Gott spricht
„Nachdem vorzeiten Gott manchmal und mancherleiweise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, welchen er gesetzt hat zum Erben über alles, durch welchen er auch die Welt gemacht hat; welcher, sintemal er ist der Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat gemacht die Reinigung unsrer Sünden durch sich selbst, hat er sich gesetzt zu der Rechten der Majestät in der Höhe und ist so viel besser geworden denn die Engel, so viel höher der Name ist, den er von ihnen ererbt hat. Denn zu welchem Engel hat er jemals gesagt: ‚Du bist mein lieber Sohn, heute habe ich dich gezeugt’? und abermals: ‚Ich werde sein Vater sein, und er wird mein Sohn sein’? Und abermals, da er einführt den Erstgeborenen in die Welt, spricht er: ‚Und es sollen ihn alle Engel Gottes anbeten.’“ (Jubiläumsbibel 1912)
Liebe Gemeinde,
manche Momente sind so, daß man „sein Herz ausschütten“ möchte. Dann liegen wohl auch Worte und Wendungen nahe, die einem zu anderen Zeiten nicht gleich einfallen. Für die Christenheit ist die Feier der Weihnacht ein solcher großer Moment. Nehmen wir ihn als das, was er ist: als religiöses Fest, als Ausdruck des christlichen Glaubens, dann gibt es keinen anderen Moment, der intensiver berührt, der erfüllter wäre von freudiger und strahlender Dankbarkeit. Weihnachten ist eben der Ausgangspunkt.
Nun befindet sich der Verfasser des Hebräerbriefes offensichtlich in einem solchen Moment des Überschwangs. Seine Worte gleichen Begeisterungstönen; sie sollen weithin erschallen und sind ein Ausdruck großer Freude. Er ist ergriffen und möchte die, zu denen er spricht, an seiner Ergriffenheit teilhaben lassen.
Die Idee des göttlichen Mittlers, des „Sohnes“, ist es, die ihn begeistert. Ihn habe Gott, wie es bereits im zweiten Psalm heißt, „zum Erben über alles“ gesetzt, und durch ihn habe er „auch die Welt gemacht“. Der Sohn sei „der Glanz der göttlichen Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens“. „Alle Dinge“ trage er „mit seinem kräftigen Wort“; durch ihn komme „die Reinigung unsrer Sünden“ zustande, und er sitzt „zu der Rechten der Majestät in der Höhe“. Deshalb sei er auch „so viel besser denn die Engel“, die ihn anbeten sollen.
I.
Wir wollen diese Worte zunächst einmal auf uns wirken lassen. Sie sind eben der Ausdruck einer tiefen religiösen Begeisterung. Man muß sie nicht als dogmatische Formeln verstehen, zu deren Ausbildung sie dann allerdings später auch ihren Beitrag geleistet haben. Hier, im Auftakt dieses religiös-theologischen Traktates, sind sie noch ganz von der Ergriffenheit des glaubenden Herzens bestimmt. Wohl richtet sich die Absicht des Verfassers darauf, eine grundlegende Erörterung über die Stellung des Christus zu geben, und insofern geht sein Schreiben auch schon einen Schritt weiter. Aber, das möchte ich betonen, man braucht den Text noch nicht vom Kalkül der reflektierenden Sprache her zu lesen.
Nun gibt es meiner Ansicht nach überhaupt keinen Grund, weshalb das christliche Herz nicht auch begeistert sein dürfte. „Begeisterung“ ist überhaupt das eigentliche Medium des religiösen Ausdrucks. „Gott“ und „Geist“ sind eng verbundene Begriffe. Das Leben des Glaubens ist ein Leben aus dem Geist, und wahrhafte Frömmigkeit ist immer eine geisterfüllte.
Nicht ohne Grund setzt der Verfasser ja damit ein, daß Gott spricht. Das Wort, die Sprache sind das Medium des Geistes; sie übt die eigentliche Mittlerschaft aus, weshalb ja der Gedanke, Christus und das Wort aufeinander zu beziehen, sehr nahe liegt.
Gott ist dem Hebräerbrief zufolge der sprechende Gott, und zwar damals, „vorzeiten“, wie auch heute in unserer Gegenwart. Die Bereitschaft Gottes, sich selbst kund zu geben, ist das Fundament, auf dem der Glaube ruht. Er verbirgt sich eben nicht in einem düsteren Schweigen, einem womöglich immerwährenden, sondern er bekundet sich. Was die religiöse Sprache „Offenbarung“ nennt, ist seinem Wesen nach nichts anderes als Selbstmitteilung. Ein Zusammenhang wird offengelegt. Im Falle des religiösen Bewußtseins ist es der Zusammenhang zwischen Gott und Mensch.
Dies ist das eine, das wir den Begeisterungstönen des Abschnittes entnehmen können. Das andere geht darüber noch hinaus. Die Behauptung des Autors besagt: Gott hat sich nicht nur selbst kund gemacht, sondern er hat auch der Welt Anteil an sich selbst gegeben. Tatsächlich hat die Idee des Mittlers, des Christus, doch nur dann überhaupt eine erfahrbare Wirklichkeit, wenn sie nicht eine spekulative Figur über bestimmte Bewegungen im Gottesbegriff bleibt (was sie zweifellos auch immer ist). Sie wird real erst in dem Moment, in dem diese Mittlerschaft auch die andere Seite dessen, was vermittelt werden soll, betrifft, wenn sie sie beeinflußt, verändert und neu gestaltet. Daß das der Fall ist, ist der Kern der christlichen Botschaft. Es ist der Inhalt des Weihnachtsevangeliums. Deshalb paßt unser Text auch sehr gut zum heutigen Festtag. Christus ist „der Glanz von Gottes Herrlichkeit“ und „das Ebenbild seines Wesens“.
II.
Was nur aber auch bedacht sein möchte, das ist: Man kann nicht unentwegt im Ton der Begeisterung sprechen. Leicht klingt dann, was man vorbringt, anfechtbar, und auf viele Adressaten wirkt, was mit großem emotionalen Anteil vorgebracht wird, wenig anziehend. Wer nicht willens ist, sich auf die Stimmung des Sprechers einzulassen, wendet sich ab.
Überdies kommen auch Bedenken zum Tragen, die nicht ohne Grund sind. Offensichtlich ist für den Verfasser des Hebräerbriefes die Hoheit und Größe des Sohnes besonders dadurch zur Geltung zu bringen, daß er ihm den Spitzenplatz in einer Hierarchie einräumt. Der Sohn ist eben „besser“ und „höher“ als die Engel, und deshalb müssen sie ihn auch anbeten. Das Gebet dient dazu, anzuerkennen, er sei ihnen vorgeordnet. Es ist also der Sache nach eine Demutsbezeigung und Unterwerfungsgeste.
Auch was die Heilsgeschichte als ganze angeht, argumentiert der Autor, indem er Ordnung schafft. Früher habe Gott „manchmal und mancherleiweise“ zu den Vätern gesprochen und sich dazu der Propheten bedient. Nun aber – „am letzten in diesen Tagen“ – habe er „zu uns“ geredet durch den Sohn. Nicht nur also hat eine Neuvergabe der Sitzplätze im himmlischen Herrscherhaus stattgefunden, sondern es ist auch die Selbstbekundung Gottes an die Menschen in ein ganz neues Stadium getreten. Durch die Sohnestat ist alles Frühere in ein Vergangenes umgewandelt.
Das sind Gedankengänge, die wir nicht nur im Hebräerbrief finden, sondern auch in etlichen anderen neutestamentlichen Zusammenhängen. Sie gehören, in welcher Form auch immer, zum Grundbestand der urchristlichen Verkündigung, sind jahrhundertelang tradiert worden, und ihre Spuren haben sich tief in das christliche Selbstbild eingegraben. Als klassische Motive der Predigt von Christus hören auch wir sie heute. Sollten wir uns aber das ganze Jahr über mit diesen Bildern beschäftigen und in diesen Gedanken bewegen, dann würde das doch nicht genügen. Es wäre sogar schon problematisch diesem Überbietungsmotiv überhaupt allzu großes Gewicht einzuräumen. Um Fragen dieser Art mag es in anderen, früheren Konstellationen gegangen sein. Für uns aber sieht die Situation anders aus.
III.
Das Weihnachtsfest ist ein Fest der Begegnung. Das haben wir, so hoffe ich, in den letzten Tagen wieder an uns selbst erlebt. Vieles von dem, was wir in dieser Zeit tun und auch in der Vorbereitung auf sie getan haben, dient dazu, Begegnungen zu ermöglichen und erfreulich zu gestalten. Auch unsere Gottesdienste dienen dazu, Begegnungen zu ermöglichen. Wenn wir uns heute, an diesem zweiten Weihnachtstag, auf die Christus-Botschaft des Hebräerbriefes besinnen, dann macht das noch einmal deutlich, daß die Begegnung im christlichen Sinne eben auch eine Gemeinsamkeit des Geistes sein soll.
Niemand verlangt, daß wir in die antike Lobpreisung des Christus einstimmen, auch nicht, daß wir uns für unseren eigenen Glauben diese Worte zu eigen machen. Aber wir hören sie in dem Bewußtsein, daß auch sie zu dem überlieferten Schatz der Christenheit gehören. Sollten wir formulieren, was Christus für uns ist, was er uns bedeutet und wie man den Gedanken der Mittlerschaft heute auslegen könnte, dann kämen wohl doch recht anderslautende Wendungen zum Zuge. Doch dies eine müssen wir wissen: Die unsrigen stehen in ein- und derselben Reihe, in der, und zwar ziemlich weit am Anfang, auch das Begeisterungslied des Hebräerbriefes seinen Ort hat.
Der sprechende Gott: Das ist das Eingangsmotiv jener Zeilen. Wir wollen uns für heute damit begnügen. Schön wäre es, wenn wir als glaubende Menschen uns nicht nur von Gott angesprochen sein lassen. Besser noch als das Bewußtsein, Adressat zu sein, vielleicht sogar, wie es in dem Brief ja überall anklingt, privilegierte Adressaten, ist es, wenn wir nun auch unsererseits das Wort ergreifen. Das Weihnachtsfest ist ein guter Zeitpunkt, auch einmal darüber nachzudenken, wie wir es für uns selbst mit dem Gebet halten. Und dann die andere Ebene, das Gespräch mit den Menschen um uns her. Wie wichtig ist es, miteinander zu sprechen. Die Sprache ist ja nicht nur der Leib des Geistes, sondern sie eröffnet den Raum des Lebens selbst. Mit wem habe ich heute gesprochen? Das könnte durchaus eine gute Frage sein, die wir uns am Ende des Tages stellen.
Amen.
Verwendete Literatur:
Erich Grässer: An die Hebräer. Erster Teilband: Hbr. 1 – 6 (Evangelisch-Katholischer Kommentar. Band XVII / 1), Zürich und Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1990.