Große Fragen - Predigt zu Johannes 1, 35-42 von Doris Gräb
1,35

Große Fragen - Predigt zu Johannes 1, 35-42 von Doris Gräb

Liebe Gemeinde!
Am Anfang war das Wort. – So beginnt, viele von uns wissen es, das Johannesevangelium.
Am Anfang war aber auch - eine Frage. Sie folgt auf den großen Eingangsprolog, dann, wenn der Evangelist die Geschichte Jesu zu erzählen beginnt, eben in unserem Predigttext.
 „Was sucht ihr?“ 
Bei einer fast zufällig wirkenden Begegnung zwischen Johannes dem Täufer, zwei seiner Jünger und Jesus, da wird eben diese Frage laut. Jesus fragt. Er fragt die beiden Johannes-Jünger, die ihm da grade über den Weg laufen. Doch die fragen zurück: „Rabbi, wo ist deine Herberge?“ - Und schließlich diese Antwort Jesu: „Kommt und seht!“
Vordergründig harmlos mutet an, was uns Johannes da berichtet. Ein eher unspektakuläres Zusammentreffen am Wegesrand. Und doch: voller Doppelsinn, und Hintersinn.
Fragen, die es zu erschließen gilt. Die offen zu legen sind. Vielleicht gelingt es uns ein Stück weit.
Was sucht ihr? Wo ist deine Herberge? – Und dann diese Antwort: Kommt und seht!
Eine Suchgeschichte, wie so manche andere Suchgeschichten in den Evangelien auch.
Wen sucht ihr? – So fragt Jesus am Ölberg, als sich ihm die bewaffneten Soldaten nähern, um ihn gefangen zu nehmen.
Wen sucht ihr? – So fragt der Engel am Ostermorgen die von Trauer überwältigten Frauen.
Warum suchst du denn?  So möchten wir den Hirten fragen, der seine 99 Schafe sich selber überlässt, um das eine im unwegsamen Gelände zu suchen.
Was suchen wir, auf unserem Weg durchs Leben? Suchen wir überhaupt? –
Unterwegs sind wir. Nie am Ziel. Im Wandern durch die Zeiten halten wir allenfalls nach vorläufigen Zielpunkten Ausschau – oder wir suchen immer wieder einmal nach neuen Möglichkeiten. Manchmal warten wir, und hoffen, dass sich Neues ereignet. Dass sich neue Begegnungen mit anderen Menschen ergeben.
Nie, aber auch gar nie, sind wir endgültig am Ziel. Nie sind wir wirklich angekommen und haben ein für allemal gefunden, was wir gesucht haben. Das gehört zum Menschsein unwiderruflich dazu. Deswegen bleiben wir auf der Suche – manchmal sind wir uns dessen kaum bewusst - und freuen uns, wenn wir fündig werden.  
In Augenblicken der Erfüllung. In Momenten vollkommenen Glücks. In Minuten, oder vielleicht auch Stunden, voller Dankbarkeit. In  Zeiten der Ruhe.
Wie viele Menschen sind gerade in diesen Wochen auf der Suche: nach einer Zeit der Erholung, nach größtmöglichem Abstand vom alltäglichen Geschäft, nach Quellen, um neue Kraft zu schöpfen Zu Hause, oder auf Reisen. Wie gut, wenn sie finden dürfen, was sie suchen.
Was suchen wir? In den Grenzsituationen und an den Lebensübergängen: dann, wenn ein Kind geboren wird – und auch dann, wenn das Ende des Lebens kommt - und dazwischen, wenn neue Lebensphasen beginnen? Da brechen die großen Fragen auf – und die Ewigkeit bricht für einen Augenblick herein ins Leben. 
Fragen – und Suchen – und Finden dürfen,.
Menschen, die wir lieben können – und die uns lieben. Wie gut, dass ich nicht allein durchs Leben wandern muss. Dass ich Wegbegleiter habe, die mir zur Seite bleiben, auch wenn der Weg steinig wird.
Einen Sinn für unser Leben suchen wir. Ich möchte nicht vergeblich leben. Ich möchte, dass alles, was ich bin, was ich lebe und gelebt habe, in einen großen Sinnzusammenhang hinein gestellt ist. Dass mein Leben in Gottes Ewigkeit für immer aufgehoben bleibt.                
Was sucht ihr? – So fragt Jesus die beiden Jünger, die, eben noch Johannesjünger, nun ihm nachfolgen, ihm hinter her gehen wollen. – Und die fragen zurück: „Rabbi, Meister, wo ist deine Herberge?“ „Wo bist du zur Herberge?“ – so übersetzt Martin Luther. Also: Wo ist dein Zuhause? –  Die andere große Frage am Anfang des Evangeliums.
Ein Zuhause haben. Nichts ist für ein Kind und seine weitere Entwicklung wichtiger als ein gutes Zuhause. Nichts brauchen auch wir Erwachsenen mehr als ein sicheres, behütendes, bergendes Haus, obwohl wir doch immer in Bewegung, auf der Wanderschaft sind.
Wo bist du zur Herberge? Keine Geschichte in der Bibel, kein Bild der Bibel rührt mich mehr als das Bild vom Verlorenen Sohn, der sich nach mancherlei Irrungen und Wirrungen wieder auf den Weg nach Hause macht. Weil er noch weiß, wo sein Zuhause ist. Und dort steht der Vater, vor dem Haus, und wartet – und läuft ihm schließlich entgegen. Die Fenster sind erleuchtet – das Vaterhaus ist bewohnt, ist auch während der langen Abwesenheit immer bewohnt geblieben.
Wo sind wir zur Herberge? Mehr und mehr ahnen wir, welche Tiefendimensionen in jenem Dialog verborgen sind. Welche Vielschichtigkeit nicht zuletzt die Rede von der Herberge, der schlichten Unterkunft, in Wahrheit in sich birgt.
Nichts ist schöner, als nach langer und aufregender  Reise endlich eine bergende Unterkunft gefunden zu haben. Endlich ein Dach über meinem Kopf, wenigstens für diese Nacht. Ich kann mich an solche Reisen in anderen Ländern gut erinnern.
Rabbi, Meister, wo bist du zur Herberge?
An einer anderen Stelle des Evangeliums sagt Jesus: die Füchse haben Gruben, und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Nirgendwo ist er zu Hause auf dieser Erde. Und doch: wie kein anderer, das hören wir aus den vielen Jesus-Geschichten der Bibel immer wieder heraus: in Gott zu Hause. In seiner unbedingten Liebe. Im Hause seines Vaters. Dort sind viele Wohnungen – für ihn, und für alle, die ihm nachfolgen.
Meister, wo ist deine Herberge? Und er sprach zu ihnen: Kommt und seht!  Nicht mehr und nicht weniger. – Und sie kamen und sahen´s und blieben diesen Tag bei ihm.
Was werden die beiden Jünger gesehen haben am Ende dieses Tages? – Was werden sie miteinander gesprochen, getan haben? - Wir erfahren es nicht. Das bleibt ein Geheimnis. Wir hören nur, dass sie danach dann, nachdem sie gekommen waren und gesehen hatten, dem Simon Petrus berichteten: wir haben den Messias gefunden. Den Heiland haben sie gefunden, den Heilmacher. Das Haus, in dem sie sich ganz und gar bergen können.
Und wir? Nein, das Finden der Johannesjünger verschafft uns nun keineswegs mehr Eindeutigkeit. Mit leisen Zwischentönen will uns der Evangelist Johannes vielmehr anhand dieser so belanglos klingenden Such- und Weggeschichte darauf hinweisen: Nicht eindeutig ist der Weg, um die Wahrheit und das Leben zu finden – und den Sinn, nachdem ihr euch sehnt. Nicht eindeutig – und im Voraus beschreibbar ist der Weg zu eurem wahrhaften Zuhause. Nein, jeder muss für sich selber sehen. Muss seine eigenen Entdeckungen machen. Muss sich selber auf den Weg machen und nach dem Ausschau halten, was ihm zum Leben hilft. Jeder, jede muss für sich den Heiland finden, den Messias, den bergenden Zufluchtsort.
Begreifen wir’s? Ist es nicht viel zu schwer, oder gar beliebig? – Ja – und nein. Nicht vorgezeichnet ist der Weg zur Erfüllung – und deswegen eine bleibende Aufgabe. Im Nachhinein erkennen die Jünger in diesem Jesus ihren Messias. Wodurch und warum, erfahren wir nicht.
Ich muss an Mose denken, der vor dem brennenden Dornbusch steht und fragt: wer bist du? Wie ist dein Name?  Und dann ähnlich Geheimnisvolles zu hören bekommt: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Du kannst mich und meinen Namen erfahren – indem du dich selber auf den Weg machst – und fragst und suchst. Nicht vorgezeichnet ist der Weg zur Begegnung mit mir. Bleib auf der Suche. – Und schau mir hinterher. Deute im Nachhinein, was du erlebt und erfahren hast – und nimm dir die Freiheit, das in Beziehung zu mir zu bringen. –
Die großen Fragen also wach halten: was suchen wir? Wo bin ich zu Hause? Niemand kann mir abnehmen, selber so zu fragen und nach einer Antwort Ausschau zu halten.
Ein weiter, weiter Raum ist mein Leben. – Ihn zu erkunden, zu durchschreiten, ihn im Rückblick zu werten und zu deuten: welch ungeheure Freiheit, welch hohe Aufgabe ist mir da aufgegeben. Ich selber kann Gott finden – ich selber kann den Messias, den Heiland für mein Leben finden. Die Johannesjünger, die schließlich zu Jesus-Jüngern wurden, nehmen mich gleichsam an die Hand, wie sie damals Simon Petrus an die Hand genommen haben: Komm – und sieh selber. Sieh dem hinterher, was du schon erlebt und erfahren hast. Sieh dem hinterher, was dich glücklich gemacht hat. Jene Augenblicke tiefster und vollkommenster Freude, in denen du ganz bei dir selbst warst. – Gott war mit dabei in deinem Erleben. Sieh denen hinterher, die dir Liebe und Freundlichkeit entgegengebracht haben – ohne dass du es dir verdient hättest. Gott ist in dem Anderen da, der dir zum Nächsten geworden ist. Sieh jenen Augenblicken hinterher, in denen du andere glücklich gemacht hast. Ein dankbarer Blick. Eine freundliche Geste zur Erwiderung. Ganz bei dem Anderen, und ganz bei dir selber sein. Sieh dem hinterher, was dir solche Augenblicke höchsten menschlichen Glücks ermöglicht hat.
Anders mögen wir uns eine Antwort auf die großen Fragen vielleicht vorgestellt haben. Eindeutiger. Klarer. Spektakulärer. Doch ich fürchte, anders ist das Finden des Gottesreiches nicht zu haben als eben so. Als eben so, dass wir uns selber auf den Weg machen – und suchen – und fragen. – Und immer wieder einmal zu der tiefen Ein-Sicht gelangen: in diesem oder jenem Augenblick ist mir der Himmel aufgegangen – und ich habe gesehen und erkannt, wo mein Zuhause ist.
Eine harmlose Begegnung am Wegesrand? Wir merken, dass es alles andere als das ist, was uns der Evangelist Johannes da erzählt. Eine Geschichte voller Tiefsinn, voller Weisheit, voller Lebenserfahrung und Glaubenserfahrung ist es. Gott war bei euch. Gott ist bei euch. Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Kommt und seht! Seht nur richtig hin!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen