"Gottes Wirken in den Zufällen des Lebens", Predigt über Apostelgeschichte 5, 17-21a von Helmut Dopffel
5,17
Tag des Erzengels Michael und aller Engel
Gottes Wirken in den Zufällen des Lebens
„Es erhoben sich aber der Hohepriester und alle, die mit ihm waren, nämlich die Partei der Sadduzäer, von Eifersucht erfüllt, und legten Hand an die Apostel und warfen sie in das öffentliche Gefängnis. Aber der Engel des Herrn tat in der Nacht die Türen des Gefängnisses auf und führte sie heraus und sprach: Geht hin und tretet im Tempel auf und redet zum Volk alle Worte des Lebens. Als sie das gehört hatten, gingen sie frühmorgens in den Tempel und lehrten.“ (Apostelgeschichte 5, 17 – 21a)
Liebe Gemeinde,
der Engel des Herrn öffnet verriegelte Türen mitten in der Nacht, er führt die Apostel aus dem Gefängnis, redet zu ihnen und gibt einen Auftrag. Dann entschwindet er auch schon wieder aus der Geschichte, er hinterlässt keinen Namen und keine Spuren – sogar die Türen, so berichtet Lukas einige Zeilen weiter, sind wieder verschlossen; oder wenn er Spuren hinterlässt, dann nur die im Herzen und in der Erinnerung der Befreiten. So ist es eigentlich immer mit den Engeln. Flüchtig sind sie und meistens namenlos, wirksam aber nicht greifbar, irgendwie schillernd zwischen Himmel und Erde. Wirklich ist nur was sie tun und was sie sagen. So begegnen wir ihnen in der Bibel, in der Religionsgeschichte, und vielleicht auch in unserem eigenen Leben. In der Bibel sind sie zwar selten, aber doch immer wieder präsent, fast von der ersten bis fast zur letzten Seite. Sie sind da in Träumen, in überraschenden Begegnungen, in neuen Einsichten, als Reisebegleiter und Beschützer. Sie warnen und ermahnen, führen und retten, stellen sich in den Weg und kämpfen, schützen und öffnen Gefängnisses. Sie reden und deuten. Sie kämpfen gegen die bösen Mächte und halten diese in Schach. Michaels Speer hält den Satan nieder. Und sie singen! Noch etwas verrät uns die Bibel: Engel sind die mit dem besonderen Blick auf Gott und Mensch, auf Himmel und Erde: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth: Alle Lande sind seiner Ehre voll. Sie füllen Himmel und Erde mit ihrem Lobgesang.
Heute sind Engel populär. Sie erscheinen in hoher und niederer Literatur, in großartigen und kitschigen Gedichten und Bildern, und Raphaels neckische Engelchen grüßen von allem, das sich bedrucken lässt. Engel mit Aura und Chakren angetan, mit Namen und Macht ausgestattet bevölkern das Internet, die Anzeigen und die Köpfe; Engelkerzen, Engelsteine, Engelhoroskope, Engeltherapien und vieles andere mehr sind erhältlich. Da ist es notwendig, vorsichtig zu sein und vor Missbrauch zu warnen, religiösem, finanziellem, seelischem. Aber das genügt nicht. Denn bei allem Missbrauch: Wir werden die Engel nicht los. Sie sind da, zu fest verankert in der Bibel, in der christlichen Frömmigkeit, in Liedern und Gebeten: „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde…“ lehrt uns Luthers Abendsegen beten. Wir singen im Gottesdienst „Ihr starken Engel waltet“ und „Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen.“ „Und er hat seinen Engeln befohlen über dir“: wie viele Menschen hat dieser Psalm, gesungen und gebetet schon getröstet! Und wenn wir von guten Mächten wunderbar geborgen sind so rufen wir damit die Engel an. Der Tag des Erzengels Michael und aller Engel hält sich im liturgischen Kalender, manche Gemeinde schmückt sich mit einer Michaelskirche, und bis heute pilgern Hunderttausende zur Michaelshöhle auf dem Gargano. Selbst die moderne Theologie wagt sich wieder in die Nähe der Engel. Nein, wir werden sie nicht los, die Engel. Und das nicht nur, weil sie zu tief im kulturellen Gedächtnis und in unserer Seele verankert sind. Einem Engel zu begegnen heißt, etwas von Gottes Wirken zu verspüren. Gott ist gegenwärtig: Nicht nur allgemein und abstrakt, sondern jetzt, hier, in meinem Leben. Und Gott ist nicht einfach nur da, sondern er tut etwas. Er lässt sich herab, um uns zu helfen. Und wenn sich heute so viele Menschen ansprechen lassen von Engeln, dann äußert sich darin zumindest eine Sehnsucht, wenn nicht ein Sensorium für Gott, für Gottes Wirken. Gott hat mich nicht vergessen.
Wie und wo das geschieht, dafür können uns die biblischen Geschichten die Sinne schärfen. Die erste Begegnung von uns Menschen mit Engeln ist gar nicht angenehm: Sie treten uns mit einem feurigen Schwert in den Weg. Sie bewachen eine Grenze: Hier kommst du nicht vorbei! Das mag verschiedene Gründe haben. Dieser Weg geht in die Irre. Jenseits der Grenze lauert der Tod. Aber der Engel, der im Wege steht, konfrontiert uns auch mit den Folgen der eigenen bösen Tat: Etwas ist vorbei und verloren, nicht ewiglich aber für die Zeit unseres Lebens. Auch solche Konfrontation kann heilsam sein, denn sie bewahrt uns davor, uns aufzureiben und unsere Energien und Gedanken an Unerreichbarem zu vergeuden. Der Engel, der die Grenze bewacht, schützt uns auch vor uns selbst.
Der große Elia liegt völlig erschöpft in der Wüste. Burn-out würden wir wohl heute diagnostizieren. Er hat sich übernommen, hat versucht, die Ehre Gottes wiederherzustellen und das Bekenntnis Israels zu erzwingen, und ist dabei durch Ströme von Blut gewatet. Wir lesen nirgends, dass das Gottes Wille war. Nun ist er und seine Sache verloren. Da berührt ihn ein Engel. Unverhofft, unverdient. „Steh auf und iss!“, sagt der Engel. „Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“ Und der Engel belässt es nicht bei guten Worten, er hilft auch tatkräftig: Brot und Wasser findet Elia. Und dann macht er sich auf den Weg zum Gottesberg.
Und so begleiten die Engel auf gefährlicher Reise, weisen den Hirten den Weg, wälzen den Stein von des Grabes Tür, öffnen Gefängnisse und führen den Evangelisten Philippus genau an die Wegkreuzung, wo er den Kämmerer aus dem Morgenland treffen muss.
Können wir solche Geschichten weitererzählen? Martin Luther hat das getan, die Engel bewachen nicht nur den Schlaf, sie geben uns auch gute Gedanken ein. Und zwar nicht irgendwelche guten Gedanken, sondern die lebensnotwendigen: Gott liebt mich. Ich bin getauft. Ich bin gerechtfertigt. Ich bin unendlich viel wert. Engel geben uns diese Gedanken ein, denn es sind nicht einfach Phantasien und Wunschvorstellungen, sondern es ist Gottes Wahrheit, aber nun ganz direkt und unmittelbar für mich und zu mir gesprochen und wahr geworden.
Wenn wir diesen Spuren folgen, dann begegnen uns auch heute Engel auf vielfältige Weise in unserem Leben. Da ist die Intuition, das Bauchgefühl: Das solltest du nicht tun. Hier droht Gefahr. Oder eine vage Erinnerung an ein Gespräch: Da war doch noch etwas, eine Botschaft, ich habe sie gehört aber überhört, doch sie bleibt bei mir, verfolgt mich hartnäckig. Vielleicht wache ich am frühen Morgen auf und weiß es plötzlich: genau, ganz klar, das war die Botschaft. Wie konnte ich sie nur überhören! Ein Engel hat mir die Botschaft gedeutet.
Oder unsere Träume: Sie sind doch mehr als nur die Verarbeitung des gestrigen Tages, der eigenen Angst, oder unserer Kindheit. Manchmal enthalten sie merkwürdige Fingerzeige. Ich wache auf und erinnere mich sehr präzise an den Traum. Ich weiß genau, was er mir sagen will, trotz aller bunter Verkleidung. Und ich weiß, dass die Botschaft wahr und richtig und zu beherzigen ist. Ein Engel hat im Traum gesprochen.
Ein Zwischenfall im Straßenverkehr, eine winzige Sekunde Unaufmerksamkeit, und dann blicke ich doch noch, ganz zufällig und genau rechtzeitig auf, und reagiere. Und ich lebe noch. Wenn ich davon erzähle, muss ich von einem Engel erzählen.
Was sind das für Geschichten, die biblischen und die von heute? Es sind in jedem Fall gute Geschichten und gute Erfahrungen. Sie geschehen inmitten von Bedrohungen, Spannungen, Angst und Hoffnungslosigkeit, sie geschehen in Gefängnissen jedweder Art. Es sind Rettungsgeschichten, Befreiungsgeschichten, Geschichten der Güte.
Es sind auch Machtgeschichten. Wir sind es, natürlich, die diese Intuition hatten, diesen Traum, diesen lösenden Gedanken. Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort, haben das rechte Wort gefunden, haben im entscheidenden Augenblick aufgeblickt. Und doch sind wir in solchen Geschichten nicht die Handelnden. Etwas geschieht an uns und mit uns. Wir träumen, und doch begegnen wir in den Träumen einer fremden Macht. Wir handeln „instinktiv“, wie man sagt, und wissen nicht warum, aber es ist richtig. Wir sind zufällig da, wo wir sein müssen, damit sich etwas fügt in unserem oder einem anderem Leben. Wir sind da, und doch sind wir es nicht, sind nicht Akteur. Wir erfahren vielmehr, dass wir uns in einem Kraftfeld bewegen, das uns bewegt.
Und deshalb sind Engelgeschichten auch immer unpassende Geschichten. Engel begegnen unvorhersehbar, unwahrscheinlich und punktuell. In Träumen, Intuition, Bauchgefühl und Zufall. In dem, was sich nicht berechnen und erklären lässt. In Lebenserfahrungen, die sich nicht den gängigen Erklärungsmustern, die unseren Alltag regeln oder die uns die Wissenschaften vorsetzen, fassen lassen. Wir haben die Welt ja säuberlich sortiert, in Fakt und Fantasie, wir wissen was real ist und was Fiktion. Die Gefahr ist, dass wir so unseren Sinn für die Wirklichkeit eingrenzen und uns immunisieren gegen alle Erfahrung, die sich dieser Eingrenzung nicht fügen mag. Denn die Welt ist weit mehr als das, was wir alltäglich oder wissenschaftlich beschreiben und erklären können. Alltag und Wissenschaft sind hilfreiche und produktive Modelle, Konstruktionen, Perspektiven, aber nicht die ganze Wirklichkeit und Wahrheit unserer Welt. Deshalb gibt es in jedem Leben dieses Unerklärliche, diese Fügung, dieses Wissen von dem man nicht weiß woher es kommt. Deshalb kann man über manche Lebenserfahrungen nicht einfach so reden, alltäglich oder gar wissenschaftlich. Leiden und Errettung, das kann man nicht verstehen, und davon kann man nicht reden, ohne eine Dimension jenseits unserer sichtbaren Welt, jenseits von Raum und Zeit anzusprechen, und sei es nur in der Frage: Warum, mein Gott?
Wenn die Bibel von Engeln erzählt, wenn Menschen heute von Engeln reden, dann ist dies gemeint: Gott wirkt durch die Zufälle dieser Welt, Gott spricht zu uns, warnt, schützt und rettet uns durch Träume und Intuitionen und Bauchgefühl und die unwahrscheinliche Begegnung die eigentlich nicht sein darf. Deshalb sind Engelgeschichten am Ende dann doch wieder ganz gewöhnliche Geschichten. Denn Engel sind keine glanzvollen Wesen, die silbern vom Himmel schweben und selbst Macht tragen. Sie sind nichts weiter als Geschöpfe, Boten, Helfer, Vermittler, in Gottes Auftrag und Gott gehorsam. Sie bringen, so könnte man vielleicht sagen, an diesem und jeden Punkt Gottes Energie, Gottes Liebe, Gottes Worte in unsere Welt, um das Leben und diese Welt zu erhalten. Und sie tragen, wenn sie Namen tragen, gewöhnliche Namen.
Und nach einer solchen Begegnung mit einem Engel sagen wir, vielleicht, wie Jakob: Gott ist hier, und ich wusste es nicht.
So geht auch die Geschichte von den Aposteln und dem Engel des Herrn einfach weiter. Die Apostel tun, was ihnen der Engel gesagt hat. Sie hatten es ohnehin vor. Die Hindernisse sind überwindbar geworden, und niemand wird die Worte des Lebens aufhalten.
Gottes Wirken in den Zufällen des Lebens
„Es erhoben sich aber der Hohepriester und alle, die mit ihm waren, nämlich die Partei der Sadduzäer, von Eifersucht erfüllt, und legten Hand an die Apostel und warfen sie in das öffentliche Gefängnis. Aber der Engel des Herrn tat in der Nacht die Türen des Gefängnisses auf und führte sie heraus und sprach: Geht hin und tretet im Tempel auf und redet zum Volk alle Worte des Lebens. Als sie das gehört hatten, gingen sie frühmorgens in den Tempel und lehrten.“ (Apostelgeschichte 5, 17 – 21a)
Liebe Gemeinde,
der Engel des Herrn öffnet verriegelte Türen mitten in der Nacht, er führt die Apostel aus dem Gefängnis, redet zu ihnen und gibt einen Auftrag. Dann entschwindet er auch schon wieder aus der Geschichte, er hinterlässt keinen Namen und keine Spuren – sogar die Türen, so berichtet Lukas einige Zeilen weiter, sind wieder verschlossen; oder wenn er Spuren hinterlässt, dann nur die im Herzen und in der Erinnerung der Befreiten. So ist es eigentlich immer mit den Engeln. Flüchtig sind sie und meistens namenlos, wirksam aber nicht greifbar, irgendwie schillernd zwischen Himmel und Erde. Wirklich ist nur was sie tun und was sie sagen. So begegnen wir ihnen in der Bibel, in der Religionsgeschichte, und vielleicht auch in unserem eigenen Leben. In der Bibel sind sie zwar selten, aber doch immer wieder präsent, fast von der ersten bis fast zur letzten Seite. Sie sind da in Träumen, in überraschenden Begegnungen, in neuen Einsichten, als Reisebegleiter und Beschützer. Sie warnen und ermahnen, führen und retten, stellen sich in den Weg und kämpfen, schützen und öffnen Gefängnisses. Sie reden und deuten. Sie kämpfen gegen die bösen Mächte und halten diese in Schach. Michaels Speer hält den Satan nieder. Und sie singen! Noch etwas verrät uns die Bibel: Engel sind die mit dem besonderen Blick auf Gott und Mensch, auf Himmel und Erde: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth: Alle Lande sind seiner Ehre voll. Sie füllen Himmel und Erde mit ihrem Lobgesang.
Heute sind Engel populär. Sie erscheinen in hoher und niederer Literatur, in großartigen und kitschigen Gedichten und Bildern, und Raphaels neckische Engelchen grüßen von allem, das sich bedrucken lässt. Engel mit Aura und Chakren angetan, mit Namen und Macht ausgestattet bevölkern das Internet, die Anzeigen und die Köpfe; Engelkerzen, Engelsteine, Engelhoroskope, Engeltherapien und vieles andere mehr sind erhältlich. Da ist es notwendig, vorsichtig zu sein und vor Missbrauch zu warnen, religiösem, finanziellem, seelischem. Aber das genügt nicht. Denn bei allem Missbrauch: Wir werden die Engel nicht los. Sie sind da, zu fest verankert in der Bibel, in der christlichen Frömmigkeit, in Liedern und Gebeten: „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde…“ lehrt uns Luthers Abendsegen beten. Wir singen im Gottesdienst „Ihr starken Engel waltet“ und „Ach Herr, lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tragen.“ „Und er hat seinen Engeln befohlen über dir“: wie viele Menschen hat dieser Psalm, gesungen und gebetet schon getröstet! Und wenn wir von guten Mächten wunderbar geborgen sind so rufen wir damit die Engel an. Der Tag des Erzengels Michael und aller Engel hält sich im liturgischen Kalender, manche Gemeinde schmückt sich mit einer Michaelskirche, und bis heute pilgern Hunderttausende zur Michaelshöhle auf dem Gargano. Selbst die moderne Theologie wagt sich wieder in die Nähe der Engel. Nein, wir werden sie nicht los, die Engel. Und das nicht nur, weil sie zu tief im kulturellen Gedächtnis und in unserer Seele verankert sind. Einem Engel zu begegnen heißt, etwas von Gottes Wirken zu verspüren. Gott ist gegenwärtig: Nicht nur allgemein und abstrakt, sondern jetzt, hier, in meinem Leben. Und Gott ist nicht einfach nur da, sondern er tut etwas. Er lässt sich herab, um uns zu helfen. Und wenn sich heute so viele Menschen ansprechen lassen von Engeln, dann äußert sich darin zumindest eine Sehnsucht, wenn nicht ein Sensorium für Gott, für Gottes Wirken. Gott hat mich nicht vergessen.
Wie und wo das geschieht, dafür können uns die biblischen Geschichten die Sinne schärfen. Die erste Begegnung von uns Menschen mit Engeln ist gar nicht angenehm: Sie treten uns mit einem feurigen Schwert in den Weg. Sie bewachen eine Grenze: Hier kommst du nicht vorbei! Das mag verschiedene Gründe haben. Dieser Weg geht in die Irre. Jenseits der Grenze lauert der Tod. Aber der Engel, der im Wege steht, konfrontiert uns auch mit den Folgen der eigenen bösen Tat: Etwas ist vorbei und verloren, nicht ewiglich aber für die Zeit unseres Lebens. Auch solche Konfrontation kann heilsam sein, denn sie bewahrt uns davor, uns aufzureiben und unsere Energien und Gedanken an Unerreichbarem zu vergeuden. Der Engel, der die Grenze bewacht, schützt uns auch vor uns selbst.
Der große Elia liegt völlig erschöpft in der Wüste. Burn-out würden wir wohl heute diagnostizieren. Er hat sich übernommen, hat versucht, die Ehre Gottes wiederherzustellen und das Bekenntnis Israels zu erzwingen, und ist dabei durch Ströme von Blut gewatet. Wir lesen nirgends, dass das Gottes Wille war. Nun ist er und seine Sache verloren. Da berührt ihn ein Engel. Unverhofft, unverdient. „Steh auf und iss!“, sagt der Engel. „Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“ Und der Engel belässt es nicht bei guten Worten, er hilft auch tatkräftig: Brot und Wasser findet Elia. Und dann macht er sich auf den Weg zum Gottesberg.
Und so begleiten die Engel auf gefährlicher Reise, weisen den Hirten den Weg, wälzen den Stein von des Grabes Tür, öffnen Gefängnisse und führen den Evangelisten Philippus genau an die Wegkreuzung, wo er den Kämmerer aus dem Morgenland treffen muss.
Können wir solche Geschichten weitererzählen? Martin Luther hat das getan, die Engel bewachen nicht nur den Schlaf, sie geben uns auch gute Gedanken ein. Und zwar nicht irgendwelche guten Gedanken, sondern die lebensnotwendigen: Gott liebt mich. Ich bin getauft. Ich bin gerechtfertigt. Ich bin unendlich viel wert. Engel geben uns diese Gedanken ein, denn es sind nicht einfach Phantasien und Wunschvorstellungen, sondern es ist Gottes Wahrheit, aber nun ganz direkt und unmittelbar für mich und zu mir gesprochen und wahr geworden.
Wenn wir diesen Spuren folgen, dann begegnen uns auch heute Engel auf vielfältige Weise in unserem Leben. Da ist die Intuition, das Bauchgefühl: Das solltest du nicht tun. Hier droht Gefahr. Oder eine vage Erinnerung an ein Gespräch: Da war doch noch etwas, eine Botschaft, ich habe sie gehört aber überhört, doch sie bleibt bei mir, verfolgt mich hartnäckig. Vielleicht wache ich am frühen Morgen auf und weiß es plötzlich: genau, ganz klar, das war die Botschaft. Wie konnte ich sie nur überhören! Ein Engel hat mir die Botschaft gedeutet.
Oder unsere Träume: Sie sind doch mehr als nur die Verarbeitung des gestrigen Tages, der eigenen Angst, oder unserer Kindheit. Manchmal enthalten sie merkwürdige Fingerzeige. Ich wache auf und erinnere mich sehr präzise an den Traum. Ich weiß genau, was er mir sagen will, trotz aller bunter Verkleidung. Und ich weiß, dass die Botschaft wahr und richtig und zu beherzigen ist. Ein Engel hat im Traum gesprochen.
Ein Zwischenfall im Straßenverkehr, eine winzige Sekunde Unaufmerksamkeit, und dann blicke ich doch noch, ganz zufällig und genau rechtzeitig auf, und reagiere. Und ich lebe noch. Wenn ich davon erzähle, muss ich von einem Engel erzählen.
Was sind das für Geschichten, die biblischen und die von heute? Es sind in jedem Fall gute Geschichten und gute Erfahrungen. Sie geschehen inmitten von Bedrohungen, Spannungen, Angst und Hoffnungslosigkeit, sie geschehen in Gefängnissen jedweder Art. Es sind Rettungsgeschichten, Befreiungsgeschichten, Geschichten der Güte.
Es sind auch Machtgeschichten. Wir sind es, natürlich, die diese Intuition hatten, diesen Traum, diesen lösenden Gedanken. Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort, haben das rechte Wort gefunden, haben im entscheidenden Augenblick aufgeblickt. Und doch sind wir in solchen Geschichten nicht die Handelnden. Etwas geschieht an uns und mit uns. Wir träumen, und doch begegnen wir in den Träumen einer fremden Macht. Wir handeln „instinktiv“, wie man sagt, und wissen nicht warum, aber es ist richtig. Wir sind zufällig da, wo wir sein müssen, damit sich etwas fügt in unserem oder einem anderem Leben. Wir sind da, und doch sind wir es nicht, sind nicht Akteur. Wir erfahren vielmehr, dass wir uns in einem Kraftfeld bewegen, das uns bewegt.
Und deshalb sind Engelgeschichten auch immer unpassende Geschichten. Engel begegnen unvorhersehbar, unwahrscheinlich und punktuell. In Träumen, Intuition, Bauchgefühl und Zufall. In dem, was sich nicht berechnen und erklären lässt. In Lebenserfahrungen, die sich nicht den gängigen Erklärungsmustern, die unseren Alltag regeln oder die uns die Wissenschaften vorsetzen, fassen lassen. Wir haben die Welt ja säuberlich sortiert, in Fakt und Fantasie, wir wissen was real ist und was Fiktion. Die Gefahr ist, dass wir so unseren Sinn für die Wirklichkeit eingrenzen und uns immunisieren gegen alle Erfahrung, die sich dieser Eingrenzung nicht fügen mag. Denn die Welt ist weit mehr als das, was wir alltäglich oder wissenschaftlich beschreiben und erklären können. Alltag und Wissenschaft sind hilfreiche und produktive Modelle, Konstruktionen, Perspektiven, aber nicht die ganze Wirklichkeit und Wahrheit unserer Welt. Deshalb gibt es in jedem Leben dieses Unerklärliche, diese Fügung, dieses Wissen von dem man nicht weiß woher es kommt. Deshalb kann man über manche Lebenserfahrungen nicht einfach so reden, alltäglich oder gar wissenschaftlich. Leiden und Errettung, das kann man nicht verstehen, und davon kann man nicht reden, ohne eine Dimension jenseits unserer sichtbaren Welt, jenseits von Raum und Zeit anzusprechen, und sei es nur in der Frage: Warum, mein Gott?
Wenn die Bibel von Engeln erzählt, wenn Menschen heute von Engeln reden, dann ist dies gemeint: Gott wirkt durch die Zufälle dieser Welt, Gott spricht zu uns, warnt, schützt und rettet uns durch Träume und Intuitionen und Bauchgefühl und die unwahrscheinliche Begegnung die eigentlich nicht sein darf. Deshalb sind Engelgeschichten am Ende dann doch wieder ganz gewöhnliche Geschichten. Denn Engel sind keine glanzvollen Wesen, die silbern vom Himmel schweben und selbst Macht tragen. Sie sind nichts weiter als Geschöpfe, Boten, Helfer, Vermittler, in Gottes Auftrag und Gott gehorsam. Sie bringen, so könnte man vielleicht sagen, an diesem und jeden Punkt Gottes Energie, Gottes Liebe, Gottes Worte in unsere Welt, um das Leben und diese Welt zu erhalten. Und sie tragen, wenn sie Namen tragen, gewöhnliche Namen.
Und nach einer solchen Begegnung mit einem Engel sagen wir, vielleicht, wie Jakob: Gott ist hier, und ich wusste es nicht.
So geht auch die Geschichte von den Aposteln und dem Engel des Herrn einfach weiter. Die Apostel tun, was ihnen der Engel gesagt hat. Sie hatten es ohnehin vor. Die Hindernisse sind überwindbar geworden, und niemand wird die Worte des Lebens aufhalten.
Perikope