Liebe Gemeinde,
unsere weihnachtliche Grußliste war lang in diesem Jahr. Darauf die üblichen Namen: Eltern, Geschwister, Neffen und Nichten. Dann der weitere Kreis: Paten, Schwiegereltern der Kinder, alte Familienfreunde. Und natürlich: Freunde, Bekannte, Nachbarn. Zu Weihnachten schauen wir genauer hin: Wo gehöre ich hin? Zu wem gehöre ich? Was erzählen die Geschichten? Was zieht sich durch? Was ändert sich? Wir kramen alte Familiengeschichten hervor: Weißt du noch, unser erstes gemeinsames Weihnachten bei Freunden in einem verschneiten mecklenburgischen Dorf? Weihnachten 1989 mit offenen Grenzen! Unsere Freunde aus der Schweiz kamen spontan. Und Scott mit seinem amerikanischen Pass brauchte einen Stempel von der amerikanischen Botschaft, um zurückzukommen. Als die Kinder die Weihnachtsgeschenke vor der Bescherung fanden. Und die Erinnerungen gehen zurück: das letzte Weihnachten mit der Großmutter, mit der Mutter, Weihnachten in Notzeiten, Weihnachten mit der großen Familie.
Familiengeschichten.
Sie zeigen, woher wir kommen. Sie zeigen, wie sich Lebensumstände ändern. Was trägt und prägt in allem Wandeln. Ich finde bemerkenswert, wie konkret sich ein Jahrhundert mit Krieg, Flucht, Mauerbau, Mauerfall, Leben mit offenen Grenzen in Europa in meiner Familie abgespielt hat.
Liebe Gemeinde, Sie haben ein Blatt Papier in der Hand. Darauf stehen 45 Namen. Diese Namen bilden den Stammbaum Jesu nach der Aufstellung des Evangelisten Matthäus. Der Stammbaum schreitet drei Zeiträume in Israels Geschichte ab. Der erste Abschnitt beginnt mit Abraham und schlägt den Bogen zu David – die Zeit der Väter und der Mütter Israels. Der zweite Abschnitt beginnt mit David und reicht bis Jechonja – die Zeit der Könige Israels. Und der dritte Abschnitt reicht von Schealtiel bis Mattan – die Zeit der Priester am Tempel in Jerusalem. Der Stammbaum zeigt: Mit Abraham gibt es los. Die großen Könige Israels David und Salomo gehören zu Jesu Ahnen. Jesus wird in Bethlehem geboren, der Stadt Davids. Jesus ist der neue, der andere König Israels.
Zu jedem dieser Namen gehören Geschichten, gehören Gotteserfahrungen. Die Geschichten können wir jetzt nicht alle erzählen. Aber drei Namen, liebe Gemeinde, fallen besonders auf. Es sind Namen von Frauen in Jesu Stammbaum.
Zu den Väter Israels, zu Abraham, Isaak und Jakob gehören die großen Frauen Sara, Rebekka und Rahel. Sie werden aber nicht erwähnt. Dafür erscheinen die Namen von Tamar, Rahab und Ruth. Das fällt auf, denn diese drei Frauen sind keine Israelitinnen, sie gehören nicht vom Volk Israel, sie sind Fremde. Welche Geschichten gehören zu ihren Namen? Warum erwähnt sie Matthäus?
Wir tauchen kurz ein in die Geschichten dieser Frauen.
Bei Tamar und Ruth geht es um die Kinder.
Tamar ist Kanaaniterin. Sie wird die Frau Gers, Sohn den Stammvaters Juda. Ihr Mann stirbt, sie bleibt kinderlos. Mit großer List und Verführungsgeschick sorgt sie dafür, dass sie schwanger wird von ihrem Schwiegervater Juda. Als das ans Licht kommt, soll sie wegen Ehebruch sterben. Dann kommt heraus, dass Juda, der fromme Israelit, Vater des Kindes ist. Er sagt einen beeindruckenden Satz über die fremde Frau Tamar: „Sie ist gerecht, ich nicht!“
Ruth, die fremde Frau aus Moab, muss erleben, wie ihr Mann Elimelech stirbt. Auch sie bleibt zunächst kinderlos. Sie folgt ihrer Schwiegermutter Noomi nach Bethlehem. Dort wird sie, die Fremde, Ehefrau des Boas und bringt das ersehnte Kind zur Welt. Die Frauen in Bethlehem preisen Ruth und sagen zu Noomi, ihrer Schweigermutter: „Ruth, deine Schwiegertochter, die Fremde, hat dich geliebt und hat einen Sohn geboren, der dich versorgen wird. Sie ist mehr wert als sieben Söhne.“ Sie ist mehr wert als sieben Söhne. So wird Ruth die Großmutter von König David.
Die Frauen aus der Fremde erweisen sich als Gerechte, als Liebende. Gott setzt mit ihnen Israels Geschichte fort. Sie sind Zukunftsträgerinnen. Israel ehrt sie bis heute mit großer Wertschätzung und Dankbarkeit.
Und dann gibt es da noch die Geschichte von der Prostituierten Rahab aus Jericho. Sie versteckt zwei Kundschafter aus Israel und bewahrt sie vor dem Tod. Dafür wird sie bei der Einnahme der Stadt verschont und lebt fortan geachtet im Volk Israel. So heißt es im Buch Josua: „Rahab aber, die Hure, blieb in Israel wohnen bis auf den heutigen Tag, weil sie die Boten verborgen hatte, die Josua ausgesandt hatte, um Jericho auszukundschaften.“ (Josua 6,25). Rahab entscheidet sich für den Gott Israels. „Durch den Glauben kam sie nicht mit den Ungehorsamen um,“ so deutet der Hebräerbrief, „da sie die Kundschafter in Frieden aufgenommen hatte.“ (Hebr 11,31).
Bewegende Geschichten.
Israel erlebt auf seinem Weg mit Gott große Überraschungen. Auf Gottes Heilsweg finden sich List, sogar Verrat, handeln wildfremde Menschen mutig und unerwartet. Gott wirkt, oft im Verborgenen und doch heilsam und zukunftsschaffend. Gott wirkt durch die Fremden zum Heil für sein Volk und für die Welt.
Familiengeschichten.
Kürzlich saßen wir in unserer Familie zusammen. Meine Mutter erzählte. Ein Bruder der Großmutter verließ um 1930 die westpreußische Provinz und ging nach Kanada. Er wurde Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Toronto und leitete die Seemannsmission in New York. 1946 schickte er Hilfspakete für die Verwandten nach Norddeutschland, die ihre Heimat verloren hatten und hungerten. Ein Paket aus Kanada! Eine Sensation. Der ferne Onkel half. Der letzte Kontakt reicht 70 Jahre zurück, aber der Onkel in Kanada hat einen Platz im Familiengedächtnis: Der Mann lebt tausende Kilometer entfernt von uns. Er denkt an uns und hilft.
Wir forschen im Internet und finden den Onkel in Kanada. Geboren 1913 in einem Flecken in Westpreußen, gestorben 1983 in Toronto, drei Söhne, sieben Enkel.
Jesu Familiengeschichte ist spannend. Maria wird schwanger und Josef weiß von nichts. Er will seine Frau verlassen. Dann tritt der Engel auf und erklärt, was geschehen ist. Gott wirkt. Das Prophetenwort erfüllt sich. Gottes Geist hat das Kind entstehen lassen. Es wird das Volk retten und trägt den vielsagenden Namen „Immanuel“, Gott mit uns. Dieser Jesus wird großen Glauben unter den Fremden finden, mehr als bei den Menschen aus dem eigenen Volk. Dieser Jesus wird sagen, dass alle, die an ihn glauben, zu seiner Familie gehören. Er wird die Kinder segnen und den verstoßenen Frauen helfen. Gott mit uns – das beginnt mit Jesu Geburt neu und setzt doch fort, was seit Abraham erfahren wurde. Gott begleitet, rettet und geht voraus.
Viele Weihnachtsgeschichten, liebe Gemeinde.
Nehmen Sie sich die Zeit, diese Geschichten zu erzählen und ihre Bedeutung zu durchdringen.
Wir werden Zeugen der großen Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen.
Und wir entdecken: Wir gehören zur Familie Gottes.
Und dazu gibt es viel zu erzählen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Wir feiern einen festlichen Gottesdienst mit Abendmahl am 2.Weihnachtsfeiertag im Kapitelsaal des Ev. Augustinerklosters Erfurt. Gäste des Klosters und Gemeindeglieder werden an dem Gottesdienst teilnehmen, ich rechne mit 70 Besuchern. Landeskirchenmusikdirektor Ehrenwerth wird den Gottesdienst musikalisch einfühlsam gestalten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Spannend wird es, über eine Liste mit 45 Namen zu predigen, wenn ich den einzelnen Lebensgeschichten nachgehe. Mit Tamar, Ruth und Rahab setzt Matthäus einen starken inhaltlichen Akzent. Auch in der eigenen Familie finden sich Geschichten, die Gottes Wirken in der Welt aufscheinen lassen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottes Wirken geht mitunter sehr wundersame Wege (siehe die Geschichte Tamars und Rahabs). Besondere Ereignisse in der Familie bleiben erstaunlich lange im Gedächtnis.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Wichtig war, sich auf exemplarische Geschichten zu konzentrieren und die Pointe dieser Geschichten in Worte zu fassen. Dabei sollten auch die vermeintlich „befremdlichen“ Erzählelemente beibehalten werden (Tamar / Rahab).