Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein. (Off 21,1-7)
Haus Nummer 55 ist ein Reiheneckhaus. Darin wohnt Andreas mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Andreas ist mittelgroß, etwas rundlich um die Hüften und seine Schläfen werden grau. Er arbeitet im Außendienst bei einem großen Unternehmen. Gestern in Köln, morgen am Bodensee. Immer ist er unterwegs. Und hat das Gefühl, dass seine Seele nicht hinterherkommt. Wenn er zwischendurch einmal zuhause ist, fühlt er sich fremd. Das Familienleben läuft längst ohne ihn ab. Neulich hat er einmal angedeutet, dass er seinen Beruf hinschmeißen möchte. Irgendetwas anderes machen. Seine Frau hat gesagt: Naja, Träume haben wir alle. Andreas hat das Thema nicht mehr angeschnitten. Aber er sehnt sich. Nach etwas Neuem.
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
Haus Nummer 56 ist einer der Wohnblocks aus den siebziger Jahren. Im vierten Stock, zweite Wohnung rechts, wohnt Helga. Sie ist klein und zierlich und ihr weißes Haar steckt sie mit vielen kleinen Haarspängchen hoch. Sie mag diesen Wohnblock, denn da ist sie nicht allein. Früher hat sie als Bibliothekarin in einer Schulbücherei gearbeitet. Es war immer etwas los. Sie mochte die Kinder und die Kinder mochten sie. Mit vielen ehemaligen Schülerinnen und Schülern hat sie immer noch Kontakt. Manche sind schon Ende vierzig und haben selbst erwachsene Kinder. Vor acht Jahren ist Helga in den Ruhestand gegangen. Da begann sie zu sammeln. Sie interessiert sich für die Geschichte derer, die sie nie kennengelernt hat: für die Juden und Jüdinnen, die früher in der Stadt lebten und die in der Nazizeit vertrieben und deportiert wurden. Also geht Helga herum und sucht nach Informationen. Lässt sich von den Älteren Geschichten erzählen über die ehemaligen jüdischen Stadtbewohner. Sammelt alte Fotos. Neulich hat sie eine Ausstellung mit den Bildern und den Namen und Texten gemacht. Viele Menschen sind gekommen, um die Ausstellung zu sehen. Helga war glücklich. Sie hat danach gesagt: Ich weiß, dass ich die jüdischen Frauen, Männer und Kinder nicht mehr lebendig machen kann. Aber durch die Erinnerung an sie ändert sich die Stadt. Sie wird neu.
Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Haus Nummer 57 ist ein Altbau mit Fachwerk. Im ersten Stock wohnt Gertraud. Sie hat eine kräftige Figur und braun gefärbte Locken. 32 Jahre hat sie mit ihrem Mann dort gelebt. Dann ist er eines Tages nicht mehr von der Arbeit heimgekommen. Im Büro hatte er seiner Sekretärin gesagt, ihm sei übel und er müsse mal auf die Toilette. Dort fand man ihn dann. Leblos. Er hatte einen Herzinfarkt. Gertraud ist jetzt seit sieben Monaten allein. Die Trauer steckt tief in ihrer Seele. In der ersten Zeit ist sie kaum aus dem Haus gegangen. Ihre Geschwister haben sich um sie gekümmert. Seit einigen Wochen versucht sie es wieder. Geht allein einkaufen. Besucht eine Gedenkveranstaltung für ihren Mann. Aber immer, wenn jemand sie fragt, wie es ihr geht, kommen ihr die Tränen.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Haus Nummer 58 ist ein schmuckloser Bau aus den 1950er Jahren. An der Fassade bröckelt der Putz ab. Im zweiten Stock, unter dem Dach wohnt Mustafa. Er ist klein, rundlich, hat eine Glatze und leuchtend blaue Augen. Die blauen Augen hat er, weil seine Vorfahren Mongolen waren. So erzählt er jedenfalls. In den siebziger Jahren ist er aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Zuerst hat er als Küchenhilfe gearbeitet. Jetzt ist er Koch. Er kennt die Geheimnisse der fränkischen Küche. Sauerbraten, Schäufele, das alles hat er drauf. Er ist Mitte sechzig und würde eigentlich gern in Rente gehen. Aber das Geld reicht nicht. Er hat seine Tochter unterstützt, als sie studiert hat. Nie etwas für sich beiseitegelegt. Und viel zu wenig in die Rentenkasse einbezahlt. Er überlegt, ob er in die Türkei zurückgehen soll, weil das Leben dort billiger ist. Aber was soll er in der Türkei? Er ist seit vierzig Jahren in Deutschland und liebt die fränkische Küche. Er grübelt, aber er findet keine Lösung.
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!
Haus Nummer 59 ist ein altes Haus aus Sandsteinen. Im Erdgeschoss ist ein Café. Es gehört Monika. Monika ist groß, blond und schlank. Sie hat als Konditorin gearbeitet. Das hat ihr nicht mehr gefallen. Immer in der Backstube, nie eigene Herrin sein. Da hat sie das Café aufgemacht. Und es läuft. Sie kommt über die Runden. Die Leute in der Straße mögen das Café, das ist schon mal die halbe Miete. Heute trinkt Andreas aus der Hausnummer 55 einen Cappuccino bei ihr. Er ist gerade von einer Außendienstfahrt zurückgekommen. Auch Helga aus der Hausnummer 56 ist da und erzählt von ihren Forschungen über die jüdische Geschichte. Mustafa aus der 58 sitzt mit einem Bier in einer Ecke, schweigt und hört zu. Und plötzlich geht die Tür auf und Gertraud kommt herein. Sie will nur schnell ein Stück Kuchen holen, sagt sie. Dann wechselt sie doch ein paar Worte mit Monika. Und mit Andreas. Und mit Helga. Und Mustafa hört zu und lächelt.
Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
Haus Nummer 60 ist ein kleines Haus aus den 1930er Jahren. Eigentlich gar kein Haus, eher eine Bruchbude. Oder Hütte. Man weiß nicht, wer darin wohnt und ob da überhaupt einer wohnt. Ab und zu sieht man in den Fenstern Licht. Neulich hat einer gesagt: Am Ende wohnt da Gott selbst drin.
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.
Sie ist noch Zukunftsmusik, die Hütte Gottes bei den Menschen. Gott wischt noch nicht alle Tränen von unseren Augen. Es gibt noch Tod und Leid und Geschrei und Schmerz. Himmel und Erde sind alt. Jerusalem ist eine zerrissene Stadt.
Aber das ist schon geschehen: Gott ist unter uns. Gott mit uns – Immanuel. Gott, Mensch geworden, Fleisch von unserem Fleisch, lebt er in unseren Städten und Dörfern. Er lebt in der Hausnummer 60, der Bruchbude, von der kein Mensch weiß, wer darin wohnt. Er lebt in der 55 bei Andreas, in der 56 bei Helga, in der 57 bei Gertraud, in der 58 bei Mustafa. Er sitzt im Café von Monika in der 59. Er begegnet uns, Mensch unter Menschen, in unseren alten Städten, in der alten Welt. Hält eine Sehnsucht in uns wach nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Gibt uns lebendiges Wasser. Und verspricht:
Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Amen.
Gott wohnt in Hausnummer 56 - Predigt zu Offenbarung 21,1-7 von Barbara Eberhardt
21,1-7
Perikope