Heilendes - Predigt zu Markus 1, 32-39 von Werner Grimm
1,32
Heilendes
Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle, denen es schlecht ging, und die, die unter Obsessionen litten. Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. Er aber heilte viele, denen es schlecht ging durch mancherlei Krankheiten, und er trieb viele Qualgeister aus …
Und früh am Morgen, noch war dunkle Nacht, stand er auf und ging hinaus und ging weg an eine einsame Stätte und hielt dort an im Gebet.
Simon aber und die mit ihm eilten ihm nach. Und sie fanden ihn. Und sie sagen zu ihm: Alle suchen dich! Er aber sagt zu ihnen: Auf nun, lasst uns anderswo hin gehen in die umliegenden Kleinstädte, damit ich auch dort verkündige. Denn dazu bin ich hinausgegangen. Und er kam, verkündigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa, trieb die Qualgeister aus[1]. (Eigene Übersetzung unter Auslassung eines Versteils, der das markinische Messiasgeheimnis betrifft.)
 
Liebe Gemeinde!
„Ich bin ad speciem ein ganzer Mann!“. Auf diesen Gipfel der Selbstgefälligkeit treibt die Arie des Bürgermeisters van Bett in Zar und Zimmermann zu: Lortzings köstliche Parodie des aufgeblasenen Amtsgehabes. „Denn ich weiß zu bombardieren, zu rationieren, zu expektorieren, zu blamieren, inspizieren, echauffieren, räsonieren, malträtieren.“  Alles kann er, in allen Bereichen ist er kompetent!
Aber was hat das mit unserem Text aus dem Evangelium Markus zu tun? Nun, dieser Jesus aus Nazareth ist, im Ernst, „ein ganzer Mann“, so wie er seinen der Berufung folgenden Beruf ausübt. Markus erzählt protokollartig von einem typischen Tag des Wirkens Jesu in Kapernaum. Und dabei zeigt sich, dass Jesus alles in sich vereinigt, was einen Therapeuten ausmacht: Er kümmert sich um leibliche und er kümmert sich um seelische Nöte von Menschen. Er heilt[2]und er verkündigt. Er ist ein erfolgreicher Therapeut, der zugleich, zweites Standbein, einen „Lehrauftrag“ erfüllt, mit dem er viele erreicht, um ihnen den Weg zum wahren Leben zu weisen. Und so sehr er ein Tätiger ist, so ausgeprägt hat er doch ein Innenleben, aus dem er offenbar die Kraft zu seinem Tagewerk bezieht. Ganz schön komplett dieser Jesus, so wie sich Patienten ihren Arzt möglichst als die eine Bezugsperson wünschen, zu der man in allen Nöten des Leibes und der Seele kommen kann. Ein „ganzer“ Therapeut – ich denke auch an das zutiefst humane und eben auch wieder „ganzheitliche“ Arzt-Ethos, das der Leiter einer Tübinger Klinik (Niethhammer) so formuliert hat: Manchmal heilen, häufig lindern, immer trösten.
Die „ganzheitliche“[3]Praxis Jesu hat, wie schon anklang, eine Innenseite. Von ihr heißt es an anderer Stelle: „Niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem ihn der Sohn offenbaren will.“ (Mt 11,27) Da lässt Jesus einen Augenblick lang hineinschauen in sein Innerstes, in die ihn am meisten bestimmende Beziehung, die zwischen ihm und seinem Vater im Himmel. Kein Blatt passt dazwischen. Wie aber kam Jesus in diese einzigartige Gottesnähe und wie blieb er darin?
Markus gibt einen Hinweis – in seinem Bericht vom Anfang[4]Jesu in Kapernaum: die ersten therapeutischen Auftritte Jesu und dazwischen, fast überlesbar, dieser Satz:Und früh am Morgen stand er auf und ging hinaus und ging weg an eine einsame Stätte und hielt dort an im Gebet.
Was für ein Gebet ist das? Gerne wüssten wir darüber mehr – auch fürs eigene Beten. Nun, so wie Markus erzählt und wie viele der Worte Jesu durchblicken lassen, hat sich Jesus immer wieder mit einer aus dem Jesajabuch bekannten Gestalt identifiziert. Auch Jesu spirituelle Praxis, am Morgen eine einsame Stätte draußen aufzusuchen, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit von dem Propheten übernommen, der im 6.Jh.v.Chr. die Deportierten Israels im babylonischen Exil „psychologisch betreute“. Über dessen allmorgendliche Meditation heißt es in Jes 50,4:
Morgen um Morgen weckt der HERR mir das Ohr, dass ich wie ein Jünger höre. Der HERR gibt mir Sprache, dass ich dem Müden zu antworten wisse ein Wort, das aufweckt.
Dreierlei muss auffallen an diesem Frühmorgengebet, wie es sich Jesus zu eigen machte. Erstens: Es ist weit entfernt von jenen Einbahnstraßen-Gebeten, in denen wirGott mit unseren Wünschen belabern. Jesus ist „stille zu Gott“ (Ps 62,2); er horcht in sich hinein, was ihm der Ewige sagen will. Und auch, wenn Jesussich nachher wieder unter die Leute mischt, hört er erst einmal, bevor er spricht. Zum andern das „Morgen um Morgen“: Markus berichtet also nicht von einem einmaligen Gebet, sondern von einer regelmäßigen Übung. Er zeigt in einer Momentaufnahme das eine Ende der Pendelschwingung im Tagesrhythmus Jesu: Jesus beginnt jeden neuen Morgen in Abgeschiedenheit von den Menschen, ins Gebet zu seinem Vater im Himmel versunken. Drittens: Das  Morgenritual hörenden Betens qualifiziert den, der so regelmäßig den Tag beginnt, zum „Seelsorger“ an seinen müden Mitmenschen! Wir stehen hier an einer Quelle, aus der „Ströme lebendigen Wassers“ fließen (vgl. Joh. 7,38).
Sie wenden nun ein: Wie schön für die Leute damals in Galiläa, dass sie diesen Ausnahmemenschen und Gottessohn unter sich hatten. Aber was hilft’s uns heute?
Lassen Sie mich ein wenig ausholen. Christen sind Jünger, Lehrlinge eines Meisters. Da es nun aber seit dem ersten Pfingsten die Gemeinde der Jesus-Jünger gibt, ist Jüngerschaft kein individueller Kraftakt, sondern fordert die gegenseitige Liebe in der Spur des Meisters, ein ganzes Klima intensiver Humanität: Geben und nehmen; heilen und geheilt werden, sagen wir bescheidener: anderen Menschen gut tun und  erleben, dass da Menschen sind, die mir an Leib und Seele gut tun; manche Begegnung mit einem Du als geradezu heilend erfahren. Gewiss werden Christen, den alten Adam ja noch mitschleppend, einander nicht als Wunderheiler begegnen, aber ein Quäntchen des Heils findet statt und darf immer wieder stattfinden, wo sie von Jesus geprägt leben.
Unter diesen Vorzeichen achten wir nun auf die heilenden Kräfte, an die unser Stück aus dem Evangelium direkt oder indirekt erinnert – um uns ihnen zu öffnen. Es ist wohl möglich, dass Jesus selbst über noch ganz andere Heilkraft verfügte – wir konzentrieren uns auf das, was der Jesaja-Text, der Jesus leitete, in und zwischen den Zeilen sagt.
1. „Dass ich wie ein Jünger höre“. Halten wir unser Hörverhalten dagegen. Gewiss, wir lassen uns eine Unmenge an Lärm gefallen: Bumsmusik aus Megaphonen der Feste und Lautsprechern der Cafes, das Gedröhn der Mega-Events, Stimmen aus 40 Fernsehkanälen überschwemmen uns nicht nur mit Informationen, permanent sind wir hörbereit für den Handy-Anruf. In der U-Bahn und auf der Joggingstrecke begegnen wir Leuten mit Stöpseln in den Ohren. Offenbar wollen sie gezielt hören und dabei nicht und schon gar nicht von mir abgelenkt werden. Freilich: Findet bei alledem noch jenes qualitative Hören statt, vom dem Jesus ein Urbeispiel gibt? Denn zu wahrem Hören gehört ein Gegenüber. Und so ist nicht von ungefähr einer der häufigsten Anklagen unter Menschen, die miteinander zu tun haben: „Hörst du mir überhaupt zu?“
Und nun er: Noch liegt Nacht über Galiläa, da geht er weg von allen potentiellen Quellen zu erwartenden Alltaglärms. In der Stunde, in der die meisten Menschen, vielleicht nach einer guten Tasse Kaffee, aufnahmefähiger und konzentrierter sind als im fortschreitenden Tagesverlauf – in der „Herrgottsfrühe“ geht er hinaus ins Freie, macht sich auf den Weg zur Gebetsstätte. Und schon auf dem Weg stellt sich ein betendes Nachdenken ein und ein einzigartiges Hören. (Weshalb unserem kleinen Morgenspaziergang, sofern wir uns Zeit dafür nehmen können, geistliche, ja jesuanische Qualität zukommt!). Und dann taucht er ganz in die Stille ein, alle Morgen wieder.
Nun wissen wir freilich, wie gefährlich eine solche gesuchte oder ungesuchte Stille ist, in der die üblichen „Geräusche“ jäh verstummen: Gleich lärmen unsere inneren Stimmen aus Sorgen, Ängsten und Anklagen umso lauter! Kreuz und quer laufen die Gedanken, die nun losgelassen, und geraten in wilden Widerstreit. Vielleicht ist es ja gut, dass sich das in einem Schutzraum der Verschwiegenheit vollziehen kann, wo auch die Gedanken zugelassen werden können, die sich nicht für den öffentlichen Austrag eignen. Mehr noch: Vielleicht beginnt sich ja gerade so unser Leben in einem allerersten Schritt zu seiner authentischen Gestalt zu formen: Alles, was in uns ist, soll auf den Tisch, dass wir es, nur wir selbst, ansehen und nicht weggucken.
Dabei wird man freilich nicht stehen bzw. darauf wird man nicht sitzen bleiben. Es kommt  alles darauf an, die Antenne dann mehr und mehr auf Gott auszurichten.
Wenn Jesus es tut, wenn es der Christ tut, der sich von Jesus prägen lassen will, dann unterstützt ihn dabei womöglich ein Abschnitt der Heiligen Schrift, den er halblaut liest. Jedenfalls sucht er den Kontakt mit der Ewigkeit, die Berührung mit der Liebe Gottes. Daraus soll ihm für den ganzen Tag Kraft zufließen. Er spitzt seine Ohren, um jene Stimme einzufangen, die nicht aus ihm selber kommt und die für ihn auch nicht verfügbar ist. Er begehrt von ganzem Herzen, dass Gott ihn  „wahrnehmungsfähig“ und achtsam mache – für nachher, wenn er hinaustritt ins volle Menschenleben. Er nimmt seine Mitmenschen, denen er später begegnen wird, buchstäblich mit ins Gebet, er stellt sie sich vor in seinem Gespräch mit Gott. Im Tagesverlauf wird er dann seinem Gegenüber, besonders, wenn er sieht, dass es ihm nicht gut geht – seinem Gegenüber wird er ganz zugewandt sein. Er wird ihn nicht ungeduldig unterbrechen. Er wird nicht zwei Fragen auf einmal stellen, sondern die Antwort auf die erste ruhig abwarten. Er wird den anderen freundlich und fest anblicken, niemals ihn „mit Blicken vernichten“. Aber er wird auch besser in der Lage sein, fruchtlose Gespräche als solche zu erkennen und abzubrechen.
2.  „Dem Müden zu antworten mit einem Wort, das aufweckt“. ImJesajabuch liegt ein Protokoll vor – darüber, wie jener, mit dem sich später Jesus ganz und gar identifizierte – „Müde“ aufgeweckt und manchen Geist der Schwermut vertrieben hat. Und mag bleierne Müdigkeit heute andere Namen tragen wie burn out oder Null Bock – das damals den Müden gesagte Wort enthält nach Form und Inhalt viel von dem, was auch unter uns heute heilen könnte.
Damals: Im Jahr 587 vor Christus hat ein babylonisches Heer Jerusalem erobert, den Tempel dem Erdboden gleichgemacht und Israels politische Selbständigkeit beendet. Eine große Zahl Jerusalemer wird nach Babylon verschleppt. Mit entwürdigender Härte demonstrieren die fremden Herren den Deportierten ihre Niederlage, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Vergebliches Warten auf die Erlaubnis zur Heimkehr hat ihre Hoffnung zermürbt. Am Rande der Depression, vermögen diese von ihren Wurzeln abgeschnittenen Exilanten nur eben noch ihre Klage vorzubringen: Gott? Wenn es ihn gibt, hat er sich von uns abgewandt; und wir hatten geglaubt, wir hätten ein Recht darauf, dass er seine großen Versprechen wahr macht. Aber ihn kümmert unser Schicksal nicht. Mit solchen Gedanken sitzen sie da, an den Wassern Babylons, und weinen. Und diese Leute spricht nun einer an, der eine Weile schon in ihren Gesichtern gelesen hat:
Warum sagst du, Jakob, und warum sprichst du, Israel: „Verborgen ist mein Weg vor dem Herrn, und an meinem Gott geht mein Recht vorbei“? (Jes 40,27)
Warum sagst du so etwas? Warum weinst du? Warum isst du nichts? Warum bist du so still und schaust so traurig aus? Wenn ich so von einem Menschen gefragt werde, dann ist das wie ein Signal, dass er die Veränderungen an mir wahrgenommen hat, dass mein Kummer ihm nicht gleichgültig ist. Ich erlebe, wie er Anteil nimmt an dem, was mich bedrückt. Aber noch ein bisschen mehr: Warum klagst du? Mit einem solchen „Warum?“ möchte einer ein bisschen genauer hinter dem sichtbaren Äußeren den tieferen Grund meines Unglücklichseins wissen. Er möchte verhindern, dass ich mich in ein verschwommenes, unfruchtbares Gejammere verliere und mich im Kreis drehe. Manchmal kommt ja allein schon dadurch Hilfe in Sicht, dass ich die Ursache meiner Misere endlich einmal genauer in Augenschein nehme. Es kann dann eventuell auch das in der entsprechenden Lage Tröstende, Heilende gefunden werden.
Ob sie ihm daraufhin die Gründe ihrer Erschöpfung dargelegt haben, das wurde damals allerdings nicht mit aufgezeichnet. Es ist wohl für die Späteren nicht so wichtig, zumal keine Müdigkeit einer anderen aufs I-Tüpfelchen gleicht. Blenden wir also typische Ermüdungen aus unserer Alltagswelt in die biblische Szene ein: 
Merkt denn keiner, wie mir die Puste ausgeht? Aber wehe, wenn ich schlapp mache, dann bin ich den Arbeitsplatz los.
Die Pflege meines Angehörigen – ob ich das morgen noch schaffe? Springt denn niemand bei von denen, die eigentlich genau so in Pflicht sind? Aber ich darf die Mutter doch nicht…
Oder bin ich einer von den Faulen, die sich immer wieder den Aufgaben verschließen und davon an Leib und Seele müd und träg wurden?
Lähmt mich eine Trauer, weil nach dem Verlust nun alles sinnlos scheint?
Manchmal und gerade bei Gläubigen mündet die Klage der Erschöpften in den Vorwurf an Gott und in schwere Glaubenszweifel.
Der, mit dem sich Jesus identifiziert, hört geduldig zu. Freilich, nach einer längeren Zeit stellt er nun doch eine zweite Frage: „Ist es denn nicht so, weißt du denn nicht…? Wer so fragt, will bei einem in Trostlosigkeit erstarrten Menschen die Fixierung auf immer wieder den gleichen Punkt aufbrechen. Will dem Niedergeschlagenen dessen Lebenssituation aus einer etwas anderen Perspektive und in freundlicherem Licht zeigen. So wie man ein Kind sanft am Köpfchen fasst und es sachte dreht, dass es etwas sehen kann, was es sonst nicht sehen würde
„Ist es nicht so?“ (im Hebräischen: halo´): eine vorsichtig helfende Frage. Der so Angesprochene soll nicht überrumpelt werden; es ist nicht ausgeschlossen, dass er abweisend reagiert: Nein für mich ist es leider gar nicht so. Aber es ist immerhin möglich, dass sein Blick daraufhin etwas Rettendes, Heilendes am fernen Horizont sieht und dass dieses ab nun im Licht des Bewusstseins bleibt.
Wir sind hier auf eine seelsorgerliche Weise des Miteinander-Sprechens gestoßen, die in der Bibel öfters so belegt ist: Die beiden aufeinander folgenden Fragen – das anteilnehmende „Warum?“ und das behutsam auf Tröstliches zeigende „Ist es nicht so...?“ – das ist offenbar ein Muster mit Wert fürs Zwischenmenschliche zu allen Zeiten.[5]
Aber hören wir nun die zweite Frage im vollen Wortlaut:
Weißt du denn nicht, hast du’s denn nicht gehört? Ewiger Gott ist der Herr, Schöpfer der Enden der Erde. Er wird nicht müd, es wird nicht matt, unausforschlich ist seine Weisheit; er gibt dem Müden Kraft, und dem Erschöpften schafft er große Stärke. Und mögen selbst Jünglinge müde werden und matt und Mannen stolpern und stürzen – die auf den Herrn harren, bekommen wieder und wieder die Kraft; sie fahren auf mit Flügeln wie Adler; sie laufen und ermatten nicht; sie gehen und werden nicht müde.    (Jes 40, 28-31)
Hier bringt einer im herrlichen Bild Urvertrauen, eine Art „Schöpfungsgewissheit“ ins Spiel. Und genau die war offenbar bei seinen Landsleuten verschüttet, der tiefe Grund ihrer Lebensmüdigkeit. Und deshalb erinnert er sie an jene Urkraft, die den Anstoß für das Universum und das Leben auf der Erde gab; jene Urkraft, die aber seit jenem Urknall weiterhin in jeder Sekunde unermüdlich wirkt – nicht nur, wenn sich beim Volksfest das Riesenrad dreht; jene Urkraft, aus der alle Lebewesen ihre Vitalität empfangen. Jene Urkraft, aus der ein Torjäger[6]Kraft nimmt zu seinem fulminanten Antritt und dem wie ein Strich unter die Latte gehämmerten Schuss. Jene Urkraft, aus der die Kehlen der Menschen und Vögel ihre Lieder formen. Jene Kraft des Schöpfers, aus dessen Reservoir wir täglich unsere kleine Kraft schöpfen, indem wir auf ihn „harren“.
Das ist die Weltanschauung und Schöpfungsgewissheit derer, deren Gott der Gott Jakobs ist, die Gewissheit des Seelsorgers an den Wassern Babels, die Gewissheit Jesu, sehet die Vögel unter dem Himmel an, auch nicht ein einziger Spatz, der ohne Wissen Gottes auf die Erde fiele: Jedes einzelne Geschöpf wisse man von Gott erschaffen nicht nur, sondern auch ernährt, beatmet und gesehen – jede Sekunde und über den Tod hinaus: Wenn solche Schöpfungsgewissheit wieder „unter die Haut ginge“ – könnte es nicht manche müde Seele im argen Weltgetriebe heilen?
3.  Für ein drittes Heilendes meine ich, in Jesu Morgengebet ein Indiz zu sehen: „Eine Ant- Wort, die aufweckt, dem Müden geben“. Was kitzelt in unzähligen Fällen die Lebensgeister zuverlässig wach? Aus eigener Erfahrung wissen wir: Dass uns jemand anspricht auf das, was uns begeistert. So begeistert, dass wir darüber eine Weile die Welt vergessen und alles andere beiseite stellen. Ob es unser Gärtchen ist oder ein Musikstück, das Ehrenamt oder das Erwandern von Landschaften – wir müssen unsere Begeisterung verteidigen, auch im Gerangel der familiären und gesellschaftlichen Pflichten. Von der anderen Seite: Hören wir dem Müden mit der nötigen Geduld und Aufmerksamkeit zu, dann wird das schleppend verlaufende Gespräch bald jenen Bereich berühren, in dem er plötzlich „erwacht“. Und wenn es nur die Erinnerung ist, die ihn an seine frühere Leidenschaft erinnert! Tippen wir sie an – schon kommt Leuchten in seine Augen, Tempo in seine Worte, Wille, sich mitzuteilen, in seine Sätze. Fast immer gibt es im Leben eines Menschen so einen Bezirk, der wiederbelebt werden möchte, und sei es nur eine kleine Variante früheren Glücks. Der früher dem Ball nachjagte, mag im eingeschränkten Alter die Spielzüge der Besten auf dem Fernsehschirm erleben und fachmännisch  kommentieren. Die Fotografin, die spannende Bilder von ihren Weltreisen mitbrachte, gestaltet, nachdem die Weltreisen nicht mehr möglich sind, ihre Bildersammlung und findet im „Nahbereich“ faszinierende Objekte. Die Antwort, die wir einem „Müden“ schulden, nachdem wir den Punkt seiner Begeisterungsfähigkeit aus seinem Erzählen herausgehört haben, ist etwas, was nun auch wieder jeder Mensch braucht wie der Fisch das Wasser: die Bestätigung!  Die Bestätigung: Was du da treibst und was dich da antreibt, ist kolossal interessant, und ich finde es jedenfalls toll, wie Du Dich da reinhängst. Erzähl noch ein bisschen … Die Resonanz, die der eigentlich Müde auf diese Weise bekommt, wird seine Lebensgeister wecken.
Aber woher wissen wir eigentlich, dass wir hier die Sache Jesu und nicht bloß unsere eigene Erkenntnis weitergeben? Wollte Jesus mit dem Wort, das aufweckt, den Menschen, denen er begegnete,  ausgerechnet Begeisterungsfähigkeit einhauchen? Nun, wie seine kleinen Predigten dann verraten, kennt er dieses Phänomen sehr wohl und findet dafür schöne Metaphern: Die vom Schatz im Acker, der höchstes Entzücken beim Finder auslöst. Die von der einen kostbaren Perle, für die man alles andere drangeben kann. Die besonderen Talente, die jeder, so oder so, vom Schöpfer empfangen habe. Für Jesus ist freilich, was einen Menschen auf alle Fälle und vor allem anderen begeistern sollte, der Einsatz für die „Gottesherrschaft“: dass Menschen, auch die Geringsten, unter Gottes Schirm-Herrschaft in Gerechtigkeit und Frieden und an Leib und Seele heil leben können. Dem muss unsere große Begeisterung unerschütterlich gelten.
Vielleicht dürfen wir unsere kleine Begeisterung als Abglanz der großen verstehen! Amen.
Liedvorschlag: EG 452,1-2
   


  
    [1]Zu den Besessenen meint Gerd Schmoll im Pfarrerblatt 9/2011, S.485: „Es sind Menschen, deren Leben wie durch eine fremde Macht eingeschnürt wird. Sie sind ausgeliefert an Zwänge, die ihr Leben zerstören … Die Angst kann zu einer solchen Macht werden; Gier, Sucht in unterschiedlichen Formen können den Menschen die Freiheit nehmen.“ Selbstverständlich ist dieser Aspekt eine Predigt wert; der folgende Predigtvorschlag nimmt freilich einen anderen Impuls des Textes auf und ist darum auf Menschen fokussiert, denen es in etwas anderer Weise „schlecht geht“.
  
  
    [2]Das griechische Wort, das Jesu Heilen bezeichnet, heißt therapeuein mit den Bedeutungen therapieren, heilen, pflegen.
  
  
    [3]Der inflationäre Gebrauch dieses neudeutschen Wortes der Pseudopsychologensprache  lässt keine Liebe zu ihm aufkommen; gleichwohl scheint es in unserem Zusammenhang einmal angebracht.
  
  
    [4]Im Sinne des lateinischen principium: Anfang und Prinzip!
  
  
    [5]Im AT: Gen 4,5-7; 40,6-8; 1.Sam 1,6f;  Jes 40,27f. Im NT: Mk 4,40; Lk 2,45-49; 24,13-27. Als Subjekte der Seelsorge treten auf: Gott selber, ein Weiser,  ein Ehemann, ein Prophet, Jesus Christus. Wo die erste Frage im Miteinander ausfällt und die zweite sich ins Rechthaberische verschiebt, droht der Tod der Freundschaft, der Liebesbeziehung, der Ehe.  
  
  
    [6]Wäre ich Bayern-Fan, würde ich hier „Robben“ einfügen. Von „meinem“ 1.FC Kaiserslautern fällt mir derzeit kein Name ein.  
Perikope
30.10.2011
1,32