Grenzen der Öffentlichkeit von Petra Dais
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Grenzen der Öffentlichkeit von Petra Dais

Ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er kniete nieder und sprach zu ihm: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“
Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus und rührte ihn an und sprach zu ihm:“ Ich will’s tun; sei rein!“ Und sogleich wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein.
Jesus schickte ihn weg und schärfte ihm ein: „Nimm dich in acht! Erzähl niemand etwas davon, sonder geh, zeig dich dem Priester und bring das Reinigungsopfer dar, das Mose angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis.“ Der Mann aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, so dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.
In einer Welt, in der nur das gilt, was in der Zeitung steht, im Internet gepostet wird oder im Fernsehen erscheint, wirkt diese Geschichte  seltsam: Warum hat Jesus etwas dagegen, dass der Geheilte von diesem Wunder erzählt, das er soeben am eigenen Leib erfahren hat,? Warum ist Jesus so strikt gegen die öffentliche Wahrnehmung dieser Heilung? Könnte Jesus nicht vielmehr dankbar sein über diese hervorragende Öffentlichkeitsarbeit für seine Person? Immerhin hat er es ja noch nötig, steht er doch gerade am Anfang seines öffentlichen Wirkens. Und heißt es nicht „Tue Gutes und rede darüber“?
Es ist klar, dass unsere mediengeile Welt heute eine ganz andere ist, als die Welt von damals und nicht zu vergleichen ist. Aber ich habe die Vermutung, dass wir in dieser Geschichte Hinweise finden zum Thema „Grenzen der Öffentlichkeit“ und zum Umgang mit Veröffentlichungen.
Lasst uns hineingehen in die Geschichte und sehen, was da geschieht:
Aussätzig zu sein hieß damals zur Zeit Jesu ausgegrenzt zu sein – und zwar radikal -  denn zum Schutz der Gesunden durften aussätzige Menschen nicht am alltäglichen Leben teilhaben. Aussätzige, das waren Menschen mit Hautkrankheiten, v.a. Leprakranke, teilweise mit Ansteckungsgefahr. Die Gesetze waren grausam für die Erkrankten: Sie mussten außerhalb des Dorfes wohnen, hatten keinen Kontakt zu gesunden Menschen, mussten laut auf sich aufmerksam machen, wenn sie unterwegs waren, damit ihnen niemand zu nahe kommt. Nähe war nicht möglich –weder ein Gespräch, ein Handschlag, eine Umarmung oder gemeinsames Essen. Und wir alle wissen es  –  Nähe, Beziehung, Körperkontakt zu anderen Menschen ist lebensnotwendig – gerade für kranke Menschen!
Aussätzige konnten nicht auf öffentliche Plätze gehen, am kulturellen Leben teilnehmen, auch nicht an religiösen Ritualen und Feiern. Mehr noch – neben ihrer Ausgrenzung aufgrund der Hautkrankheit, wurden sie auch noch religiös diskriminiert: Die Krankheit galt als Strafe Gottes. Ihnen wurde die Schuld an ihrem Elend vorgeworfen, davon waren die Leute überzeugt, daran galt es nicht zu rütteln. Die Begegnung mit dem Göttlichen wurde ihnen verwehrt, und damit auch alle Hoffnung auf Leben, auf Heilung... .
Wie muss ein solcher Mensch sich fühlen? Abgelehnt, ausgegrenzt, über Jahre, Jahrzehnte hinweg? Ein Selbstwertgefühl kann sich in dieser Situation nicht ausbilden, vielmehr ist es wohl zum verrückt werden!
Und dann diese Geste:
„Jesus streckt seine Hand aus und berührt ihn.“
Der Kranke hatte sich an Jesus gewandt, weil er von dessen Heilkraft gehört hatte. Er kam zu Jesus, fiel vor ihm auf die Knie und sagte „Wenn du willst, kannst du mich reinigen“.
Vermutlich war es das erste Mal in seinem Leben, dass er nicht abgelehnt wurde, nicht achselzuckend abgeblitzt wurde, sondern berührt wurde.
Was für eine Energie muss das gewesen sein, diese grenzüberschreitende Geste Jesu! Ein Tabubruch. Es packt ihn die Wut (die eine, weniger gut bezeugte Leseart), oder das Mitgefühl „es jammerte ihn“ (die andere Leseart). Auf jeden Fall geht es Jesus an die Nieren und durch Mark und Bein. Die Situation des Kranken berührt ihn, gerade auch die gesellschaftliche Ausgrenzung, in der er leben muss, macht ihn wütend.
Wann lassen wir uns bewegen, wenn Menschen ausgegrenzt werden? Wann werden wir wütend, angesichts unmenschlicher Verhältnisse?
Grenzen überwinden, Ausgeschlossene integrieren, das ist die Botschaft Jesu!
Es ist kein Zufall, dass der Evangelist Markus diese Geschichte gleich im ersten Kapitel seines Evangeliums erzählt. Denn in ihr findet sich diese grundlegende Haltung Jesu: Es soll keine Ausgrenzung geben in dieser Welt, Gottes Schöpfungsidee ist, dass Mensch in Beziehung leben, miteinander, füreinander.
Im März 2009 ist in Deutschland das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen (kurz „Behindertenrechtskonvention“, BRK) in Kraft getreten. Diese Konvention ist ein Meilenstein zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft, auch wenn es bis zur Umsetzung noch ein weiter Weg ist.
Die Idee der Konvention ist, dass Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung geschützt werden und die Gleichbehandlung zwingend vorgeschrieben wird. Es sollen Maßnahmen zur Bekämpfung von Vorurteilen, Stereotypien und schädlichen Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderung ergriffen werden. Kampagnen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit und zur respektvollen Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen sollen stattfinden.
Gut, dass es diese Konvention gibt, denn sie fordert auf zum Umdenken. Sie provoziert einen Wechsel der Blickrichtung auf den Umgang mit Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen, ganz konkret in allen Lebensbereichen. Wo es noch vor Jahren das Ziel war, behinderte Menschen zu betreuen und zu versorgen, geht es jetzt um mehr: Konsequente Teilhabe, nicht nur Integration. Die Schulen werden aufgefordert, Lernsituationen zu schaffen, in denen behinderte Kinder und Jugendliche gemeinsam mit Nichtbehinderten lernen können. Auch für uns als Kirche ist diese Forderung eine Herausforderung: Wie gestalten wir unsere Jungscharen, Konfirmandengruppen, unsere Gottesdienste und Erwachsenenbildungsangebote?
In unserer Geschichte schickt Jesus den Geheilten zum Priester. Dort soll er sich zeigen und das Ritual des Reinigungsopfers vollziehen. Das ist eine sehr weise Aufforderung Jesu, denn nur durch diesen Vorgang, durch dieses Ritual hatte dieser Mensch zur damaligen Zeit die Möglichkeit und das Recht, vollständig in die Gesellschaft integriert zu werden. Jesus kennt dieses Recht sehr genau und empfiehlt dem Geheilten diesen Weg. Denn dieser Weg bedeutet für den Geheilten öffentliche Akzeptanz und ermöglicht ihm einen neuen Status.
Jesus sieht, wie wichtig es für das Selbstbewusstsein dieses Menschen ist, ein normales Leben führen zu können. So können wir das eindringliche Reden Jesu verstehen: Jesus schickte ihn weg und schärfte im ein: „Nimm dich in acht! Erzähl niemand etwas davon, sondern geh, zeig dich dem Priester und bring das Reinigungsopfer dar, das Mose angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis.“
An dieser Stelle möchte ich nochmals auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen. Warum ist Jesus so strikt dagegen, dass der Geheilte von diesem Heilungswunder erzählt?
Es gibt Dimensionen im Leben, die sind intim, nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Ich lese diese Heilungsgeschichte so, dass der Vorgang der Heilung, das Berührtwerden, der Kontakt mit Jesus und mit seiner göttlichen Kraft etwas zutiefst intimes ist. In der Theologie sprechen wir vom Geheimnis und im Markusevangelium gibt es immer wieder das Motiv des „Messiasgeheimnisses“.
Jesus unterscheidet in dieser Geschichte zwischen dem Vorgang der Heilung und der Wirkung der Heilung:
Der Vorgang der Heilung soll nicht in die Öffentlichkeit kommen.
Die Wirkung der Heilung jedoch soll vor aller Öffentlichkeit, im Tempel, von einer öffentlich eingesetzten Instanz beglaubigt werden.
In unserer Geschichte wird nichts davon erzählt, ob der Geheilte in den Tempel gegangen ist, ich hoffe es! Denn nur so wird er befreit leben können, nur so wird er aus seiner Außenseiterrolle herauskommen.
Für uns als Gemeinde Jesu Christi höre ich in dieser feinen Unterscheidung, die Jesus hier vornimmt im Umgang mit Öffentlichkeit, den Hinweis:
Seid sorgfältig in der Unterscheidung dessen, was für die Öffentlichkeit ist und was nicht. Gerade in seelsorgerlichen Begegnungen, im Bereich religiöser Erfahrungen gibt es Dinge, die nicht für Facebook, nicht für die Zeitung... bestimmt sind.
Doch im Blick auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens – zum Beispiel in der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention – da seid öffentlich wirksam.
Denn im Zentrum steht die Würde des Menschen und nicht die Befriedigung der mediengeilen Sensationslüste.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.  
Perikope
Datum 25.09.2011
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 1,40
Wochenlied: 365
Wochenspruch: Ps 103,2