[Pfarrer/in:]
Prolog.
Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb. Was soll er uns sagen, dieser Tag – dieser Tod? Viele Zeitalter, nachdem er geschehen?
Viele Zeitalter, bevor er geschehen, sagt Gott zu Israel dies:
[Sprecher/in 1:]
Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.
[Pfarrer/in:]
Gibt es noch etwas, das noch nie erzählt wurde? Können wir noch etwas erfahren, was wir noch nie gehört haben? Was könnte uns noch in Staunen versetzen?
[Sprecher/in 1:]
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt eins: hässlich.
[Sprecher/in 2:]
„Ich bin ein 27-jähriger Mann und sehr hässlich. Mein ganzes Leben lang wurde ich wegen meinem Aussehen gemobbt und runtergemacht. Viele Leute haben mir persönlich gesagt, ich sei das hässlichste Lebewesen, das je existiert hat. Außerdem sagten mir einige Menschen, manchmal sogar vor der ganzen Klasse, dass ich Selbstmord machen sollte, weil mein Aussehen unerträglich ist. […] Bei der Arbeit gab es mal eine Situation, wo einer sein Handy rausnahm, um mich zu filmen, dabei sagte er: "Boah ist der hässlich". […] Menschen wie ich sollten gar nicht erst existieren. Ich bin der Untermensch. Ich hatte noch nie wirkliche Freunde und noch nie eine Beziehung zu einer Frau. Mit 27 Jahren bin ich immer noch eine Jungfrau. Außerdem wurde ich von 2 Prostituierten abgelehnt. Nicht mal Prostituierte wollen was mit mir zu tun haben.
Zu meiner Person: 191cm, 95kg, dunkelbraune Haare, braune Augen, komisches hässliches Gesicht.“ [https://www.hilferuf.de/thema/ich-bin-haesslich-und-denke-oft-ueber-sui…]
[Sprecher/in 1:]
Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt zwei: krank.
[Sprecher/in 2:]
„Oberarzt Stefan Münster hat gerade einen 24-Stunden-Dienst und ist nassgeschwitzt, weil er in voller Schutzmontur einer Covid-19-Patientin die Lungenmaschine angeschlossen hat. […] Da kommt eine Pflegerin ins Arztzimmer und drückt ihm ein Telefon in die Hand, ein Angehöriger ist dran. Er fragt Münster, ob der Zeit für ein Gespräch hätte. Draußen piepen die Maschinen, durch die geöffnete Tür sieht man Pfleger hin- und hereilen, hört die Assistenzärzte reden. […] Er sagt: „Klar habe ich Zeit.“
Der Anrufer […] sitzt mit dem kleinen Sohn allein daheim. Den Mann quält die Angst um seine Frau. Es folgt ein langes Gespräch, an dessen Ende Münster sagt: „Heute war kein guter Tag. Aber morgen ist ein neuer Tag.“
Die Ärzte und Pfleger hier betonen oft, sie könnten nicht mit jedem „mitsterben“. Sie haben gelernt, sich emotional abzuspalten, um trotz der vielen Erfolge nicht an den unvermeidlichen Niederlagen kaputtzugehen. Das Gespräch mit dem Mann, sagt Münster später, werde er dennoch „mit nach Hause nehmen“. Solange die Fallzahlen draußen nicht sinken, gibt es hier drinnen nur eine Möglichkeit, dem Mann, dessen Frau er das Leben retten soll, in die Augen zu blicken: Wenn die Frau im Sterben liegt. Es ist die einzige Ausnahme, wegen der Angehörige die Intensivstationen betreten dürfen.“ [https://www.geo.de/wissen/gesundheit/23067-rtkl-pandemie-um-leben-und-t…]
[Sprecher/in 1:]
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.
[Pfarrer/in:]
Sie können nicht mit jedem mitsterben. Sie müssen sich emotional abspalten. Wie weit kann man mit einem anderen mitgehen? Wie weit kann man überhaupt mit einem anderen mit-leiden und mit-sterben? Wer kann das schon? Man muss doch selbst irgendwie am Leben bleiben – physisch und psychisch und emotional. Das ist ja auch nicht leicht – in diesen Tagen. Das Mitleiden und das Mitsterben muss sich einer erstmal leisten können! Man muss vieles abspalten in den Tagen der Pandemie, das viele Leid, die vielen Toten und das Warum?
Abgespalten haben wir auch die Frage, was das mit Gott zu tun hat. Ob das Virus eine Strafe Gottes sei. Abspalten und wegdrücken muss man diese Frage, sonst wird man an Gott verrückt. Wen sollte denn Gott damit strafen wollen? Die, die gestorben sind? Uns alle? Zu was soll denn diese Frage führen außer zu absurden Schuldzuweisungen? Und zu einem kranken Glauben an einen giftigen Gott.
Und doch ist die Frage da. Sie lässt sich nicht so einfach unter den Teppich kehren. Sie nagt weiter. Trotz theologisch-kirchlichem Frageverbot. Irgendwo ist immer ein schlechtes Gewissen und dann ist die Frage, die man nicht stellen soll, wieder da: Bekommen wir jetzt die Rechnung für unsere Sünden? Ist das fitte und flexible Virus Gottes Rache für unseren fortgesetzten Frevel an seiner Schöpfung?
Ist heute der Tag, an dem diese Frage mal gestellt werden darf? Weil sie schon beantwortet wurde? Mit der unglaublichsten alle unmöglichen Antworten? Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. […] Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.
[Sprecher/in 1:]
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt drei: stumm.
[Sprecher/in 2:]
„Wer in Berlin Plötzensee im Namen des Volkes vom Leben zum Tode gebracht wurde, dem zeigte sich der Staat in aller Macht und Herrlichkeit. Der Henker im Cut, seine drei Knechte im schwarzen Anzug. Der Herr Kammergerichtsrat in roter Rohe, der Staatsanwalt und der Pfarrer im schwarzen Talar, die Justizbeamten im jagdgrünen Tuch, der Anstaltsarzt im weißen Kittel, die Gäste in Uniform. Auf dem Tisch ein Kruzifix, an der Wand zwei hohe Kandelaber. […] An diesem Todesort herrschten Recht und Ordnung, war jeder Schritt durch eine Vorschrift festgelegt. Für die Gäste gab es Eintrittskarten und den Hinweis: "An der Richtstätte wird der deutsche Gruß vermieden." Vom Opfer erwarteten die Beamten, daß es sich dem Protokoll gemäß verhalte, "ruhig und gefaßt" Nur selten fiel einer aus der Rolle. "Ich erinnere mich an keinen, der geweint hat, geschrien oder sich gewehrt", sagt mir der evangelische Pfarrer Hermann Schrader, 80, der damals ein dutzendmal dabeisein mußte. "Mancher war auch dadurch beruhigt, daß man ihm sagen konnte: Ich stehe hinter Ihnen, bis das Fallbeil fällt."“ [https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40351220.html]
[Sprecher/in 1:]
Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
***
[Pfarrer/in:]
Gottesknecht gegoogelt vier: nicht mehr im Lande der Lebendigen.
[Sprecher/in 2:]
„Beyan* sieht gut aus. Schlanke weiße Hände, melancholischer Künstlerblick, perfekt sitzende Lederjacke. Keine Narbe durchzieht das glatte Gesicht, der 25-Jährige lächelt verhalten. Beyan könnte Bankangestellter sein oder Berater, freundlich und zuvorkommend, einer von Millionen Zugereisten, die sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut haben.
Doch der junge Mann aus Syrien […] hat ein Problem: Er kann seine Haustür in Berlin nicht aufschließen, weil das Geräusch des sich drehenden Schlüssels ihn in Panik versetzt. Er hat Angst vor Autos, vor seinen Gedanken und Erinnerungen, Angst vor seinem eigenen Schatten.
"Sie waren wie die Wölfe", beginnt Beyan seinen Bericht. "Sie" - die Männer mit den Masken, die Männer mit der Macht, die Folterknechte des syrischen Militärgeheimdienstes in Damaskus. Im März 2006, sagt Beyan, habe er auf einer Gedenkfeier für die Opfer eines Massakers in der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens Gedichte vorgetragen. …
Fragen habe man ihm gestellt, endlos wiederholte Fragen, auf die er keine Antwort wusste: "Sie schleppten mich in eine Zelle, wo ich mich ausziehen musste", sagt er leise. […] "Sie banden meine Arme und Füße an eine Eisenstange. Dann schlugen sie mich, immer wieder, von allen Seiten." […] Auch Elektroschocks seien an der Tagesordnung, sagt Beyan: "Wenn sie den Strom anschalten, kannst du nicht mehr reden und bist total wehrlos. Danach bist du so erschüttert, dass du mit dir selbst nicht mehr klarkommst", sagt er und verbirgt sein Gesicht in den Händen. "Sie haben mich so fertiggemacht, dass ich das Vertrauen in die Menschen verloren habe."“ [https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/folteropfer-in-deutschland…]
[Sprecher/in 1:]
Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
***
[Pfarrer/in:]
Epilog.
Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb.
Gibt es noch etwas, das noch nie erzählt wurde? Können wir noch etwas erfahren, was wir noch nie gehört haben? Was könnte uns noch in Staunen versetzen?
Christus, der gestorben ist, ist der junge Mann, so hässlich, dass er nicht mehr leben will. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
Christus, der gestorben ist, ist die Frau, mit der der Arzt nicht mitsterben konnte, weil er weiter Leben retten muss. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.
Christus, der gestorben ist, ist der, der nicht geweint hat, nicht geschrien hat und sich nicht gewehrt hat, als man ihn nach Recht und Ordnung und Protokoll gemäß hinrichtete, … wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer.
Christus, der gestorben ist, ist Beyan, der Syrer, den sie so fertiggemacht haben, dass er das Vertrauen in die Menschen verloren hat. Wen aber kümmert sein Geschick?
Christus stirbt jeden Tag.
[Sprecher/in 1:]
Aber der Herr wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.
[Pfarrer/in:]
Karfreitag. Der Tag, an dem der Sohn Gottes starb.
Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Arm des Herrn offenbart?
„Heute war kein guter Tag. Aber morgen ist ein neuer Tag.“
…und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Gemeinde mit historischem Migra-tionshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theo-log/inn/en und Ruhestandgeistliche. Es gibt keine traditionelle „Karfreitagsfrömmig-keit“, die Karfreitagsgottesdienste sind im Unterschied zu den gut besuchten Ostergot-tesdiensten kaum besser besucht als normale Sonntagsgottesdienste.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich war erstaunt, wie schnell man in Internet Beispiele für die verschiedenen existenti-ellen Leiderfahrungen findet, die im Gottesknechtslied angesprochen und auf die Fi-gur des „Gottesknechts“ bezogen werden, und wie leicht sie von sich aus – also ohne vermittelnde Auslegung – den Bezug zum Bibeltext zeigen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Motiv der stellvertretenden Sühneleistung hat mich ermutigt, den theologisch heiklen Themenkomplex: Corona-Virus – Schuld – Strafe Gottes anzusprechen, ohne ihn detailliert zu erörtern. Das Kreuz und der Karfreitag geben theologisch unlösbaren Fragen Ort und Stunde, an dem sie gestellt werden und zu ihrem Recht kommen dür-fen, ohne dass ihre Unauflöslichkeit uns dauerhaft belastet.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
An dem oben unter 3. benannten Punkt wurde ich gebeten nochmal nachzudenken. Das hat zu klareren Formulierungen geführt. Durch die Einführung von mitzuspre-chenden Zwischenüberschriften wurde die vorher nicht klare Zuordnung von Beispiel-text und Predigttext deutlicher.