Liebe Gemeinde am Neujahrstag,
„Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit und wusste sich in alles wohl zu schicken, der jüngere aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen und wenn die Leute ihn sahen, sprachen sie: Mit dem wird der Vater noch seine Last haben…
Nun geschah es, dass der Vater einmal zu ihm sprach: „He du da, in der Ecke, du wirst groß und stark, du musst auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie sich dein Bruder Mühe gibt? Aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.“ „Ei, Vater“, antwortete er, „ich möchte gerne etwas lernen. Ja, wenn`s anginge möchte ich gerne lernen, wie`s mir gruselt…“
So beginnt das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.
Ich mochte es nicht. Ich mochte es nie und habe mich als Kind schon gefragt – wie wahrscheinlich alle –: „Gibt es denn nicht genug, was Menschen erschreckt, wovor sie sich ängstigen und fürchten, was ihnen Angst macht und das Fürchten lehrt? Muss man da ausziehen in die große weite Welt, um das Fürchten erst zu lernen?“
Ich hatte eine im Grunde behütete Kindheit und Jugend, aber das Wissen darum, dass das Glück und die Sicherheit, dass der Friede und das Leben überhaupt, vor allem das der Menschen, die man liebt, nicht selbstverständlich ist, war allezeit präsent.
Da hatte die Mutter uns Kindern viel vom Krieg, den Verlusten und dem Schmerz erzählt, von Flucht und Vertreibung. Armut und bitterer Not. Und das alles schien, als wäre es gestern gewesen und so, als könnte es jederzeit wieder über uns hereinbrechen.
Da herrschte am Abendbrottisch oft beklemmende Stille und die zwei Worte „Kurzarbeit“ und „Entlassungen“ schwebten zeitweise ständig im Raum, obwohl wir gar nicht so genau wussten, was Kurzarbeit war. Aber das Düstere und Bedrohliche hing in der sonst behaglichen Küche wie eine dunkle beklemmende Wolke.
Da starben Schulkameraden und Großeltern und es gab Krebs, der Mütter einfach dahinraffte.
Da ließen sich Eltern der anderen scheiden und zurück blieben Kinder, die damals noch mit Scham sagten: „Mein Vater wohnt nicht bei uns.“
Da lasen wir im „Tierfreund“, der einzigen Zeitschrift, die wir vier Kinder gemeinsam bezogen, von Umweltkatastrophen, ausgelaufenen Öltankern, sterbenden Tieren und Wäldern, vergiftetem Wasser und verpesteter Luft. Es schien „fünf vor zwölf“ zu sein.
Und ich hatte Angst.
Angst vor „zwölf“, Angst vor Krebs, Angst vor dem Tod der Eltern und Geschwister, Angst vor der Arbeitslosigkeit des Vaters, Angst vor Krieg, Unglück und Armut. Ich habe mich mit meinen Ängsten damals als Kind niemandem anvertraut. Wem auch. Aber was wäre gewesen, wenn jemand gesagt hätte: „Hab keine Angst. Fürchte dich nicht.“ Und mir versucht hätte, Sicherheit zu geben in einer fragilen Welt, in der das Glück und das Leben so unglaublich zerbrechlich zu sein scheint.
Wir sind erwachsen geworden. Zumindest die meisten, die heute hier sind. Wir stehen mit beiden Beinen in unserem Leben und haben bis heute, bis zum Neujahrstag 2017 unsere Erfahrungen gemacht. Nicht „Second Hand“, nicht nur vom Hören-Sagen und aus den Erzählungen der Anderen, sondern auch am eigenen Leib. Glück, Erfolg, erreichte Ziele, liebe Menschen um uns herum, ein Zuhause und Sicherheiten, die unser Leben zu halten scheinen wie ein Gurt, ein Seil, ein Anker.
Aber auch das Andere: die Bedrohungen, die Brüche, die Verluste und die Angst davor. Auch an der Schwelle zum Jahr 2017. Auch an der Schwelle zu einem neuen Jahr mit der Ungewissheit, was es uns bringen wird.
Nach den Jahresrückblicken des alten Jahres. Den großen, in den Bildern der Zeitungen und des Fernsehens. Nach den Jahresrückblicken im eigenen Leben. Mit dem, was war im vergangenen Jahr. Wir haben es noch nicht losgelassen.
Und wir sind hier mit unseren Plänen, unserer Freude und sicher auch mit den Sorgen und Befürchtungen für das neue Jahr. Das manchen von uns beschäftigt wie mich damals als Kind.
Was wird kommen im kommenden Jahr?
Wir haben die Bilder vor Augen von Krieg und Terroranschlägen, von Brutalität und Skrupellosigkeiten. Wo bist Du denn noch sicher? Wo hast Du keine Sorge, wo Deine Kinder hingehen: Um Silvester zu feiern, einen Weihnachtsmarkt zu besuchen oder ein Fußballspiel.
Wenn Du ein Flugzeug besteigst oder zum Arzt musst und Du auf die Diagnose wartest?
Und wenn nun einer käme und sagte: Fürchte dich nicht. Du brauchst keine Angst zu haben.
Es war an jenem Abend, da Jesus das letzte Mal mit seinen Jüngern zusammen war. Er hatte ihnen die Füße gewaschen, er hatte mit ihnen das letzte Mahl gehalten, er wusste um das, was kommt und geschehen werde. Den Verrat hatte er vorausgesagt, um den Verräter gewusst, mit dem er am Tische saß. Und Simon Petrus, der den Mund immer zu voll nahm, hatte er vorausgesagt, dass er ihn verleugnen werde. Und dann kündigt er seinen Abschied an. Seinen Tod vor Augen.
Welche Ängste mögen da die Jünger gepackt haben?
Welche Not und welches Erschrecken mag da über sie gekommen sein und welches sollte kurze Zeit später noch über sie kommen?
Viel konkreter als ungewisse Sorgen vor einem neuen Jahr.
Den Boden unter den Füßen mussten sie verlieren, alles was ihnen bis dahin Halt und Kraft gegeben hatte, drohte ihnen genommen zu werden. Das war das Ende. Das war das Aus.
Aber Jesus sagt:
Euer Herz erschrecke nicht, glaubt an Gott und glaubt an mich […] Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh 14,1.6)
Euer Herz erschrecke nicht.
Es geht nicht um das Gruseln, wie im Märchen. Es geht nicht um das Befürchten und Sich Sorgen, wie an der Schwelle eines neuen Jahres.
Es geht um das Erschrecken im tiefsten Inneren, das wir haben. Euer Herz erschrecke nicht. Und es gibt einen Weg. Es gibt Wahrheit. Es gibt Leben.
Unser Herz erschreckt, wenn es konfrontiert wird mit etwas Schrecklichem. Wie die Anschläge in Berlin und Paris. Unserem ohnmächtigen Gefühl angesichts der verzweifelten Situation der Menschen in Aleppo. Wie der Tod eines lieben Menschen, beinahe fünfzig waren es alleine in unserer kleinen Gemeinde im vergangenen Jahr. Wie die Diagnose einer schrecklichen Krankheit. Wie…
Euer Herz erschrecke nicht? Wir erschrecken aber.
Wenn wir realistisch sind und konfrontiert werden mit schrecklichen Nachrichten oder Umständen erschrickt unser Herz, rutscht uns der Boden unter den Füßen weg, wissen wir nicht ein noch aus. Wie die Jünger in jener Nacht, als er gefangenen genommen wurde und fortgebracht wurde in den sicheren Tod. Wie die Jünger, als sie unter dem Kreuz standen und tatenlos zusehen mussten, wie er hingerichtet wurde.
Euer Herz erschrecke nicht. Soll das ein Witz sein? Menschliche Herzen erschrecken aber, sind erschüttert, werden krank vor Angst, brechen vor Traurigkeit. Und Jesus sagt: Euer Herz erschrecke nicht.
Er sagt noch mehr. Er sagt: Glaubt an Gott und glaubt an mich. Und er sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh 14,6)
Trotzdem.
Glaubt an Gott und glaubt an mich.
Gerade deshalb.
Glaubt an Gott und glaubt an mich. Und es gibt einen Weg.
Auch und gerade da, wo nichts von seiner Macht und Kraft und Güte zu sehen ist.
Das ist kein Witz. Das ist wahrhaftig eine Herausforderung. Das heißt, seinen Anker in den Himmel zu werfen, wenn er so dunkel ist wie nie zuvor.
Von einem damals jungen Paar, deren Kind ich zu beerdigen hatte, lernte ich vor einigen Jahren dieses Gebet von Jörg Zink:
Ich weiß Herr, dass du mich nicht am Leid vorbeiführst, aber du führst mich hindurch.
Und wenn ich im finsteren Tal wandere und deine Hand nicht finde, so fürchte ich doch kein Unglück, denn du bist bei mir.
Ich vertraue dir, Herr und Vater, auch wenn ich nichts verstehe.
Ich überlasse mich dir. Tu du mit mir, was du willst.
Ich lege mich in deine Hand und danke dir, wenn ich immer besser lerne, dies und sonst nichts zu wollen. Einzig dies wünsche ich, dass dein Wille sich an mir erfüllt.
Ihr Herz war erschreckt, aber sie glaubten dennoch an Gott. Sie hielten dennoch an ihm fest, dass er es am Ende gut machen werde – mit ihnen, mit ihrem Kind, mit dem ganzen Leben. Ich habe sie bewundert.
Euer Herz erschrecke nicht, glaubt an Gott und glaubt an mich – das ist kein banales „Habt nur keine Angst. Es wird schon wieder.“ Und es ist auch keine Mutmachparole, wie die unserer Bundeskanzlerin oder anderer Politiker: Wir schaffen das schon!
Der, der unser Wort spricht, weiß, wovon er spricht. Er war den Menschen nah. Ganz nah. Er weiß, wovon er spricht. Nämlich davon, dass uns im Laufe unseres Lebens sehr wohl – jeden und jede von uns – Dinge zustoßen, die schwer auszuhalten und zu überstehen sind.
Harold Kushner, Rabbiner und Autor verschiedener Bücher, schrieb:
Viele von uns sehen in der Welt nur zwei Arten von Menschen: Gewinner und Verlierer. Die einen bekommen alles, was sie sich wünschen, die anderen nicht. Doch die Realität ist viel komplizierter. Niemand bekommt alles, was er gerne hätte. Ich sehe in der Welt Menschen, die gewagte Träume haben, obwohl sie wissen dass einige sich nicht erfüllen. Menschen, die etwas anspruchslosere Träume haben und befürchten dass sich sogar die bescheidensten nicht erfüllen. Und Menschen, die aus Angst überhaupt nicht träumen.
Ich wünschte, es gäbe mehr Menschen mit gewagten Träumen, die ihrer eigenen Widerstandskraft vertrauen, die ihre Träume trotz unumgänglicher Enttäuschungen nicht aus dem Blick verlieren.
Geschichte wird von Gewinnertypen geschrieben. Daher geht es in den meisten Geschichtsbüchern um Menschen, die gewinnen. Die meisten Biographien sollen inspirieren und informieren. Daher konzentrieren sie sich zumeist auch auf die Erfolge. Doch im wirklichen Leben müssen sogar die erfolgreichsten Menschen mit ansehen, wie ihre Bemühungen scheitern. Sogar die besten lernen, mit Fehlschlägen, Absagen, schmerzlichen Verlusten und schlimmen Krankheiten umzugehen.
So einer war Jesus. So welche waren die Jünger. So einer war Paulus. Und ich glaube, solcher Art waren auch die, die vor uns ihren Glauben lebten und von denen wir unseren Glauben haben.
Das Wort ist ja nicht geschrieben als Neujahrsgruß, herausgerissen aus dem Zusammenhang. Aber gerade der Zusammenhang in der Geschichte des Abschieds und des Neuanfangs macht die Bedeutung dieses Satzes klar, den Jesus spricht, den Johannes überliefert, den unsere Mütter und Väter im Glauben festhielten.
Es ist ihre und vielleicht auch unsere uns zugewachsene Erfahrung auf einem langen Weg. Es ist ein Weg nicht nur von Erfolgen und erreichten Zielen, sondern manchem harten und schmerzhaften Weg.
Und sie und vielleicht wir auch haben erfahren: Am Ende vermag ich alles durchzustehen durch den, der wie Paulus sagt, mich stark macht, mächtig, mir Kraft gibt, auch durch Fehlschläge, Absagen, Enttäuschungen, Krankheit und Ablehnung hindurch gekommen zu sein.
Dieses Wort macht Mut, den Weg zugehen und durchzustehen, was auch immer kommen mag. Sich nicht entmutigen zu lassen. Sich nicht klein kriegen zu lassen. Sondern mit offenen Augen und mutigem Herz ins neue Jahr gemeinsam zu gehen.
Wir feiern in diesem Jahr das Reformationsjubiläum. Menschen, die vor uns hier ihren Glauben lebten und weiter trugen. Menschen, die mit Gott durch Raum und Zeit gingen.
Welche Krisen und Veränderungen hat es im Laufe dieser Jahre und Jahrhunderte gegeben, die hinzunehmen, zu überstehen, zu bewältigen waren? Sie konnten auch hoffen, dass sie diese Krisen überstehen würden – aber warum? Und wie?
Glaubt an Gott und glaubt an mich […] Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Ich habe Respekt vor meinen glaubenden Vorfahren und diesem Weg, dem sie gefolgt sind. Aber auch vor den Christen der heutigen Zeit, die sicher anders, aber auf dem gleichen Grund stehen und sich nicht entmutigen lassen und genau diesem Weg in Jesus Christus folgen.
Die – und ich sage jetzt wir – zwar nicht ausziehen, um das Fürchten zu lernen, aber die Augen in der Welt nicht vor dem verschließen, was zum Fürchten ist.
Und wir haben einen Grund, nicht zu resignieren, sondern mit der Kraft, die uns eben dieser Jesus Christus und Gott gibt, unser Mögliches zu tun, um manchem einen Teil seines Schreckens zu nehmen.
Dazu muss man nicht in die große weite Welt. Dazu reicht es, den Blick auf den, der neben uns lebt, nicht zu verlieren: Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Heimat. Menschen, in Situationen, vor denen wir alle Angst haben und die sie getroffen haben. Menschen, die Halt und Trost brauchen.
Ich könnte noch unzählige Beispiele aufführen. Ich lasse es bleiben, weil ich noch wie meine Vorfahren mit ihnen singen möchte. Und beten möchte und dann zusammen sein möchte, um getrost ins Neue Jahr zu gehen.
Euer Herz erschrecke nicht. Glaubt an Gott und glaubt an mich. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen […] Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,1f.6)
Was für ein wunderschönes Wort, nicht wahr?
In einer Welt voller Wunder und Glück, voller Traurigkeit und Leid, voller Möglichkeiten und Chancen. In einer so bezaubernden, aber fragilen Welt. Und stell dir vor, dann gibt es einen der sagt: Hab keine Angst. Fürchte dich. Amen.
Literaturangaben:
Grimms Märchen, Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.
H. S. Kuschner, Vom Glück im Unglück, S. 11f.
J. Zink, Wie wir beten können, S .185.