Guter Hoffnung! - Predigt zu Lk 1,26-38 (39-56) von Anita Christians-Albrecht
1,26-38 (39-56)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott und von unserem Heiland und Bruder Jesus Christus. Amen.

Solche Geschichten gibt es immer noch, liebe Gemeinde. Eine Jugendliche hat mir gerade wieder eine erzählt: Die Geschichte von Vanessa Hudgen, dem großen Star von Highschool Musical. Sie hat geschafft, wovon viele träumen. Kommt aus ärmlichen Verhältnissen und ist nun Hollywood-Star. Vanessa Hudgen – Aschenputtel – Julia Roberts als Pretty Woman: In all diesen Geschichten passiert etwas Wunderbares: Das Leben eines Menschen verläuft auf einmal ganz anders, als man es erwartet.
Eine sehr alte Version dieses bekannten Themas steht in der Bibel. Ich meine die Geschichte von Maria. Maria – wer ist das eigentlich? Eine ganz normale junge Frau aus Nazareth, einer kleinen Stadt in Galiläa. Sie kommt aus einfachen Verhältnissen. Und wie das damals so war, hat man sich etwas überlegt: Maria könnte doch gut den Josef heiraten. Der hat Zimmermann gelernt und ist keine schlechte Partie. Maria wird man nicht gefragt haben. Was sie als junge Frau denkt und fühlt und träumt, spielt keine Rolle. Aber dann passieren auf einmal seltsame Dinge: Maria sieht einen Engel. Heutzutage würde sie vielleicht in der Psychiatrie landen. Das bleibt ihr erspart. Aber es bleibt ihr nicht erspart, dass sie schwanger wird. Ohne dass sie verheiratet ist. Das Ansehen verspielt, die Achtung von vielen verloren. Ein Skandal! So war das damals. Und es kommt noch schlimmer: Was erzählt diese Maria da? Ein Kind von Gott, ganz ohne Mann? Wer’s glaubt, wird selig! Ja, Maria hat eine Begegnung mit einem Engel. Der spricht sie an, wie sie noch nie jemand angesprochen hat: Sei gegrüßt, Maria, der Herr ist mit dir; er hat dich zu Großem ausersehen! Was für eine Begrüßung!
Ich denke, so ein Gruß bedeutet eine ganze Menge. Wenn ich freundlich und herzlich begrüßt werde, wenn ich merke, dass sich jemand wirklich freut, mich zu sehen, dann hat das meistens eine sehr positive Wirkung auf mich. Und genauso kann es niederschmetternd und deprimierend sein, wenn man mich gar nicht grüßt oder mit einem unfreundlichen Tag! abspeist. Ein freundlicher Gruß kann sogar Leben retten. Davon erzählt die Literaturprofessorin Yaffa Eliah: von einem Danziger Rabbiner, der bei seinen täglichen Spaziergängen regelmäßig den deutschen Arbeiter Herrn Müller trifft und ihn immer mit Guten Morgen, Herr Müller! grüßt. Jahre später wird der Rabbiner nach Auschwitz deportiert und steht auf der Selektionsrampe. Er hört die Stimme, die einteilt, schon von weitem: Rechts, links, rechts, links, links … – Vorne angekommen, sieht er dem Mann mit den weißen Handschuhen ins Gesicht. Guten Morgen, Herr Müller! hört er sich sagen – und den anderen antworten: Guten Morgen, Herr Rabbiner! Was machen Sie denn hier? – Und die weißen Handschuhe zeigen nach rechts – zum Leben. Das war die Macht des Guten-Morgen-Grußes! hat der Rabbiner später immer wieder gesagt.

Sei gegrüßt, du Begnadete! Das bedeutet so viel wie: Gut, dass du da bist! Gut, dass es dich gibt! Ich stelle mir vor, dass Maria so etwas noch nicht erlebt hat: Solch einen Gruß, eine so herzliche Botschaft. Und dass sie auf einmal Zuversicht spürt und Energie, Vertrauen und Selbstvertrauen. Da sagte Maria: Ich gehöre dem Herrn, ich bin bereit. Es soll an mir geschehen, was du gesagt hast. Enorm, was der Zuspruch des Engels erreicht. Aber es geht noch weiter: Maria besucht ihre Cousine Elisabeth. Auch sie erwartet ein Kind. Auch sie hat schlimme Zeiten hinter sich. Sie wurde und wurde nicht schwanger. Das war eine Schande im damaligen Israel und wurde entsprechend kommentiert und betuschelt.
Auch von ihr wird Maria auf eine ganz besondere Art und Weise begrüßt: Gesegnet bist du von Gott, ruft Elisabeth ihr zu, auserwählt unter allen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Ave Maria! Auch hier Zuspruch und Ermutigung. Elisabeth freut sich mit Maria über ihr besonderes Kind. Sie verstärkt das, was der Engel gesagt hat. Und auf einmal kann Maria annehmen, was mit ihr passiert. Auf einmal weiß sie: Gott ist bei mir. Er gibt mir Kraft. Er macht aus mir, einer kleinen mutlosen Frau, auf die die Leute mit Fingern zeigen, einen starken und wichtigen Menschen, der eine Aufgabe hat: Zu sagen, wie Gott sich diese Welt vorstellt.
Die Worte, die Maria dann sagt, sind bekannt und berühmt. Ganz oft hat man sie vertont: Mein Herz preist den Herrn, alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter! Er stürzt die Mächtigen vom Thron und richtet die Unterdrückten auf. Den Hungernden gibt er reichlich zu essen und schickt die Reichen mit leeren Händen fort. Das Magnificat. Der Engel war wichtig. Keine Frage. Aber auch Elisabeth. Ihre Nähe, ihre Worte lösen Maria aus ihrer Starre. Ihre Anerkennung setzt in Maria Kräfte frei. Wenn ich Sie jetzt fragen würde, würden Sie es mir bestätigen? Dass es auch in Ihrem Leben solche Begegnungen gab. Begegnungen, die Sie und Ihr Leben verändert, Sie zu dem gemacht haben, was Sie heute sind. Begegnungen, die vielleicht auch dazu führten, dass Sie sich engagieren, gegen Unrecht und Gewalt Ihre Stimme erheben?

Maria und Elisabeth sind schwanger. Beide sind ‚guter Hoffnung‘! Ein wunderbarer Ausdruck für eine Schwangerschaft – für die Vorfreude, den Blick nach vorne, die Aussicht, dass sich etwas ändert. Das ist eigentlich Advent, oder? Guter Hoffnung sein. Schwanger gehen – auch die Männer – mit einer großen Erwartung. Mit der Erwartung, dass sich etwas ändert. Auch über unseren persönlichen Horizont hinaus. Ich denke, diese tiefe Sehnsucht nach Veränderung spüren viele in diesen Tagen. Sie führt dazu, dass wir uns mit Weihnachten so viel Mühe machen. Wenigstens an diesen wenigen Tagen soll es anders sein, friedlicher, harmonischer, Sinn-voller.
Maria ist überzeugt, dass es irgendwann anders sein wird. Sie spürt es schon in ihrem Bauch. Auch wenn es noch verborgen ist. Und sie erlebt, was viele erleben, die ‚guter Hoffnung‘ sind: Dass die Welt sich schon jetzt verändert, weil sie in Zukunft eine andere sein wird. Der Lobgesang der Maria enthält den Sprengstoff der Hoffnung. Deshalb klebten die Menschen übrigens Marienbilder an die großen Tore der Werft in Danzig. Damals, 1980, als die freie Gewerkschaft Solidarnosc im Widerstand gegen das kommunistische Regime gegründet wurde.

Und heute?

Ich stelle mir vor, dass Lisa von Maria hört. Ihr graut vor Weihnachten. Im September ist ihre Enkeltochter gestorben. An ihrem dritten Geburtstag. Plötzlicher Kindstod. Ohne Erklärung. Der Heilige Abend ohne die Kleine. Wie sollen sie das schaffen? Nein, sie wird wohl keinen Tannenbaum aufstellen.
Ich stelle mir vor, dass Amira von Maria hört. Ihr Sohn ist 2015 nach Deutschland gekommen. Aus Syrien, wo er nicht mehr sicher war. Sie freut sich. Er hat die Sprache gelernt, studiert inzwischen, ist glücklich mit seiner Freundin. Sie skypen und whatsappen – natürlich. Aber manchmal zerreißt die Sehnsucht nach ihrem Kind ihr fast das Herz. Sechs Jahre ist es her seit ihrer letzten Umarmung. 10 Jahre Krieg und Unterdrückung in Syrien. Wie lange soll das noch dauern?
Ich stelle mir vor, dass Lea von Maria hört: Wird sich wirklich etwas ändern? Seit drei Jahren engagiert sie sich für Fridays for Future. Es muss sich doch was ändern, wenn die Welt nicht untergehen soll! Warum begreifen die Menschen das nicht? Und nun Glasgow? Das ist doch alles weit entfernt von dem, was nötig ist.

Maria, der Engel und Elisabeth – was richten sie aus im Dezember 2021?

Auch unsere Wirklichkeit wird manchmal angerührt. Von einem Wunder, von einem Traum, von Ermutigung – durch Gott und andere Menschen. Das hat Maria erlebt. Ihre Begegnung mit der himmlischen Macht und der Zuspruch durch Elisabeth haben ihr Kraft gegeben, haben ihr Mut gemacht.
Lisa, ich weiß, wie dir zumute ist, würde sie deshalb vielleicht sagen. Aber du bist nicht allein. Gott schickt dir Menschen, die dir zuhören. Die mit dir gemeinsam weinen und irgendwann wieder lachen.
Und ihr, Amira und Lea: Ja, noch ist es nicht so. Noch lassen Gerechtigkeit und Frieden auf sich warten. Aber die neue Welt Gottes kommt! Gebt die Hoffnung nicht auf. Und während ihr wartet, könnt ihr schon helfen, dass sie spürbar wird.  
Gott kommt in unsere Welt. Für Maria ist das konkret. Sie ist schwanger. Gott wird Mensch. Die Liebe wird zur Welt kommen. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Anita Christians-Albrecht

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen habe ich Menschen, die durch die gegenwärtige (Corona-)Situation sehr verunsichert sind und ihre Gefühlslage als ‚mütend‘ (eine Mischung aus Erschöpfung und Wut) empfinden. Die Botschaft von der Hoffnung zu vermitteln, erscheint mir in diesem Jahr nicht leicht. Marias Geschichte bietet sich deshalb nach meiner Einschätzung an, um mitzugehen, zu erleben und (vielleicht neu) zu hoffen. Dazu möchte ich einladen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
‚Guter Hoffnung sein‘ – einmal mehr erlebe ich diesen Ausdruck als eine wunderbare Beschreibung für den Advent und die Veränderung von Menschen (und Welt) durch die Hoffnung auf eine andere Zukunft. Die Welt verändert sich schon jetzt, weil sie in Zukunft eine andere sein wird (und weil Gott und andere Menschen mir das zusagen) - das ist der homiletische Schlüsselsatz meiner Predigt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
An dem Zusammenspiel von ‚himmlischer' und ‚irdischer' Ermutigung werde ich sicher noch weiterdenken. Lk. 1, 26ff. hat mir noch einmal deutlich gemacht, dass der Zuspruch und die Akzeptanz durch den Engel und die Anerkennung und Ermutigung durch Elisabeth einander ergänzen und befruchten. Beide Begegnungen zusammen schenken Maria Kraft für das, was kommt, so dass sie am Ende sogar das Magnificat singen kann.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die sorgfältige und ausführliche Redaktion durch meinen Predigtcoach war mir eine große Hilfe. Zunächst war mir die Anregung wichtig, insgesamt noch ein wenig zu konzentrieren und zu kürzen. Und wieder einmal hat sich gezeigt: Konzentration tut einer Predigt immer gut. Sehr gewinnbringend fand ich die genaue Beschäftigung mit Begriffen: Was ist Hoffnung? Was ist Sehnsucht? Bei der Hoffnung liegt der Fokus auf der Erfüllung; bei der Sehnsucht auf der Diskrepanz zur Realität. Maria trägt die Hoffnung schon in sich; die Hoffnung hat Aussicht, zur Welt zu kommen.


 

Perikope
19.12.2021
1,26-38 (39-56)