Große Freude? Worüber?
Christi Himmelfahrt nennen wir das heutige Fest. Christi Himmelfahrt? Tun wir uns damit eigentlich einen Gefallen? Welche Vorstellung weckt diese Festbezeichnung, wenn wir sie wörtlich nehmen? Nein, sagen wir dann, wir dürfen diese Bezeichnung nicht wörtlich nehmen, sie ist irgendwie anders zu verstehen. Aber wie anders? Es geht nicht darum, in einer sprachlichen Bilderstürmerei gegen die Rede von der Himmelfahrt Christi Sturm zu laufen. Es handelt sich um eine Bezeichnung, die Tradition hat und in deren Tradition wir gottseidank immer noch stehen. Nur müssen wir, um ihren Kern zu bewahren bzw. ihn für uns neu zu gewinnen, diesen Kern für uns neu aufbrechen, um das zu Gesicht zu bekommen, was er von Anfang an meinte, und wir nicht bei dem hängen bleiben, was dieser Kern von Anfang nicht meinte.
Es mag uns überraschen und führt dabei exakt in die richtige Richtung, zu hören, dass im heutigen Evangelium – es ist der allerletzte Abschnitt des gesamten Evangeliums – die Worte Himmel, geschweige denn Himmelfahrt, überhaupt nicht vorkommen. Am Ende heißt es vom Auferstandenen in aller Knappheit und in aller zu interpretierender Offenheit: er trennte sich von den Jüngern. Unsere Einheitsübersetzung bietet bereits eine Interpretation, wenn sie stattdessen sagt: Jesus wurde zum Himmel emporgehoben. Diese Übersetzung lehnt sich offensichtlich an die Aussage der Apostelgeschichte an, nach der Jesus vor den Augen der Jünger „emporgehoben“ wurde. Aber selbst da fehlt der Begriff Himmel. Empor, nach oben, das weist nach unserer menschlichen Orientierung immer in Richtung Himmel. Der Auferstandene also trennte sich von den Jüngern. Aber das lässt das Evangelium nicht einfach so stehen.
Der Auferstandene sagte zu seinen Jüngern …, so setzt das heutige Evangelium ein. Und dann folgt ein etwas verdrechselter Satz, in dem der Auferstandene die Jünger an das erinnert, was er ihnen früher schon einmal dargelegt hatte. Und zwar dreimal. Die Jünger aber hatten es nie verstanden: die Ankündigung seines Leidens, seiner Hinrichtung und seiner Auferstehung (vgl. Lk 9,22.45; Lk 18,31-34). Diesmal zeigt der Auferstandene den Jüngern aus den Schriften des Mose, der Propheten und der Psalmen auf, dass er das alles habe erleiden müssen.
Ich denke, es braucht keine große Gelehrsamkeit, um zu erkennen, dass das Lk-Evangelium in diesen Sätzen keine reale Szene der Jünger mit dem Auferstandenen wiedergibt, sondern dass sich in ihr der Verarbeitungsprozess der Jünger widerspiegelt, mit Jesu Tod und dem Widerfahrnis seiner Auferstehung fertig zu werden. Der Schwerpunkt der Verarbeitung liegt dabei auf seiner Hinrichtung, auf seinem Leiden, auf seinem schrecklichen Ende, das so gar nicht in das Bild eines von Gott gesandten und von Gott begnadeten und erfüllten Propheten zu passen schien. Das Ende Jesu war in der Tat ein für die Jünger kaum zu verdauender Brocken. Und ebenso wenig für die ersten christlichen Gemeinden.
War es möglich, eine Argumentationslinie zu finden, nach der Jesu unfassbares Ende seinen Platz in der Tradition des Glaubens der Schrift haben konnte? Man fand diese Argumentationslinie, wie wir auch an der Emmauserzählung ersehen können, aus dem Rückbezug auf das Alte Testament oder, wie wir richtiger sagen sollten, auf das Erste Testament. Nach einer neuen Deutung „musste“ Jesus vieles erleiden, ohne dass damit sein Leiden, sein Tod, seine Auferstehung ganz erklärbar geworden wären. Das Alte Testament bot Argumentationslinien an, die das „Schicksal“ Jesu vorzeichneten. Vor allem von den Gottesknechtsliedern bei Jesaja her ließen sich diese Argumentationslinien entwickeln. Sie boten sich als Folie an, auf der man das Schicksal Jesu annähernd deuten konnte. Für die Jünger und für die ersten Gemeinden waren das wichtige, ja unentbehrliche Vergewisserungsschritte.
Im Licht dieser damaligen Deutung des Lebens und Schicksals Jesu vom Alten Testament her kann uns die grundsätzliche Relevanz des Alten Testaments für unseren christlichen Glauben zu Bewusstsein kommen. Darüber ist es in letzter Zeit zu einem unter evangelischen Theologieprofessoren an der Humboldt-Universität zu Berlin, auch in den Medien ausgetragenen, Diskurs gekommen. Einer der Kollegen, ein Systematiker, war durch die These hervorgetreten, dass das Alte Testament für den christlichen Glauben keine wirkliche Relevanz besitze. Man könne ihm allenfalls den Rang von „Apokryphen“ zuerkennen. Das waren Texte, die in der frühen Kirche vorübergehend eine gewisse Bedeutung hatten, die sich aber auf Dauer keiner allgemeinen Anerkennung erfreuten. Ohne hier die Auseinandersetzung weiter zu bewerten, belegen doch allein schon die Texte unserer Evangelien, welchen Rang für sie das Alte Testament hatte und bleibend hat.
In unserem Evangelium führt der Auferstandene die Jünger hinaus nach Betanien, ein stadtnaher Ort bei Jerusalem am Osthang des Ölbergs gelegen. Auch wenn der Ölberg topographisch hier nicht ausdrücklich genannt wird, dürfte er für das Lk-Evangelium den eigentlichen Ausschlag für die Wahl des Ölbergs als „Abschiedsort“, als Ort der Trennung vom Auferstandenen gegeben haben. Für eine Trennung, die, wie wir erfahren, keine wirkliche Trennung war. Die Wahl des Ölbergs könnte dabei als Gegenbild zum Einzug Jesu in Jerusalem zu deuten sein. Der Einzug endete auf Golgota. Jetzt aber lässt das Lk-Evangelium die Szene, die theologisch zu deuten ist, im Bereich des Ölbergs spielen, dem Jerusalem zu Füßen liegt. Vom Ölberg „blickte“ man auf Jerusalem „herab“. Das könnte als Symbol zu deuten sein, dass Jerusalem, hier stellvertretend für die Tradition des gesamten Alten Testaments stehend, dem Auferstandenen zu Füßen liegt. Dies dabei nicht verstandenen im Sinn einer Abwertung, gar Entwertung, sondern Jerusalem würde so gedeutet als Zentrum einer Tradition von bleibendem Wert, die in der Gestalt Jesu gewissermaßen überhöht wurde und in dieser Überhöhung in ihrem bleibenden Wert bestätigt wurde.
Nach dem Lk-Evangelium stellt die Trennung von Jesus nur das eine dar. Ja, der Aspekt der Trennung, die gewiss nicht zu leugnen ist, wird sogleich relativiert, ja, transformiert in eine neue Art des Gegenwärtig seins des Auferstandenen. Der Auferstandene segnet seine Jünger. Und das nicht nur für einen Moment, der im nächsten Moment Vergangenheit ist. Sein Segen ist die andere Seite der Trennung. Denn indem er sie segnete, trennte er sich von ihnen. Hier ist das eine gleichzeitig das andere.
Mit anderen Worten: Die Jünger beginnen zu erkennen und beginnen daraus zu leben und ihren Auftrag zu gestalten, dass der Auferstandene lebt, dass er mit seiner Segensfülle ihr Leben begleitet. In dieser Gewissheit wenden sie sich Jerusalem zu, das ihnen – im übertragenen Sinn – zu Füßen liegt. Und sie sehen ihren Einsatzort, ihr Aktionsfeld mit großer Freude zunächst nirgend anderswo als – im Tempel! Hier „lobten“ sie Gott, heißt es verkürzt. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass sie die Segensfülle, die sich für sie mit dem Auferstandenen verband, an die Menschen weitergaben, die Menschen auf sie aufmerksam machten.
Von einer „Himmelfahrt Christi“ bleibt da nicht viel. Bzw. von ihr bleibt alles! Bleibt das Wichtigste: Seine Gegenwart, die unser Leben durchströmt und mit der Dynamik des Glaubens erfüllt. Werfen wir den Ballast, den uns vielleicht die Vorstellung einer Himmelfahrt macht, ab. Erfassen wir das Wesentliche dieses Festes, dann könnte sich auch in unseren Herzen, in unserem Leben große Freude breitmachen.