Flüchtling ist. Asylwürdig oder nicht.
Der Bundestag entscheidet, wo es sicher ist oder nicht.
Das Amt fällt sein Urteil. Der Staat fällt sein Urteil. Und schwierig ist es, das richtige Urteil zu fällen. Schwierig ist es, wenn Menschen über Menschen urteilen. Und doch ist es oft notwendig.

Und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. (Joh 3,19b)

Pia ist schuld. Das steht für ihre Familie fest. Sie ist gegangen. Hat Mann und beide Töchter alleine gelassen, um ein neues Leben zu beginnen. So denken die anderen. Sie fällen ihr Urteil.
Doch Pia hatte ihre Gründe. Sie liebten sich nicht mehr. Das zu erkennen tat auch Pia weh. Wegzugehen von ihren Töchtern, den Lebenstraum mit Mann und Haus zurück zu lassen. Jetzt jeden Morgen allein am Küchentisch zu sitzen.
Vorwürfe kommen nicht nur von ihren Eltern, Schwiegereltern und ihrem Ehemann. Sie kommen auch von Freunden, Kollegen und Nachbarn. Meistens unausgesprochen.

Osama sitzt in der Finsternis. Seine Heimat ist zerstört. Er musste alles zurücklassen: seine Freunde, seine Eltern. Er musste sein Studium aufgeben und das freie, ausgelassene Leben, das er mit Anfang zwanzig genossen hat. Bomben und Kriegstreiber haben ihm sein Leben genommen.

Nihad sitzt in der Finsternis. Er hat Angst vor der Abschiebung. In seiner Heimat kann er nicht mit Frau und Kindern zusammen leben. In Deutschland hat er kein Recht auf Asyl. Er sucht einen Platz im Leben.

Pia sitzt in der Finsternis. Die Liebe ihres Lebens ist gescheitert. Ihre Kinder sieht sie nur noch am Wochenende. Der Traum vom Familienleben zerplatzt. Sie gehört nicht mehr dazu. Bei ihren Freunden. Bei ihrer Familie. Auch wenn Pia mit am Tisch sitzt. Sie gehört nicht mehr dazu.

Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist. (Joh 3,19a)

Gott kommt in die Welt. An einem dunklen Ort. In den Stall in Bethlehem. Eine Behausung für Tiere, nicht für ein Neugeborenes.
Gott kommt in die Welt. An den Rand. Zu den Hirten. Rechtlose, arme Knechte. Menschen, die schon sehr lange im Dunkeln sitzen. Nicht nur bei ihrer Arbeit nachts auf dem Feld.
Gott kommt in die Welt. Als das Licht. Als Engel auf dem Feld. Sie erleuchten mit ihrer Klarheit die Nacht. Sie beleuchten die Hirten am Rand des Lebens.

Wieder geht ein Jahr zu Ende, in dem viel beleuchtet werden muss. Es kommt mir manchmal so vor, als ob die Welt nur noch in der Finsternis sitzt.
Im Bombenhagel in Syrien. In Berlin auf dem Weihnachtsmarkt. Auf grünen Plastikstühlen in der Asylbehörde und am Familientisch zu Weihnachten.
Die Welt sitzt im Dunkeln und wartet auf ihr Urteil. Eigentlich scheint es schon gefallen.
Es steht schon fest, wer ein „guter“ oder „schlechter“ Flüchtling ist.
Wer die „gute“ Kandidatin ist oder der „böse“ Kandidat.
Es steht schon fest, wer Schuld hat. Das Urteil ist schnell gefällt. Von uns Menschen im Dunkeln.

Ich sehne mich nach dem Licht. Das Licht, das alles offen legt. Das Klarheit bringt. Das das Dunkel überstrahlt.
Aber das nicht urteilt. Nicht sagt „gut oder böse“, „richtig oder falsch“.
Das Licht leuchtet alles an. Aber es urteilt nicht. Es gibt die Welt nicht verloren. Es gibt uns nicht verloren.

Gott schaut nicht in die Akten von Osama oder Nihad. Er sieht sie an als Menschen, die im Finstern sitzen. Er leuchtet in die Finsternis und verspricht: Ich will euch retten. Ich gebe euch nicht verloren.
Gott achtet nicht auf den Status der Hirten. Er sieht sie an als Menschen, die im Finstern sitzen. Er leuchtet in die Finsternis nachts auf dem Feld. Er sagt: Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude! (Lk 2,10b)
Gott schaut nicht auf unser Urteil, das wir treffen oder das über uns getroffen ist. Er sieht uns an als Menschen, die im Finstern sitzen und sich nach Licht sehnen. Er kommt in die Welt und verspricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende! (Mt 28,20)
Gott spricht kein Urteil. Er spricht uns an.

Gott urteilt nicht über Menschen, nicht über die Welt, weil er sie liebt. Die Welt und uns Menschen. Darum kommt er selbst auf die Welt. An den Rand. In den Stall. Auf den grünen Plastikstuhl und an den Familientisch.
Gott sieht das Urteil von uns Menschen über einander und was es anrichten kann: Gutes wie Schlechtes. Doch er richtet sich nicht danach. Gott stellt sich zu uns. Zu uns, den Gerichteten. Zu uns, die Richtenden.

Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)

Es ist 15:42 Uhr. Osama zieht sich gerade die Jacke an, als der Aufruf „Nr.2304“ kommt. 2304 – das ist Osamas Nummer. Er darf endlich in einer der Bürotüren verschwinden. Das Warten hat ein Ende. Der Asylantrag rückt näher. Aber noch ist es nicht geschafft.

Pia sitzt vor ihrem halbvollen Teller. Sie hat wenig Appetit. Und noch weniger Spaß. Anders als alle anderen, die über den Racletteabend letzte Woche reden.
Pia sitzt stumm daneben. Sie war dazu nicht eingeladen. Sie will eigentlich am liebsten nach Hause. Doch sie reißt sich zusammen. Setzt ein Lächeln auf, auch wenn es ihr schwer fällt. Vielleicht wird es einmal wieder anders sein, denkt sie. Vielleicht kann auch ich einmal wieder mitreden. Irgendwann.

Wie schön wäre es, wenn Osama bleiben könnte.
Wie schön wäre es, wenn auch Nihad bleiben könnte.
Wie schön wäre es, wenn Pia mitreden könnte.
Wie schön wäre es, wenn es Licht auf der Welt wird. Wenn der Bombenhagel verstummt. Wenn die Tränen trocknen.
Ich sehne mich nach Licht. Ich will nicht verloren sein. Ich will nicht in der Finsternis bleiben.

Nihads Antrag wird abgelehnt. Zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern werden sie nachts abgeholt und zum Flughafen gebracht. Wie sie in Bosnien leben sollen, wissen sie nicht.
Osamas Antrag auf Asyl wird genehmigt. Er darf mit seiner Frau bleiben und hier ein neues Leben aufbauen.

Noch ist es finster in der Welt. Noch sitzen wir im Dunkeln.
Manchmal sehe ich ein Licht einfallen. Auf einen grünen Plastikstuhl. Am Familientisch. Und ich hoffe, auch bald im Flugzeug nach Bosnien.

Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm vertrauen, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh 3,16)
Amen.

Perikope
24.12.2016
3,16-21