Liebe Liebende und Geliebte,
diese Anrede ist uns relativ fremd. Und doch benutzt Paulus in seinen Briefen genau diese Anrede. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom spricht er die Gemeinde dort an mit: „An alle Geliebten Gottes […] in Rom.“ (Röm 1,7)
Auch andere Briefe sprechen immer wieder von der Liebe. Paulus lobt Gemeinden wegen ihrer großen Liebe. Er empfiehlt ihnen seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die oft seine Briefe überbringen. Dabei spricht er immer wieder von der Liebe.
Im Brief an die Gemeinde in Korinth steht das sogenannte „Hohelied der Liebe“, das wir vorhin gemeinsam gesprochen haben.
Hören wir noch einmal auf dieses Loblied der Liebe aus dem Brief an die Gemeinde in Korinth:
Wenn ich wie ein Mensch rede oder wie ein Engel und bin ohne Liebe, bin ich ein schepperndes Blech und eine gellende Zimbel. Und wenn ich die Gabe habe, die Zeichen der Zeit zu deuten, und alles Verborgene weiß und alle Erkenntnis habe und alles Vertrauen, so dass ich Berge versetzen kann, und bin ohne Liebe, dann bin ich nichts. Und wenn ich alles, was ich kann und habe, für andere aufwende und mein Leben aufs Spiel setze selbst unter der Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden, und bin ohne Liebe, hat alles keinen Sinn. Die Liebe hat einen langen Atem und sie ist zuverlässig, sie ist nicht eifersüchtig, sie spielt sich nicht auf, um andere zu beherrschen. Sie handelt nicht respektlos anderen gegenüber und sie ist nicht egoistisch, sie wird nicht jähzornig und nachtragend. Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht, vielmehr freut sie sich mit anderen an der Wahrheit. Sie ist fähig zu schweigen und zu vertrauen, sie hofft mit Ausdauer und Widerstandskraft. Die Liebe gibt niemals auf. Prophetische Gaben werden aufhören, geistgewirktes Reden wird zu Ende gehen, Erkenntnis wird ein Ende finden. Wir erkennen nur Bruchstücke, und unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, ist begrenzt. Wenn aber die Vollkommenheit kommt, dann hört die Zerrissenheit auf. Als ich ein Kind war, redete und dachte ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind. Als ich erwachsen wurde, ließ ich zurück, was kindlich war. Wir sehen vorläufig nur ein rätselhaftes Spiegelbild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Heute erkenne ich bruchstückhaft, dann aber werde ich erkennen, wie ich von Gott erkannt worden bin. Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1.Kor 13,1-13, Bibel in gerechter Sprache)
Ich denke, diese Zeilen sind sehr bekannt. Bei Trauungen werden sie zumindest teilweise gelesen. Mancher Trauspruch ist aus diesem Teil des Briefes zitiert.
Paulus betont, wie wichtig die Liebe in unserem Leben ist.
Er spricht hier nicht – zumindest nicht nur – von der körperlichen und erotischen Liebe zwischen zwei Menschen. Ihm geht es um die Liebe der Menschen zu Gott und untereinander. Die Liebe der Menschen untereinander entspringt der Liebe Gottes zu den Menschen. Ein vielfältiges und vielseitiges Hin und Her der Liebe zwischen Gott und Menschen also.
Für Paulus war die Liebe ganz klar das grundlegende Gefühl, die grundlegende Antriebskraft für das Miteinander in den Gemeinden, für das Miteinander der Menschen. Dass Gott uns Menschen liebt, war selbstverständlich für ihn.
Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1.Kor 13,13)
Nun, spätestens jetzt stellt sich mir die Frage: Ist das denn wirklich immer Liebe? Kann ich wirklich sagen, dass ich die Gemeinde liebe? Dass ich meine Kollegin liebe? Oder die Menschen in den unterschiedlichen Gruppen? Ist das wirklich Liebe? Ist das nicht eher Akzeptanz, Sympathie, Zuneigung, Nähe oder ähnliches?
Paulus spricht und schreibt griechisch. Er spricht von der Liebe mit dem Wort „Agape“. Die griechische Sprache unterscheidet zwei verschiedene Arten der Liebe: „Agape“ und „Eros“. Die deutsche Sprache kennt diese Unterscheidung auch. Wir unterscheiden im Deutschen zwischen der erotischen Liebe und der Zuneigung. Auch wir unterscheiden zwischen Agape und Eros.
„Agape“ hat aber einen ganz anderen Klang als „Liebe“. Agape verstehen wir als eine mildtätige und helfende Zuneigung oder Hinwendung. Allerdings wird Agape in den biblischen Texten immer wieder mit „Liebe“, nicht mit „Zuneigung“ übersetzt. Ich denke, dass „Agape“ auch viel mehr ist als mildtätige und helfende Zuneigung oder Hinwendung. „Agape“ ist ein großes und starkes Gefühl. Es ist ein Gefühl, das größer ist als Vertrauen und Hoffnung. Darum ist das Wort Zuneigung auch viel zu schwach.
Wie können wir diese Liebe dann verstehen? Was unterscheidet sie von der Liebe im Sinne von „Eros“ einerseits und von mildtätiger und helfender Zuneigung oder Hinwendung andererseits? Fangen wir noch einmal anders an.
(Solo oder Einspielung des Liedes „Halt´ dich an deiner Liebe fest“ von der Band „Ton, Steine, Scherben“)
Wenn niemand bei dir ist, du denkst dass keiner dich sucht
Und du hast die Reise ins Jenseits, vielleicht schon gebucht
All die Lügen, geben dir den Rest
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest
Wenn der Frühling kommt und deine Seele brennt
Du wachst nachts auf aus deinen Träumen
Aber da ist niemand der bei dir pennt
Wenn der auf den du wartest, dich sitzen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest
Wenn der Novemberwind deine Hoffnung verweht
Und du bist so müde weil du nicht mehr weißt, wie's weiter geht
Wenn dein kaltes Bett, dich nicht schlafen lässt
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich an deiner Liebe fest
Halt dich fest
Halt dich fest ... (an deiner Liebe...)
Halt dich fest ...
Dieses Lied sang Rio Reiser mit seiner Band Ton, Steine, Scherben zum ersten Mal 1975. Der Text stand im September vorher genau so wörtlich als letzter Eintrag in Rio Reisers Tagebuch.
Halt dich an deiner Liebe fest! – Von welcher Liebe ist hier die Rede?
Rio Reise war ein gläubiger Mensch.
Es geht um das grundlegende und lebenswichtige Gefühl der Liebe. Die Liebe zu Gott, zu den Menschen, die Liebe zu sich selbst.
Selbst, wenn wir uns völlig verlassen und einsam fühlen, sollen wir an der Liebe festhalten, so singt es Rio Reiser. Liebe ist das Gefühl, das überlebenswichtig ist. Liebe ist das höchste Gebot. Wir haben es vorhin in der Lesung gehört.
Du sollst den Lebendigen, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deine Nächsten wie dich selbst. (Mt 22,37.39)
Liebe in diesem Sinne ist nicht so etwas Schwaches wie „Zuneigung“ oder „Hinwendung“ oder „gern haben“. Es geht um viel mehr. Es geht um grundlegendes Akzeptieren. Wenn ich liebe, bin ich offen für den oder die andere. Wie in der Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen, wie bei der erotischen Liebe, geht es darum, einander so anzunehmen, wie man ist. In Trauzeremonien versprechen sich die Partnerinnen und Partner heute nicht mehr: „Ich will dich lieben, bis der Tod uns scheidet.“ Vielmehr wird gesagt – so oder ähnlich: „Ich will Dich aus Gottes Hand annehmen als einen kostbaren und einmaligen Menschen. Ich will dich lieben und achten mit Deinen Eigenheiten. Deine Schwächen möchte ich annehmen und Deine Stärken fördern. Wann immer Du mich brauchst, will ich für dich da sein und Freude und Schmerz mit dir teilen. Ich will mit dir durch gute und schlechte Tage gehen.“
Diese Liebe entspricht der Liebe, von der Paulus spricht. Einander lieben und achten. Die Schwächen annehmen und die Stärken fördern, Freude und Schmerz teilen, einander in guten und schlechten Tagen begleiten.
Viele Schwierigkeiten und Missverständnisse, die es mit der Liebe gibt, entspringen der Tatsache, dass Liebe sich nicht vergleichen lässt. Liebt der eine mehr als die andere? Müssen wir Liebe überhaupt so messen und vergleichen?
Es ist schwer, sie so zu akzeptieren, wie sie uns entgegen gebracht wird. Werde ich geliebt, habe ich das Gefühl, ich müsste diese Liebe auf gleiche Art erwidern – umso schwieriger, wenn ich meine, das nicht zu können. Wie gehen wir mit solchen Unterschieden um? Wer das Mehr an Liebe des anderen Menschen akzeptieren und annehmen kann, kann sich glücklich schätzen.
Wer sich mehr mit dieser Frage auseinander setzen möchte, kann gut einmal den Briefwechsel zwischen Astrid Lindgren und Louise Hartung lesen. 2016 wurde dieses Buch veröffentlicht. Es ist der Briefwechsel zweier Freundinnen, die es geschafft haben, die sehr unterschiedliche Art der Liebe zwischen sich stehen lassen zu können. Sie haben ihre Freundschaft gepflegt und sich vor keiner schwierigen Frage und Unterschiedlichkeit gescheut. Es gab allerdings genau um das Thema „Liebe“ eine Art Meinungsverschiedenheit oder Streit.
Louise Hartung lebte in Berlin, war ursprünglich Sängerin, verlor aber unter den Nazis ihren Beruf. Nach dem Krieg arbeitete sie im Jugendamt in Berlin. Dort entdeckte sie auch „Pippi Langstrumpf“. Sie lud die Verfasserin Astrid Lindgren zu einem Berlinbesuch ein. Aus dieser ersten Begegnung erwuchs eine tiefe Freundschaft.
Louise Hartung beschreibt ihre Gefühle so:
„Als ich Dich sah, Astrid, wusste ich schon […] mit absoluter Gewissheit, dass ich dich nie nie mehr verlieren möchte, dass jede Form der Beziehung zu Dir mir recht wäre, wenn sie nur dahin führt, dass Du aus meinem Leben nicht mehr herausgehst. […] Dass es Dir gelungen ist, ohne dein Wollen mein Gefühlsleben so ausschließlich auszufüllen, kann nur daran liegen, dass bei aller Verschiedenheit eine tiefe Wesensverwandtschaft besteht, wie ich sie so noch nie empfunden habe, und daher auch dieses fast unerklärliche Vertrauen.“
Astrid Lindgren hat zunächst Probleme, mit dieser starken Liebe umzugehen. Sie unterscheidet zwischen Freundschaft und Liebe. Genau das tut Louise Hartung nicht.
Sie finden aber schließlich ein Gleichgewicht in ihrer Freundschaft, schreiben sich intensive und sehr offene Briefe, machen gemeinsam Urlaub und teilen viele Leidenschaften und Gedanken.
Wer gute Lektüre über das Thema „Liebe“ sucht, sollte diese Briefe dringend lesen.
Jetzt aber leben wir mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe, diesen drei Geschenken. Und die größte Kraft von diesen dreien ist die Liebe. (1.Kor 13,13)
Einander lieben und achten. Die Schwächen annehmen und die Stärken fördern, Freude und Schmerz teilen, einander in guten und schlechten Tagen begleiten.
Du sollst den Lebendigen, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deine Nächsten wie dich selbst. (Mt 22,37.39)
Das ist „Agape“. Das ist die Liebe, die Gemeinden und Gemeinschaften, Freundschaften und Liebespaare zusammen hält.
Und die Liebe Gottes, der uns liebt von Anbeginn der Zeit, bleibe bei uns und stärke uns im Lieben und Leben. Amen.
Hinweise zur Liturgie
Lieder:
Du bist da (Lebensweise Nr. 53)
Du bist mein Zufluchtsort (Lebensweisen Nr. 56)
Wo Menschen sich vergessen (Lebensweisen Nr 85)
Verleih uns Frieden gnädiglich (Nagel, Lebensweisen Nr. 79)
Nach dem Gottesdienst wird eine Segnung Liebender angeboten. Im Altarraum kommen liebende Einzelne, Paare oder Familien, Freundinnen, etc. und lassen sich von der Pfarrerin Segen zusprechen.
Quellen:
Infos von der Homepage http://www.n-tv.de/leute/buecher/Was-Rio-Reiser-kaputt-machte-article18064096.html
Astrid Lindgren. Louise Hartung: Ich habe auch gelebt! – Briefe einer Freundschaft. Berlin 2016.