Halbzeitpause. Oder: Die Seele ist kein Oktopus – Predigt zu 1. Petrus 1,8-12 von Christina Costanza
I Zwischen Einatmen und Ausatmen
Es ist Halbzeit. Das Jahr 2018 ist auf seiner Höhe angelangt. Fast ein halbes Jahr ist seit Neujahr vergangen. Und genau ein halbes Jahr seit Weihnachten.
Die Tage werden wieder kürzer. Es wird nicht mehr heller, sondern dunkler. Und auch das Wachsen draußen in der Natur hat seinen Höhepunkt erreicht. Was auf den Feldern und in den Gärten wächst, schießt nicht mehr in die Höhe und Weite, sondern legt seine Kraft in die Früchte und Körner. Erdbeeren, Himbeeren, Spargel, Johannisbeeren. Die Gerste auf den Feldern.
Es ist, als ob für einen Moment alles stillsteht. Für das Jahr 2018 ist jetzt der Moment zwischen Einatmen und Ausatmen.
Nicht immer weitermachen, mehr und schneller. Die Halbzeit ist Pausenzeit, wie beim Fußball.
Das Jahr ist auf seiner Höhe angelangt. Zeit sich umzuschauen, zurückzublicken auf die letzten Monate, nach vorne zu schauen.
Zeit auch, um nach innen zu schauen, auf das, was unsichtbar ist. Was im Dunkeln, im Verborgenen liegt und doch mein Leben zusammenhält, auf geheimnisvolle Weise, durch Jahr und Tag hindurch.
II Seelenseligkeit
Was das ist, das Verborgene, Unsichtbare, was mein Leben zusammenhält, dafür gibt es im Predigttext für heute ein Wort. Über dieses Wort und was es für mein Leben heißt, möchte ich heute mit Ihnen nachdenken. Genauer gesagt sind es zwei Wörter, die aufs Engste zusammengehören.
Im ersten Kapitel des ersten Petrusbriefes steht:
Ihn habt ihr nicht gesehen und habt ihn doch lieb; und nun glaubt ihr an ihn, obwohl ihr ihn nicht seht; ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude,
wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit.
Nach dieser Seligkeit haben gesucht und geforscht die Propheten, die geweissagt haben von der Gnade für euch,
und haben geforscht, auf welche und was für eine Zeit der Geist Christi deutet, der in ihnen war und zuvor bezeugt hat die Leiden, die über Christus kommen sollten, und die Herrlichkeit danach.
Ihnen ist offenbart worden, dass sie nicht sich selbst, sondern euch dienen sollten mit dem, was euch nun verkündigt ist durch die, die euch das Evangelium verkündigt haben durch den Heiligen Geist, der vom Himmel gesandt ist, – was auch die Engel begehren zu schauen.
Das Ziel eures Glaubens und damit allen Lebens ist: der Seelen Seligkeit. Ein jahrhundertealtes Wort, das Geschichte atmet. Das aber auch ein bisschen altmodisch klingt. Fast wollte man es deshalb noch mal anders übersetzen. Zum Beispiel mit: „Rettung des Lebens“. Das steht da wörtlich im griechischen Text: soteria psychon, Rettung des Lebens. Und um Lebensrettung geht es auch.
Aber nicht um eine Rettung aus akuter Lebensgefahr durch beherzte Sanitäter geht es, nicht um die Verlängerung meiner Lebenszeit durch Krisen und Krankheiten hindurch. Es geht nicht um Verlängerung, sondern um Vertiefung. Und das hat Martin Luther gewusst und deshalb die Wortverbindung „der Seelen Seligkeit“ ausgedacht.
Das Wort „Seelenseligkeit“ trägt den Klang der Unendlichkeit in sich. Ein bisschen klingt es auch nach einem Lied oder nach einem Traum. Davon, wie es sein könnte, wenn alles gut ist. In meinem Leben. Mit meiner Psyche, meiner Seele.
Ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit…
III Die Seele ist kein Oktopus
Die Seele. Kein Mensch hat sie je gesehen. Über ihre Existenz wird seit Jahrtausenden gestritten, schon lange bevor der Brief des Petrus geschrieben wurde. Wie stelle ich mir die Seele vor?
Ist die Seele ein Teil des Körpers? Ist sie zum Beispiel wie ein Oktopus? Eine Frage, die ich mir hätte stellen können, wenn ich im dritten Jahrhundert vor Christus in Athen gelebt hätte. In der philosophischen Denkschule der Stoiker wurde die Seele als Oktopus gedacht. Das Zentrum der Seele vermuteten die Stoiker im Herzen, von dort aus strecke die Seele acht Arme in verschiedene Körperregionen, jeder Arm nehme eine andere Aufgabe der Seele wahr.
Ist die Seele als Teil des Körpers unsterblich, verlässt sie den Körper nach seinem Tod? Das wollte ungefähr zweitausend Jahre später, im Jahr 1907, der amerikanische Arzt Duncan MacDougall in Massachusetts herausfinden. Er war überzeugt, dass die Seele im Gehirn Raum beanspruche. Wenn sie zum Zeitpunkt des Todes den Körper verlasse, müsse deshalb ein Gewichtsunterschied messbar sein. Deshalb hatte MacDougall sterbende Menschen vor, während und nach dem Eintreten des Todes zu wiegen versucht. Die Gewichtsabnahme beim Tod veranschlagte er auf rund 21 Gramm und erklärte diesen Substanzverlust als Gewicht der Seele.
Das Gewicht der Seele wiegt aber noch viel mehr, wenn man biblische Texte liest. Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? (Mk 8,36)
In der Bibel ist die Seele das, was den lebendigen Menschen ausmacht. Kein Teil von ihm, sondern der Mensch als Ganzer. Eine Seele von Mensch, sozusagen. Also das im Menschen, was ihn liebenswert macht und einzigartig. Das, was man sieht, wenn man einem Menschen in die Augen schaut. Da sehe ich ja nicht nur Wimpern und Iris und Pupille, sondern noch etwas anderes, Tieferes. Da sehe ich, manchmal, so etwas wie das Innen dieses Menschen, das was sie ausmacht, ihm am Herzen liegt.
Die Seele ist das, was im Menschen glaubt und hofft und liebt. Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir… (Ps 63,2) Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen…“ (Ps 103,1)
Deshalb stelle ich mir die Seele weniger als einen Oktopus vor, der mit seinen langen Armen auf alles in seiner Umgebung zugreifen kann, alles im Griff hat. Sondern eher wie eine Geige, die in Schwingung versetzt wird – vom Bogen, der sie streicht, von einem anderen Instrument im selben Raum.
Meine Seele, das ist das in mir, was mitschwingt, wenn sich jemand anderes freut oder traurig ist. Meine Seele ist das in mir, was auf geheimnisvolle Weise mit der Welt da draußen in Verbindung ist und mehr hören kann als mein Ohr und mehr sehen kann als mein Auge.
Meine Seele ist wie ein Raum für Resonanz – etwas da draußen kann sie in Schwingung bringen, und dann ist der Johannisbeerstrauch plötzlich nicht mehr nur ein Strauch und das Getreidefeld in der Abendsonne nicht mehr nur eine landwirtschaftliche Nutzfläche. Sondern geheimnisvoll, wie ein Zeichen für etwas anderes, ein Hoffnungszeichen, das so etwas wie Glück ankündigt. Und manchmal ist es dann da, das Glück selber, wogt es in diesem Getreidefeld in der Abendsonne.
Kein Teil des Menschen ist die Seele, nichts, das ich in Gramm abwiegen könnte. Und zugleich kann ich sie mir wie ein Organ vorstellen. Ein Organ für das Unsichtbare zwischen Erde und Himmel, ein Organ für das, was größer ist als alles in der Welt. Die Seele kann das Unendliche schmecken, inmitten des Alltags.
IV Wer’s glaubt, wird selig
Ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit…
Seele und Seligkeit gehören zusammen. Nicht unbedingt sprachlich – da verführt der ähnliche Klang der beiden Wörter zu orthographischen Fehlern. Die Seligkeit muss ja ohne das doppelte ‚e‘ der Seele auskommen. Selig hat sprachlich nichts mit Seele zu tun, sondern kommt von einem anderen Wort her, vom althochdeutschen sälig. Das heißt überglücklich und gesegnet.
Und so hat die Seligkeit mit einem ‚e‘ dann doch ganz viel mit der Seele mit Doppel-‚e‘ zu tun: Weil die Seele ein übergroßes Glück empfinden kann, das nicht von dieser Welt ist. Weil sie wahrnehmen kann, wie sich Segen anfühlt. Seele und Seligkeit gehören zusammen.
Wer’s glaubt, wird selig. In dieser Redensart, die ja manchmal zynisch, ironisch noch die letzte Hoffnung austreibt, liegt Wahrheit. Denn ich weiß ja, das Glück und den Segen, von dem ich hier rede, das kann ich nicht festhalten. Die Seele muss lange Durststrecken überstehen. Seligkeit ist nichts, was immer zur Seele gehört. Seelenseligkeit ist ein Ziel, etwas, das mir noch vorausliegt, von dem ich nur ahne, hin und wieder, wie sich das anfühlt.
Seligkeit ist das, von dem die Seele begreift, dass nur Gott das geben kann. Und das alles andere übertrifft.
V Licht, das durch die Finsternis bricht
Heute ist Johannistag. Der Geburtstag von einem Menschen, den ich mir nicht als allzeit glücklichen Menschen vorstelle. Der aber gesegnet war, von Mutterleib an, dessen Seele erfüllt war vom heiligem Geist. Johannes, der als erwachsener Mann Jesus im Jordan getauft hat. Ihm vorangegangen ist und den Weg bereitet hat.
Wie Johannes der Täufer ein Wegbereiter ist, so ist der Johannistag ein Wegzeichen. Weist uns sechs Monate voraus auf die Nacht des 24. Dezember.
Wenn die Nächte am längsten sind. Wenn Gott zur Welt kommt, auch zu mir, bis in das Tiefste meiner Seele.
Licht, das durch die Finsternis bricht.
Freude, die nicht in Worte zu fassen ist. Nach der sich sogar die Engel sehnen.
Ein Gefühl, wie es sein könnte, wenn ich am Ziel bin.
Ich sehe es noch nicht, dieses Ziel.
Aber sie haben mir davon erzählt: die Propheten, die Wegbereiter, die auf dieses Licht hinzeigen.
Und die Männer und Frauen, die dieses Licht gesehen haben als es in tiefster Nacht erschienen ist.
Amen.
Predigtlied EG 74,1-4 Du Morgenstern, du Licht vom Licht
PS: Neben GPM 72 (2018) und den Predigtstudien 2. Halbbd. (2017/18) finde ich ein Essay anregend, das kurz vor dem letzten Weihnachtsfest im ZEIT-Magazin erschienen ist: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2017/53/seele-psychologie-existenz-suche